Dtsch Med Wochenschr 2005; 130(51/52): 2971-2978
DOI: 10.1055/s-2005-923338
Weihnachtsheft

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Poesie und Pathologie

Literarische Figuren als Vorbilder für KrankheitsbegriffePoetry and pathologyLiterary models for medical termsA. Karenberg1
  • 1Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität zu Köln
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Publication Date:
15 December 2005 (online)

Wechselwirkungen zwischen zwei Welten

Die inneren Verbindungen zwischen Medizin und Belletristik sind älter und enger als gemeinhin angenommen. Seit jeher hat die Heilkunst der Dichtkunst Themen und Motive geliefert: Krankheiten finden sich in der Weltliteratur vielfältig dargestellt, ebenso die Figur des Arztes, das Leiden der Patienten oder die Rolle medizinischer Institutionen [10] [11]. Auf diese Weise ist die Literatur in zahllosen Brechungen und Formungen zum poetischen Spiegel der Heilkunde und ihrer Historie geworden, bisweilen auch zu ihrer scharfzüngigen Kritikerin. Der umgekehrte Einfluss fällt dagegen deutlich schwächer aus: Die Bibliotherapie als Zweig medizinisch-psychologischer Behandlung hat sich höchstens in Ansätzen verwirklichen lassen, und das Freud’sche Diktum, Krankengeschichten auf das Niveau guter Novellen zu heben, darf außerhalb der Psychoanalyse kaum auf Nachahmung hoffen.

Hier soll ein anderer Zusammenhang, dem bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, im Vordergrund stehen. Literarische Figuren sind in zwar kleiner, aber dennoch beachtenswerter Zahl in den Wortschatz der Medizin eingewandert - vornehmlich als Namenspatrone für Syndrome und Krankheiten [9] [52]. Damit setzen die Helden der Dichtung eine lange Tradition fort: Bereits in der antiken Terminologie waren Götter und Heroen als sprachliche Etiketten in der Fachprosa erschienen [23], und auch im Mittelalter haben Gestalten aus dem Buch der Bücher und den christlichen Heiligenlegenden das anatomisch-klinische Vokabular bereichert [24]. Protagonisten aus der schönen Literatur als Vorbilder für körperliche und seelische Gebrechen sind dagegen ein neuzeitliches Phänomen. Als Nachfolger der zunehmend aus der Mode kommenden mythologischen und biblischen Archetypen treten sie vor allem im 20. Jahrhundert auf.

Sprachwissenschaftler zählen all diese Ausdrücke zur Klasse der Eigennamen-Benennungen [31] [50]. Herkunft und Verwendung solcher Eponyme haben erfreulicherweise in den letzten Jahren von ärztlicher Seite zunehmendes Interesse gefunden [1] [25] [26] [51] . Allerdings ergibt sich bei der Darstellung gerade der literarischen Vorbilder das nahezu unlösbare Problem des Auswahlkriteriums: Berücksichtigte man in umfassender Weise alle Wortschöpfungen, die jemals in einer Fachzeitschrift gedruckt worden sind, würde rasch eine dreistellige Zahl erreicht. Um den gegenwärtigen Sprachgebrauch hinreichend scharf abzubilden, empfiehlt sich daher eine Beschränkung auf den deutschsprachigen Raum und solche Begriffe, die möglichst in einem Standard-Wörterbuch der Medizin oder eines Fachgebietes verzeichnet sind. Dessen ungeachtet soll hier hin und wieder ein Seitenblick in den angloamerikanischen Fachjargon erlaubt sein, denn jenseits von Ärmelkanal und Atlantik erreichen etliche fiktionale Namenspatrone hohe Popularitätswerte [28] [37].

Die folgenden Ausführungen sind entlang der bekannten Literaturgattungen Lyrik, Prosa und Drama gegliedert. In jeder Rubrik werden besonders bekannte Gestalten samt ihrem medizinterminologischen Fortleben ausführlich vorgestellt; weitere Musterfälle finden kurz Erwähnung.

