Dtsch Med Wochenschr 2001; 126(10): 286-287
DOI: 10.1055/s-2001-11741-2
Leserbriefe
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zuschrift Nr. 2

Further Information

Publication History

Publication Date:
28 April 2004 (online)

Der Artikel von Rogler und Schölmerich zur Evidenz-basierten Medizin (EbM) [5] wird mit einer überraschenden Behauptung eröffnet: »Evidence-based Medicine wird uns als fest verankerte Plattform der Sicherheit und Wahrheit im Meer der Irrtümer angepriesen«. Leider fehlt eine Referenz für diesen pointierten Auftakt - als Ansatz für einen sachlichen Diskurs ist er denkbar ungeeignet.

Der Beitrag lebt vorwiegend von der Auseinandersetzung mit den Gedanken des Sprechers des EbM-Netzwerkes H. Raspe [4]. Die Überlegungen von Raspe fordern bewusst eine kritische Diskussion heraus. Die Autoren scheinen dies zu wissen, zitieren sie doch die von Sackett et al. entwickelten Grundzüge einer EbM immer wieder, und zwar in positivem Sinne. Es gibt meines Erachtens keinen Grund für die Annahme, dass sich die EbM von dieser Basis weit entfernt und inzwischen eine ganz andere Ausrichtung angenommen hat. Tatsächlich haben die Autoren auch nur eine Referenz - eben jenen Vortrag [4] - als Beleg für die von ihnen befürchtete »universellere« EbM angegeben.

Es wird eine Liste von neun Punkten zu den Beweggründen von EbM aufgemacht, die helfen soll, ihre Ziele besser zu verstehen (S. 1122). Wie ist diese Liste wohl entstanden? Meines Erachtens repräsentiert sie eine sehr subjektive Selektion verschiedenster Aspekte, die mit EbM zwar durchaus zu tun haben, sie aber weder begründen noch ihren eigentlichen Zweck darlegen können. Die von den Autoren beklagte Inhomogenität der Liste ist deshalb weitgehend selbst verursacht. Die konklusive Antwort von Sackett et al. auf die von den Autoren gestellte Frage »Was ist Evidence-based Medicine?« wird wörtlich wiedergegeben (S. 1123, allerdings als Zitat, nicht im Original [7]). Leider wird diese gebräuchliche Definition im weiteren zu wenig beachtet.

Unselige »Beweis-gestützte Medizin«

Die scharfe kritische Auseinandersetzung mit dem unseligen Begriff der »Beweis-gestützten« Medizin (S. 1125) ist aus meiner Sicht zu begrüßen. Die Vermischung dieses Themas mit der Problematik von Meta-Analysen ist hingegen nicht angemessen und ungenau formuliert. Nicht plazebo-kontrollierte, sondern randomisierte, kontrollierte Studien sind eine wesentliche Evidenzbasis für die Bewertung der Effektivität von Interventionen in der Medizin. Meta-Analysen sind dabei nur insofern ein Mittel der Evidenzgewinnung, als sie dabei helfen, die Evidenz aus einzelnen, vorzugsweise randomisierten, kontrollierten Studien zu synthetisieren. Eine der Basisaussagen der EbM, die von Gegnern gerne ignoriert und nicht selten auch von diversen Anwendern missbräuchlich übergangen wird, betrifft die Einschränkung, dass zunächst in einer geplanten, expliziten, systematischen und transparenten Form alle Evidenz zu einer klinischen Frage in einem systematischen Review zusammengefasst werden muss. Erst unter bestimmten Voraussetzungen, z.B. bei geringer Heterogenität der Studien, ist dann die statistische Synthese, sprich die Meta-Analyse im eigentlichen Sinne, statthaft [1]. Beweiskraft kommt ihr nicht zu, sie steigert allein die Genauigkeit, mit der Interventionseffekte geschätzt werden können. Das Ziel ist deshalb der systematische Review (»best available evidence« nach [7]) und nicht primär das statistische Pooling von Studienresultaten. Fehlanwendung darf nicht zur Kritik der Methode an sich werden.

Kritisiert wird, dass EbM ein Wertesystem zur Beurteilung von Studienergebnissen aufstellen will (S. 1125). Die sog. Levels of Evidence beruhen auf etablierten Prinzipien der Epidemiologie, sie entsprechen den Kriterien zur Beurteilung der Kausalität von Assoziationen in Beobachtungsstudien. Querschnitts- und Fall-Kontroll-Studien, aber auch prospektive Studien, in denen keine Randomisierung vorgenommen werden kann, werden dieser Prüfung unterzogen. Keines der Kriterien reicht allein aus, um Ursachen von Krankheit zu belegen [6]. Die vermeintlich minderwertigen Kriterien wie Konsistenz, Plausibilität etc. (S. 1127) sind dennoch unverzichtbar, weil epidemiologische wie auch Patienten-bezogene klinische Forschung nicht im Labor stattfindet. Sie hat Menschen mit autonomen Entscheidungsräumen zum Gegenstand. Die Methoden eines wissenschaftlich fundierten Vorgehens sind hier Statistik und Epidemiologie. Sie gestatten aber nur Schätzungen von Häufigkeiten, Ereignisraten und Risiken. Den in Beobachtungsstudien und in randomisierten klinischen Studien gewonnenen Erkenntnissen sind daher immer Variabilität und Unsicherheit zu eigen. Randomisierte, kontrollierte Studien sind die valideste Studienform hinsichtlich Kausalität [6]. Die EbM fügte dem die systematischen Reviews hinzu, d. h., die Zusammenfassung mehrerer Studien zur gleichen Intervention.

