Dtsch Med Wochenschr 2004; 129(51/52): 2784-2787
DOI: 10.1055/s-2004-836113
Medizingeschichte

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„So schlage ich vor, die Substanz Markstoff, Myelin zu benennen.”

Rudolf Virchow als Entdecker der Flüssigen Kristalle„Finally, I propose the medullary substance to be named Myelin”Rudolf Virchow: discoverer of liquid crystalsH.-R Stegemeyer1 , H. Stegemeyer2
  • 1Ilmtalklinik, Pfaffenhofen an der Ilm
  • 2Fakultät für Naturwissenschaften, Universität Paderborn
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eingereicht: 26.4.2004

akzeptiert: 21.10.2004

Publication Date:
16 December 2004 (online)

Die „eigenthümliche Substanz” - der Markstoff

Im Jahre 1854, vor 150 Jahren, beschrieb Rudolf Virchow (1821 - 1902) (Abb. [1]) eine von ihm zunächst bei der Untersuchung von Lungengewebe entdeckte „eigenthümliche Substanz”, welche ihm als „zähflüssige Masse” bei der mikroskopischen Untersuchung durch die Bildung „sonderbarer Figuren” wie „Fäden”, „Knäuel”, „doppelt contourierter Tropfen” und „unregelmäßiger matt glänzender Massen” auffiel. Diese Masse zeigte „größte morphologische Übereinstimmung mit ausgetretenem Nerveninhalte”, konnte aber auch in mit Alkohol gekochten Organextrakten des Ovars, der Schilddrüse, der Milz oder im Inhalt der Gallenblase bei Kontakt mit Wasser beobachtet werden. Er beschrieb sie ausführlich in seiner Arbeit „Ueber das ausgebreitete Vorkommen einer dem Nervenmark analogen Substanz in den thierischen Geweben”, die er in dem von ihm 1847 begründeten „Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin” (kurz: „Virchow’s Archiv”) publizierte [12].

Er untersuchte die Einwirkung von schwachen und starken Säuren und Basen auf die Substanz und wies auf die gute Löslichkeit in heißem Alkohol und das Aufquellen in Wasser als charakteristische Eigenschaften hin. Die „Identität der in den anderen Organen gefundenen Substanz mit dem Nervenmark” war Virchows zentraler Befund und „die überaus große Verbreitung, welche die Substanz in den wichtigsten Organen hat, scheint darauf hinzudeuten, dass sie eine erhebliche Wichtigkeit in dem thierischen Stoffwechsel besitzt”. Allerdings wäre die chemische Zusammensetzung - er nennt Cerebrinsäure, Oleophosphorsäure und Lecithin - derzeit noch gänzlich unklar und es handele sich um „wahrscheinlich zusammengesetzte Verbindungen”. Da die Substanz isoliert nur in den Nervenfasern als Markscheide auftrat, schlug Virchow vor, sie „Markstoff, Myelin zu benennen”.

Die Schöpfung des Terminus „Myelin” (von griech.: µueloV, myelós = Mark, Gehirn) im Jahre 1854 fiel in eine Zeit, in der die Medizin des 19. Jahrhunderts nach wesentlichen Fortschritten der klinischen und pathologisch-anatomischen Erkenntnisse zunehmend durch die grundlegenden Naturwissenschaften, besonders die Chemie geprägt wurde. Medizin wurde als angewandte Naturwissenschaft verstanden. Die durch Experimente gestützte empirische Forschung war ein wesentlicher Pfeiler von Virchows wissenschaftstheoretischem Konzept. In seiner Zeit als Lehrstuhlinhaber für pathologische Anatomie in Würzburg (1849 - 1856) entstand ein umfangreiches wissenschaftliches Werk vorwiegend der pathologischen Grundlagenforschung, welches in dem ebenfalls 1854 erschienenen „Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie” einen seiner Höhepunkte fand.

Noch vor der Formulierung der Zellularpathologie spielten die chemischen Aspekte der Pathologie für Virchow eine große Rolle. Die Methode der chemischen Untersuchung von Geweben und ihrer Bestandteile, indem man sie mit diversen Chemikalien versetzte und kochte, hatte er von seinem Lehrer Johannes Müller (1801 - 1858) übernommen.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts lagen allerdings trotz vielfältiger experimenteller Anstrengungen die Kenntnisse über die chemische Zusammensetzung der Gehirnsubstanz und der Nerven noch weitgehend im Dunkeln.

Abb. 1 Rudolf Virchow (1821 - 1902) (Sammlung Hans Kelker, Bunsen-Archiv Gießen).

kurzgefasst: Bei seinen pathologischen und chemischen Untersuchungen entdeckte Rudolf Virchow 1854 eine „zähflüssige Masse”, die in Organextrakten und Nervengewebe vorkam und die er deshalb Markstoff, Myelin benannte. Physikochemische Charakteristika der Substanz waren Löslichkeit in heißem Alkohol und Aufquellen in Wasser.

Literatur

  • 1 Aschoff L, Adami J G. On the Myelins, Myelin Bodies, and Potential Fluid Crystals of the Organism.  Proceed Royal Soc (London) Biol Sect. 1906;  78 359-368
  • 2 Beneke F W. Vorläufige Mittheilung.  Corr Bl d Vereins gem Arb z Förder d wiss Heilk. 1861;  50 817-822
  • 3 Kelker H. Flüssige Kristalle und die Theorien des Lebens.  Naturwiss Rundschau. 1986;  39 239-247
  • 4 Klebs T E. Die Nerven in organischen Muskelfasern.  Archiv f patholog Anatomie u Physiologie u f klin Medizin. 1865;  32 168-198
  • 5 Lehmann O. Ueber Contactbewegung und Myelinformen.  Ann Phys Chem. 1895;  56 771-788
  • 6 Mettenheimer C. Mitteilungen über das Myelin.  Corr Bl d Vereins gem Arb z Förder d wiss Heilk. 1858;  31 467-471
  • 7 Neubauer C. Ueber Myelinformen.  Archiv f patholog Anatomie u Physiologie u f klin Medizin. 1866;  36 303
  • 8 Rinne F. Versuche über das Wesen der Parakristalle und ihre Beteiligung an Zerebrosiden und Phosphatiden als plasmatischen Bestandteilen.  Kolloid-Z. 1932;  60 288-296
  • 9 Schmitt F O. Ultrastructure of Nerve Myelin and Its Bearing on Fundamental Concepts of Structure and Function of Nerve Fibers. 1.ed New York: Paul B.Hoeber In: Korey SR, ed. The Biology of Myelin 1959: 1-36
  • 10 Stegemeyer H. Lyotrope Flüssigkristalle. Darmstadt: Steinkopff 1999
  • 11 Stewart G T. Liquid Crystals in Biological Systems.  Molecular Crystals. 1966;  1 563-580
  • 12 Virchow R. Ueber das ausgebreitete Vorkommen einer dem Nervenmark analogen Substanz in den thierischen Geweben.  Archiv f patholog Anatomie u Physiologie u f klin Medizin. 1854;  6 562-572

Dr. med. Hans-Roland Stegemeyer

Ilmtalklinik

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