Klin Monbl Augenheilkd 2012; 229(11): 1075-1076
DOI: 10.1055/s-0032-1327922
Editorial
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Anteriore ischämische Optikusneuropathie und Arteriitis temporalis

Anterior Ischemic Neuropathy and Temporal Arteriitis
Helmut Wilhelm
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Publication Date:
21 November 2012 (online)

Ein Thema kehrt Jahr für Jahr wieder: Die Arteriitis temporalis [1], beziehungsweise die möglicherweise von ihr verursachte anteriore ischämische Optikusneuropathie [2]. Zurecht, denn dies ist die heimtückischste Erkrankung aus dem nicht gerade zimperlichen neuroophthalmologischen Spektrum. Nach einhelliger Meinung vieler Kollegen gebührt ihr der Platz 1 in einer Hitparade neuroophthalmologischer Katastrophen. Als ich vor 30 Jahren in der Augenheilkunde anfing, bedeutete der klinische Verdacht einer Arteriitis temporalis, dass wir die OP-Bereitschaft alarmierten und schnell biopsierten, denn wir glaubten damals, dass nach Beginn einer Steroidtherapie eine histologische Diagnose nicht mehr möglich sei. Außerdem gab es das Gerücht, die Resektion eines Stückchens der A. temporalis würde einen entzündlichen Teufelskreis durchbrechen und damit die Prognose verbessern. Folgerichtig war mein allererster chirurgischer Eingriff eine Temporalis-Biopsie.

Später dann, an der Uni-Klinik, war man mit der Biopsie zurückhaltender, man gab sofort Steroide und ein geschickter Kollege in der Inneren traute es sich zu, die Diagnose per Sonografie zu stellen, für einen Neuroophthalmologen eine sympathischere Vorstellung als ein möglicherweise reichlich blutiger Eingriff. Zudem hatten die Neurochirurgen gemeinsam mit Gefäßchirurgen eine extrakranielle-intrakranielle Bypasstechnik via A. temporalis veröffentlicht, die jenem sonst überflüssig erscheinenden Gefäß eine ganz neue Bedeutung beizumessen schien. Auch wusste man, dass solche Beipässe auch auf natürlichem Weg entstehen konnten. Der biopsierende Chirurg malte sich deshalb aus, wie sein Patient auf der kontralateralen Seite eine Parese entwickeln würde, wenn er die Temporalarterie ligierte. Es war vor etwa 15 Jahren schwierig, eine histologische Sicherung zu erhalten.

Damals hospitierte ich einige Tage in Ann Arbor. Jon Trobe, Neuroophthalmologe am Kellogg-Eye-Center, klappte bei Verdacht auf Arteriitis temporalis einfach den Untersuchungsstuhl zurück, desinfizierte die Schläfe, zog Lidocain auf, injizierte und machte sich an die Resektion. Heute nur noch schwer vorstellbar. Damals sagten wir auch: „Normale BSG, das kann keine Arteriitis temporalis sein!“ Die Erfahrung belehrte uns eines Schlimmeren, bis zum traurigen Höhepunkt in diesem Heft, bei dem weder BSG noch CRP pathologisch waren und nicht einmal überzeugende Symptome bestanden. Die okkulte Arteriitis temporalis ist ein neues Schreckgespenst, mit dem wir in den kommenden Jahren werden leben müssen, bis jemand einen Test findet, der sensitiv genug ist, jede Arteriitis temporalis zu entdecken. Selbst die Biopsie hat keine 100 %ige Sensitivität, aber sie ist dennoch die beste Diagnosesicherung, trotz aller Möglichkeiten der Sonografie [3] und neuerdings auch Kernspintomographie [4]. Man sollte die Indikation dazu großzügig stellen.

Nun könnte, wer auf der DOG-Tagung das Symposion der Sektion Neuroophthalmologie besucht hat, argumentieren: Geben wir doch einfach bei jeder AION Steroide. Sohan Singh Hayreh, der Hauptredner, ein beeindruckender Mann, nicht nur durch sein exotisches Erscheinungsbild, legte es nahe. Als Mythos bezeichnete er nämlich die Aussage, es gäbe für die nicht-arteriitische AION keine Therapie [5]. Er rät zu Steroiden bis die Papille abgeschwollen ist. Dabei stützt er sich auf eine eigene Studie [6], die er als prospektiv bezeichnet, was man aber streng genommen nicht aufrecht halten kann. Den Betroffenen wurde die Wahl gelassen, ob sie eine Steroidtherapie wollten oder nicht, und verblindet war die Studie natürlich auch nicht. Schaut man genauer hin, so profitierten auch nur diejenigen, die es besonders schlimm erwischt hatte, etwa ab Visus 0,3 und darunter. Würde man allen Patienten mit AION Steroide geben, so würde man viele unnötige Therapien beginnen. Ich meine, dass nur unter Visus 0,3 oder bei Ausfall mindestens des halben Gesichtsfelds Steroide in der Dosis 1 mg/kg gegeben werden sollten, aber unter strenger Beachtung aller Kontraindiktionen. Steroide sind nämlich durchaus zu gefährlichen Nebenwirkungen in der Lage.

Dieses Beachten der Kontraindikationen und auch die Therapiedauer unterscheiden die Steroidgabe bei nicht-arteriitischer AION und Arteriitis temporalis wesentlich. Bei letzterer gibt es nichts zu überlegen und zu diskutieren, Steroide sind ein Muss, in vielen Fällen lebenslang. Bei der nicht-arteriitischen AION ist eine kritische Einzelfallentscheidung notwendig und die Therapiedauer auf die Zeit bis zum Abschwellen der Papille zu begrenzen.