EbM ist der Weg, die Unsicherheit in klinischen Entscheidungssituationen explizit zu machen. Es geht dabei nicht um eine rein formale Be- oder gar Verurteilung von Forschungsergebnissen, sondern um die Anwendung eines bislang in der Medizin noch wenig verbreiteten quantitativen Vorgehens. Ich widerspreche vehement dem Ansinnen, dass man diesem Unterfangen ernstlich »trügerische Sicherheit« anlasten kann.

Die Behauptung, dass den Beurteilungskriterien von EbM bestimmte Theorien zugrunde liegen, nach denen größere Fallzahlen validere Studienergebnisse ermöglichen (S. 1125), halte ich für falsch. Critical Appraisal in EbM wirkt u. a. gerade diesem Missverständnis entgegen: Eine schlecht geplante und durchgeführte Studie kann nicht durch vielfache Wiederholung des Fehlers, also große Patientenzahlen, verbessert werden.

EbM ist handlungsorientiert

Behinderung von Innovation (S. 1126) wird wegen der Aufrechterhaltung alter Paradigmen befürchtet. Das verwundert, denn das Gegenteil ist der Fall. Natürlich sind auch kleine Studien mit unerwarteten, innovativen Ansätzen wichtig, denn sie bahnen den Weg für neues Denken. Hier taucht ein weiteres grundlegendes Missverständnis auf: EbM ist kein Verfahren zur Durchführung von Forschung, sondern sie dient allein der Nutzung von Forschung für die Patientenversorgung. EbM ist handlungsorientiert. Sie fordert nicht, die Entwicklung innovativer Techniken und Verfahren zu verhindern, sondern sie verlangt allein, dass die praktische Anwendung nicht ohne den Beleg ihrer Wirksamkeit geschieht. Was EbM also verhindern wird, ist die Verbreitung nutzloser oder schädlicher Verfahren, hingegen fördert sie die Einführung von nachweislich wirksamen Verfahren. Der Preis dafür ist eine deutliche Verzögerung bei der Einführung von Innovationen. Wer aber Behandlungsfreiheit nicht als Aufforderung zur Beliebigkeit missversteht, kann dem Prinzip nicht wirklich widersprechen. Und Beispiele aus neuester Zeit [3] belegen, dass selbst mit bereits zugelassenen, »erprobten« Verfahren böse Überraschungen nicht auszuschließen sind. EbM schützt Patienten und Ärzte vor wissenschaftlich ungesichertem Vorgehen. Dass letzteres bisher zu wenig stattfindet, bleibt ein ethisches Defizit der modernen Medizin, das sich durch enthusiastische Innovations-Wettkämpfe sicherlich nicht beheben lässt.

Grundlegend falsch ist des weiteren die Aussage, dass bei fehlendem Effekt einer Intervention eine Odds Ratio von 0 zu erwarten ist (S. 1127): Der Erwartungswert ist 1. Auch stimmt es nicht, dass in der Meta-Analyse von Linde et al. [2] die Odds Ratio bei 1 lag, sondern sie betrug 2,45, 1,66, 1,78 oder 2,03, je nachdem welche Studien in die Meta-Analyse einbezogen wurden. Dies soll übrigens nicht davon ablenken, dass es sich bei letzterer sicherlich um ein problematisches Produkt von EbM handelt. Aber es gibt ja auch kein Unfehlbarkeitsdogma von EbM

Rogler und Schölmerich verbeißen sich in eine Interpretation von EbM, die ihrem kritischen Impetus zupass kommt, aber von EbM so nicht vertreten wird. Dies alles, das Evidence-b’ i‘ased im Titel und ein fast maliziös zu nennendes Abschlusszitat scheinen mir indikativ für eine Grundhaltung: EbM des Teufels - welche Ängste sollen hier geschürt werden?

Literatur

  • 1 Hense H W, Antes G. Systematische Studienübersichten in der Kardiologie: Ansätze einer evidenz-basierten Medizin und die Cochrane-Collaboration.  Zeitschr Kardiol. 1997;  86 313-319
  • 2 Linde K, Clausius N, Ramirez G. et al . Are the clinical effects of homeopathy placebo effects.  Lancet. 1997;  350 834-843
  • 3 Messerli F H. Implications of discontinuation of doxazosin arm of ALLHAT.  Lancet. 2000;  355 863-864
  • 4 Raspe H. Evidence-Based Medicine. Modischer Unsinn, alter Wein in neuen Schläuchen oder aktuelle Notwendigkeit. Franz Steiner Verlag, Stuttgart In: Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Abhandlungen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse, Volume 1 1998
  • 5 Rogler G, Schölmerich J. »Evidence-biased Medicine« - oder: Die trügerische Sicherheit der Evidenz.  Dtsch Med Wschr. 2000;  125 1122-1128
  • 6 Rothman K, Greenland S. Modern Epidemiology. Lippincott-Raven 2nd Edition, pp. 23 - 28 1998
  • 7 Sackett D, Rosenberg W, Muir Gray J, Haynes B, Richardson W. Evidence based medicine - what it is and what it isn‘t.  BMJ. 1996;  312 71-72

Prof. Dr. H. -W. Hense

Institut für Epidemiol. u. Sozialmedizin - Klinische Epidemiologie - Universität Münster

Domagkstraße 3

48129 Münster

Phone: 0251/835-5399

Email: hense@uni-muenster.de

    >