Dtsch Med Wochenschr 2005; 130(40): 2283-2284
DOI: 10.1055/s-2005-918566
Leserbriefe

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Evidence-Based Medicine und Reale-Welt-Studien am Beispiel des Diabetes mellitus - Empathie-basierte Medizin?

Zum Beitrag aus DMW Supplement 2/2005H. Rohde
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Publication Date:
29 September 2005 (online)

Das Editorial im Supplement der DMW (27/2005) ist eine Fanfare zum Kampf wogegen? Es wird von „economics based medicine“, „politics based medicine“, „patient based medicine“ und Intelligenz basierter Medizin berichtet, aber die Attacke gilt der „evidence based medicine“ (EBM). Sie „wird heute als reinste Form der wissenschaftlichen Medizin gepriesen“ [11]. Das klingt nicht begeistert. Man hat den Eindruck, der Autor hat Vorbehalte gegen die Wortschöpfung „evidence based medicine“ und gegen ihr Fundament - die randomisierte, kontrollierte Studie.

Kaum ein medizinischer Begriff ist so häufig bewusst und unbewusst missverstanden und desavouiert worden wie EBM, obwohl eine brauchbare und anerkannte Definition von EBM vorliegt: „Die Praxis der EBM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung“ [14]. Das klingt wie ein positives Programm zur Bewältigung täglicher Praxisfragen. Therapeutische Entscheidungen sind nach drei Aspekten zu bewerten:

Validität: Stimmt die Information?

Wichtigkeit: Ist die Information von praktischer klinischer Bedeutung?

Fallbezug: Ist die Information für den konkreten Fall anwendbar [14]?

Der wesentliche Unterschied zwischen EBM und den bislang üblichen Experten-Konsensus-Leitlinien liegt darin, dass EBM keine direkten Handlungsanweisungen enthält, sondern praxisrelevante Inhalte als Grundlage für praktische ärztliche Entscheidungen vermittelt. EBM informiert lediglich und fördert somit unabhängige Ärzte und mündige Patienten [14].

Anzahl und Art der Vorbehalte des Autors gegenüber dem Wissenschafts-Praxis-Verbund EBM sind zahlreich und lauten [11]: Willkürliche Interpretation von Studien zu politischen Zwecken; EBM kann die traditionelle Medizin nicht ersetzen oder ablösen; bei widersprüchlichen Studienergebnissen erhebt EBM den Anspruch nach bestimmten Kriterien eine Entscheidung herbeizuführen; nur sehr selektierte Patientenkollektive werden im Rahmen dieser Studien untersucht; begrenzte Gültigkeit für bestimmte Zeiträume; Behinderung von Innovation, denn neue Hypothesen können nur mittels neuer Einzelstudien gebildet werden; EBM wird von Politikern und Kostenträgern als Mittel der Ressourcen-Sicherung und als standespolitisches Instrument missbraucht; EBM hat inzwischen nahezu pseudoreligiösen Charakter angenommen. Bis heute fehlt die wissenschaftliche Evidenz, dass EBM für den einzelnen Patienten und für ein gesamtes Gesundheitssystem tatsächlich von Nutzen ist; der EBM-Gipfel wurde allerdings erreicht mit seinem Missbrauch.

Um wen sollen wir uns nun scharen? Ist EBM letztlich ein falscher Weg? Vielleicht könnten wir in Deutschland stattdessen die Empathie-basierte Medizin einführen? „Professionalism is the basis of medicine`s contract with society“, heißt es in der Englischen Deklaration über medizinische Professionalität [3]. Der Oxford English Dictionary [13] definiert Beruf als „die Berufstätigkeit in der jemand verspricht Fachkönnen zu haben und zu beachten“. Es gibt einen ungeschriebenen Vertrag zwischen der Gesellschaft und den Ärzten, der von ihrer Professionalität abhängt [4]. Das Kernelement eines Berufes ist der Besitz spezialisierten Wissens und die Einstandspflicht für eine Dienstleistung. Wissen wird verwendet, um anderen zu helfen. Ärztlicher Beruf und Berufung werden als altruistisch, also wertebeladen erlebt. Ohne Empathie sind wir schlechte Ärzte.

Das sind wir jedoch auch, wenn wir fehlerhaftes und nicht ausreichend gesichertes Wissen zur Grundlage unserer diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen machen. Fehler machen wir täglich. Sie können große Lehrer sein [16]. Sind wir uns wirklich darüber im klaren, dass nur ungefähr die Hälfte aller ärztlichen Therapien im Sinne von EBM als gesichert angesehen werden können [17]? Wie gehen wir mit den Ermahnungen erfahrener Ärzte um, die uns darauf hinweisen, dass die ständige Wiederholung falscher Theorien Unsinn nicht zur Wahrheit macht [12] und irrige Vorstellungen aus alter Gewohnheit weiter getragen werden [18]?