Ob die sehr hohen Dosen, die heute bei der AION durch Arteriitis temporalis üblich sind, wirklich auch notwendig sind, erscheint fraglich. Wir wissen, es ist nicht immer möglich, das Rezidiv am Partnerauge zu verhindern, auch dann nicht, wenn man rechtzeitig und hoch dosiert hat. Jeder Misserfolg wirft die Frage auf: „Habe ich vielleicht zu wenig gegeben?“ Allein diese Frage zu stellen, resultiert meistens in einer höheren Dosis für den nächsten Patienten. Man wird dies wahrscheinlich nicht in einer randomisierten Studie prüfen können, denn bei Arteriitis temporalis darf man kein Risiko eingehen. Aber bei der nicht-arteriitischen AION muss es eine solche Studie geben, prospektiv, verblindet, randomisiert. Multizentrisch natürlich, denn die Erkrankung ist nicht häufig. Allerdings, Prednisolon ist kein Medikament, mit dem es sich Geld verdienen lässt, es wird sich keine Pharmafirma finden, die eine solche Studie sponsert.

Deshalb ein Vorschlag: Die Krankenkassen verwenden 2 % ihrer Überschüsse für Studien, in denen man Sinn und Nutzen von Medikamenten prüft, mit denen sich kein Geld verdienen lässt. Diese Investition wäre nicht verloren, sie würde sich zurückzahlen (aber erst in der übernächsten Wahlperiode).

Was das Themenheft sonst noch bietet

Pupillenstörungen haben in den vergangenen Heften eine wichtige Rolle gespielt [7]. Über das Pupillensystem wissen wir keineswegs alles, man denke nur an schwer erklärbare Befunde bei Okzipitallappenläsionen [8] oder die intrinsisch photosensitiven retinalen Ganglienzellen [9]. Die Wahrheit über den Edinger-Westphal-Kern in diesem Heft ist ein kleiner Krimi oder eine Enthüllungsgeschichte von Frau Horn-Bochtler. Dieser Beitrag ist ein Musterbeispiel dafür, wie ein grundlagenwissenschaftlicher Artikel aussehen sollte, damit auch der in der Patientenversorgung tätige Arzt nach einem langen Arbeitstag nach der Einleitung noch weiterliest, ohne dass ihm die Lider schwer werden und er am Folgetag nicht mehr weiß, was er eigentlich gelesen hat. Lesen Sie selbst! Das sollten Sie übrigens tun, bevor Sie den Beitrag von Thomas Wermund et al. über die Pupillomotorik beim dissoziierten Höhenschielen zur Hand nehmen, denn hier begeben wir uns weit hinein in die komplizierte Welt des dorsalen Mittelhirns und loten die Grenzgebiete der verständlichen Okulomotorik aus. Auch eine Fortsetzungsgeschichte ist der relative afferente Pupillendefekt beim Glaukom [10], dieses Mal mittels Pupillenperimetrie bestimmt. Zum Entspannen – im doppelten Sinn – ist mein Beitrag zur unklaren Sehverschlechterung gedacht. Vor allem der junge Assistent soll ihn lesen, wenn er Ambulanzdienst tut und ihm beim Auftauchen eines solchen Patienten der Angstschweiß aus allen Poren drängt. Neuroophthalmologie ist nämlich gar nicht so kompliziert!


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  • Literatur

  • 1 Papadopoulos E, Szurman P, Haberl GC et al. Sehr schwer verlaufende Arteriitis temporalis mit Zungenrandnekrose als Erstmanifestation. Klin Monatsbl Augenheilkd 2011; 228: 984-985
  • 2 Januschowski K, Wilhelm H. Optikusneuropathie mit konzentrischer Gesichtsfeldeinengung nach lebensbedrohlicher H 1N1-Influenza. Klin Monatsbl Augenheilkd 2010; 227: 860-861
  • 3 Arida A, Kyprianou M, Kanakis M et al. The diagnostic value of ultrasonography-derived edema of the temporal artery wall in giant cell arteritis: a second meta-analysis. BMC Musculoskelet Disord 2010; 11: 44 2010/2003/2010
  • 4 Czihal M, Forster S, Hoffmann U. Bildgebende Diagnostik der Grossgefäßvaskulitis. [Imaging diagnostics of large vessel vasculitis]. Radiologe 2010; 50: 855-860
  • 5 Hayreh SS. Management of ischemic optic neuropathies. Indian J Ophthalmol 2011; 59: 123-136
  • 6 Hayreh SS, Zimmerman MB. Non-arteritic anterior ischemic optic neuropathy: role of systemic corticosteroid therapy. Graefes Arch Clin Exp Ophthalmol 2008; 246: 1029-1046
  • 7 Wermund TK, Wilhelm H. Pupillenstörungen – Diagnostik, Erkrankungen, Konsequenz.Pupillenstörungen – Diagnostik, Erkrankungen, Konsequenz. Klin Monatsbl Augenheilkd 2010; 227: 845-851
  • 8 Skorkovska K, Wilhelm H. Afferente Pupillenstorungen bei postchiasmalen Lasionen der Sehbahn. Klin Monatsbl Augenheilkd 2009; 226: 886-890
  • 9 Wilhelm BJ. Das Auge der Inneren Uhr – Pupillenforschung in neuem Licht. Klin Monatsbl Augenheilkd 2010; 227: 840-844
  • 10 Skorkovska K, Wilhelm H, Ludtke H et al. Relativer afferenter Pupillendefekt bei Glaukom. Klin Monatsbl Augenheilkd 2011; 228: 979-983