Literatur

  • 1 Arenz D. Eponyme und Syndrome in der Psychiatrie. Biographisch-klinische Beiträge. Köln: Viavital-Verlag 2001
  • 2 Asher R. Munchausen’s syndrome.  Lancet. 1951;  260 339-341
  • 3 Boll F. Der Ursprung des Wortes Syphilis. Eine Quellenuntersuchung.  Neue Jahrbücher für das klassische Altertum. 1910;  25 72-77 und 168
  • 4 Breiner S J. Leopold von Sacher-Masoch and masochism.  J Am Acad Psychoanalysis. 1994;  22 639-661
  • 5 Burwell C S. et al . Extreme obesity associated with alveolar hypoventilation. A Pickwickian syndrome.  Am J Med. 1956;  21 811-818
  • 6 Comroe J H. Frankenstein, Pickwick, and Ondine.  Am Rev Resp Disease. 1975;  111 689-692
  • 7 Dickens C. Die Pickwickier. Meersburg: Hendel Hrsg. von Dr. K.M. Schiller 1928
  • 8 Dietrich H. Ein besonderer Typ willensschwacher Psychopathen (Oblomowisten).  Münchner Med Wochenschr. 1965;  107 2225-2229
  • 9 Dudzinski W. Pierwowzory literackie niektórych zespolow i objawow chorobowych.  Pol Tyg Lek. 1980;  35 1197-1201
  • 10 Engelhardt D. Medizin in der Literatur der Neuzeit. Bd. 1 Hürtgenwald: Pressler 1991
  • 11 Engelhardt K. Literatur und Medizin im Dialog.  Dtsch Med Wochenschr. 2004;  129 2766-2769
  • 12 Fouqué de la Motte F. Undine. Stuttgart: Reclam 1963
  • 13 Fracastoro G. Syphilidis sive morbi gallici libri tres. Kiel: Lipsius & Tischer Übs. von E.A. Seckendorf. Eingeleitet von W. Schönfeld 1960
  • 14 Giraudoux J. Undine. Stuttgart: Reclam Aus dem Französischen übertragen von H. Rothe 1999
  • 15 Glickman F S. Syphilus.  J Am Acad Dermatol. 1985;  12 593-596
  • 16 Goethe J W. Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 6, Romane und Novellen I. 14. Aufl München: C.H. Beck 1996
  • 17 Goldblatt D. Undine’s curse.  Seminars in Neurology. 1995;  15 218-223
  • 18 Gontscharow I A. Oblomow. München: dtv 1980
  • 19 Graziani R. Fracastoro’s syphilis and Priapus.  Clio Medica. 1981;  16 93-99
  • 20 Hendrickson G L. The „syphilis” of Girolamo Fracastoro….  Bulletin of the Institute of the History of Medicine. 1934;  2 515-546
  • 21 Hudson E H, Grove C. Historical approach to the terminology of syphilis.  Arch Dermatol. 1961;  84 545-562
  • 22 Hudson M M. Fracastoro and syphilis. 500 years on.  Lancet. 1996;  348 1495-1496
  • 23 Karenberg A. „Die Poesie in Wirklichkeit verwandeln”. Antike Sagengestalten in der modernen Medizin.  Dtsch Med Wochenschr. 2003;  128 2698-2706
  • 24 Karenberg A. Sünder und Selige. Biblische Gestalten und christliche Heilige in der modernen Medizin.  Dtsch Med Wochenschr. 2004;  129 2757-2765
  • 25 Karenberg A. Amor, Äskulap & Co. Klassische Mythologie in der Sprache der modernen Medizin. Stuttgart: Schattauer 2005
  • 26 Koehler P J, Bruyn G W, Pierce J M. Neurological eponyms. Oxford: University Press 2000
  • 27 Krafft-Ebing R. Psychopathia sexualis. 7. Aufl. 14. Aufl Stuttgart: Enke 1982
  • 28 Moog F P. Herophilos und das Buddenbrook-Sydrom.  DZZ. 2003;  58 472-476
  • 29 Navarro F A. Dos personajes literarios en el lenguaje de la neurología. Pickwick (I).  Revista de Neurología. 1997;  25 1297-1302