Können wir es uns leisten EBM in Misskredit zu bringen, wenn zur gleichen Zeit in den USA „Clinical Evidence“, ein zweijährig erscheinendes Kompendium kostenlos von der United-Health Foundation, einer privaten, nicht für Profit arbeitenden Institution, die sich der Fort- und Weiterbildung amerikanischer Internisten widmet, an 400 000 amerikanische Internisten verteilt wird [6]? Können wir es uns leisten ein Wissenschafts-Instrument wie EBM, das in unseren Ohren anmaßend klingen mag wie eine Heilsbotschaft, mit zahllosen Argumenten kleinzureden? Können wir es uns in Deutschland leisten, die Basis von EBM, den fundamental neuen, weil die persönlichen Vorlieben und Vorurteile eines Arztes weitgehend ausschließenden Ansatz der medizinischen Wissensgewinnung, die randomisierte kontrollierte Studie [1], zu desavouieren?

Unser Ausstoß an randomisierten kontrollierten Studien ist im Vergleich mit Ländern ähnlicher Gesundheitssysteme niedrig [15]. Uns fehlt die patientenbezogene Forschung, die der Wissenschaftsrat und die Deutsche Forschungsgemeinschaft erst kürzlich wieder dringlich angemahnt haben [5]. Nicht das Anschwärzen von EBM und der randomisierten kontrollierten Studie, sondern die Förderung und Umsetzung ihres Konzepts ist unsere Aufgabe. Natürlich ist es richtig kritisch zu bleiben. Gerade die Briten, Individualisten von Hause aus, haben im eigenen Land EBM immer wieder kritisch unter die Lupe genommen [2] [7-10].

Wenn aber in Deutschland heute, von einer führenden, altehrwürdigen medizinischen Zeitschrift ein auf der ganzen Welt diskutiertes und weitgehend akzeptiertes wissenschaftliches Konzept zur Verbesserung der Qualität medizinischer Entscheidungen als fragwürdig dargestellt wird, und so getan wird als müssten die entsprechenden Studieninstrumente erst noch entwickelt werden (wörtlich: „Die Planung und Durchführung von Studien, die auf Fragen aus der realen Praxiswelt Antwort geben können, ist eine neue Herausforderung an die wissenschaftliche Medizin. Mit solchen neuen Studienkonzepten kann der Brückenschlag zwischen Versorgungsforschung, praktischer Medizin und Versorgungsmedizin unter Berücksichtigung der Patienteninteressen gelingen.“ [11]), dann ist dies ein Schritt in die falsche Richtung und Wasser auf die Mühlen jener, die das Wort von der Eminenz-basierten Medizin [14] ungern hören.

EBM ist kein schwarzer Teufel und kein englisches Menetekel. Der Autor scheint einem schrecklichen Vorurteil zu erliegen. EBM ist die gefundene und bewertete externe Evidenz oder das extern verfügbare Wissen, das in die interne Evidenz, also in die klinische Erfahrung des Arztes, zu integrieren ist. Die klinische Entscheidung, was mit dem Patienten geschehen soll, kann nur befriedigend getroffen werden, wenn beide - die interne und die externe Evidenz - mitwirken.

Literatur

  • 1 Altman D G. Randomisation. Essential for reducing bias.  BMJ. 1991;  302 1481-1482
  • 2 Barton S. Which clinical studies provide the best evidence?.  BMJ. 2000;  321 255-256
  • 3 Charter on medical professionalism . Medical professionalism in the new millenium: a physicians’ charter.  Lancet. 2002;  359 520-522
  • 4 Cruess R L, Cruess S R, Johnston S E. Professionalism: an ideal to be sustained.  Lancet. 2000;  356 156-159
  • 5 Deutsche Forschungsgemeinschaft .Klinische Forschung: Denkschrift,. Wiley-VCH Verlag, Weinheim 1999
  • 6 Ferriman A. Clinical Evidence to go to 400 000 US doctors.  BMJ. 2000;  320 1624
  • 7 Haynes R B, Devereaux P J. Physicians’ and patients’ choices in evidence based practice.  BMJ. 2002;  324 1350
  • 8 Landray M J, Whitlock G. Evaluating treatment effects reliably.  BMJ. 2002;  325 1372-1373
  • 9 Low M. Evidence-based medicine - the view form Fiji.  Lancet. 2000;  356 1105-1107
  • 10 Macintyre S. Evidence based policy making.  BMJ. 2003;  326 5-6
  • 11 Middeke M. Evidence-based-medicine und Reale-Welt-Studien am Beispiel des Diabetes mellitus.  Dtsch Med Wochenschr. 2005;  130 S61-S63
  • 12 Müller-Lobeck H. Hämorrhoiden-Behandlung - Stand 2005.  Verdauungskrankheiten. 2005;  23 113-123
  • 13 Oxford English Dictionary,. 2nd edn Oxford: Clarendon Press 1989
  • 14 Sawicki P T. Von der Bevormundung zur eigenen unabhängigen ärztlichen Entscheidung.  Gesundh ökon Qual manag. 2003;  8 82-83
  • 15 Siewert J R, Niethammer D. Klinische Forschung in Deutschland.  Dtsch Med Wochenschr. 2002;  127 2469-2474
  • 16 Smith R. A fool such as I.  BMJ. 2004;  329 1494
  • 17 Spiegel D. Placebos in practice. Editorial.  BMJ. 2004;  329 927-928
  • 18 Stelzner F. Hämorrhoiden.  Dtsch Ärzteblatt. 1987;  84 2375-2379

Prof. Dr. med. Henning Rohde

Praxis für Endoskopie und Proktologie

Friesenplatz 17a

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