  • 30 Navarro F A. Dos personajes literarios en el lenguaje de la neurología. Ondina (II).  Revista de Neurología. 1997;  25 1629-1635
  • 31 Nestmann R. Struktur und Motivation eponymischer Benennungen in der englischen und deutschen Fachsprache der Medizin.  Namenkundliche Informationen. 1983;  44 21-40
  • 32 Oosterhuis H. Stepchildren of nature. Krafft-Ebing, psychiatry and the making of sexual identity. Chicago: University Press 2000
  • 33 Phillips D P. The influence of suggestion on suicide. Substantive and theoretical implications of the Werther effect.  American Sociological Review. 1974;  39 340-354
  • 34 Podoll K, Ebel H. Halluzinationen der Körperveränderung bei Migräne.  Fortschr Neurol Psychiat. 1998;  66 259-270
  • 35 Reverzy J F. Sade à Charenton.  L’information Psychiatrique. 1977;  53 1169-1181
  • 36 Ribon J F. Le Marquis de Sade. Malade ou précurseur?.  La Nouvelle presse Médicale. 1974;  3 899-901
  • 37 Rodin A E, Key J D. Medicine, literature & eponyms. An encyclopedia of medical eponyms derived from literary characters. Malabar/Florida: Krieger Publishing Company 1989
  • 38 Schönfeld J. Zum Ursprung der Krankheitsbezeichnung „Syphilis”.  Öff Gesundh-Wes. 1984;  46 104-105
  • 39 Seckendorf E. Der Krankheitsname Syphilis.  Münch Med Wochenschr. 1930;  77 1200-1201
  • 40 Severinghaus J W, Mitchell R A. Ondine’s curse. Failure of respiratory center automaticity while awake.  Clinical Research. 1962;  10 122
  • 41 Sigerist H E. Der Krankheitsname Syphilis.  Münch Med Wochenschr. 1930;  77 1418
  • 42 Soyka M. Das Othello-Syndrom. Eifersucht und Eifersuchtswahn als Symptome psychischer Störungen.  Fortschr Neurol Psychiat. 1995;  63 487-494
  • 43 Spitzer L. The etymology of the term „syphilis”.  Bulletin of the Institute of the History of Medicine. 1955;  29 269-273
  • 44 Stefenelli N, Prantz M. Gontscharows Roman Oblomow als beispielhafte Geschichte einer behinderten Genesung.  Wien Klin Wochenschr. 1999;  111 858-863
  • 45 Steinberg H. Der „Werther-Effekt”. Historischer Ursprung und Hintergrund eines Phänomens.  Psychiatrische Praxis. 1999;  26 37-42
  • 46 Swift J. Gullivers Reisen. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag Übs. von F. Kottenkamp 1967
  • 47 Tamarin F M, Goldberg R J, Brandstetter R D. The tale of Ondine. A curse, a kiss, a clasp, and a comment.  NY State J Med. 1989;  4 196-198
  • 48 Thyresson N. Girolamo Fracastoro and syphilis.  Int J Dermatol. 1995;  34 735-739
  • 49 Wermut W. „Oblomov Syndrom” („Oblomov Sign”)?.  JAMA. 1975;  231 26
  • 50 Wiese I. Leistung der Benennungen mit Eigennamenkonstituente in der deutschen medizinischen Fachsprache.  Linguistische Studien Reihe A. 1985;  129 414-419
  • 51 Winkelmann A. Von Achilles bis Zuckerkandl. Eigennamen in der medizinischen Fachsprache. Bern u. a.: Huber 2005
  • 52 Witczak W. Dalsze „literackie” zespoly chorobowe.  Pol Tyg Lek. 1982;  37 431-432
  • 53 Ziegler W, Hegerl U. Der Werther-Effekt. Bedeutung, Mechanismen, Konsequenzen.  Der Nervenarzt. 2002;  73 41-49
  • 54 v.Jagow B, Steger F (Hrsg.). Literatur und Medizin. Ein Lexikon. Göttingen Vandenhoek & Ruprecht 2005

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