Dtsch Med Wochenschr 2005; 130(25/26): 1577-1578
DOI: 10.1055/s-2005-870869
Klinischer Fortschritt

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Versorgungsforschung - Ärztliche Kompetenz

Health Services Research - Physicians' competenceP. C. Scriba
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Publication Date:
16 June 2005 (online)

Soeben hat der 108. Deutsche Ärztetag (3.-6. Mai in Berlin) beschlossen, sich mit der Bundesärztekammer (BÄK) am Aufbau einer wissenschaftlichen Versorgungsforschung in Deutschland zu beteiligen. Die ersten konkreten Überlegungen zur Etablierung einer von der Bundesärztekammer getragenen Versorgungsforschung 2003 führten zu drei Empfehlungen:

Schlüsseldeterminanten des Versorgungsgeschehens sollten in den Mittelpunkt gestellt werden, die Arbeit sollte gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) gestaltet werden, Grundsatz: Ausschreibung von Projekten.

Auf dieser Basis berief die BÄK einen Arbeitskreis (AK) Versorgungsforschung (s. [Kasten 1]). Dieser AK hat das Rahmenkonzept erarbeitet, das vom Vorstand der BÄK im Dezember 2004 verabschiedet wurde.

Es geht im Kern um eine Allianz zwischen den wissenschaftlichen Fachgesellschaften und den Ärztekammern. Als Ziele sind zu nennen:

Sichtbarmachen der Bemühungen um Qualität und Sichtbarmachen der erreichten Qualität, Verbesserung der Versorgung, wo möglich, durch Eigeninitiative, übrigens durchaus im Sinne vorhandener Aktivitäten wie der Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung (BQS), der Ärztlichen Zentralstelle für Qualität in der Medizin (ÄZQ) und der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.

Der zunehmenden Tendenz zu Fremdbestimmung muss durch Demonstration der eigenen wissenschaftlichen Kompetenz in den Ärztekammern entgegengewirkt werden [1]. Für eine eigene wissenschaftliche Kompetenz der Ärztekammern braucht man Solidität der Bearbeitung und Unabhängigkeit. Natürlich ist damit zu rechnen, dass eine durch Ärztekammern geförderte Versorgungsforschung dem Vorbehalt oder sogar dem Vorwurf begegnet, sie sei nicht unparteiisch. Dagegen hilft Transparenz der methodischen Qualität, der Auswahl für die Förderung, der Bewertung und der Präsentation der späteren Ergebnisse. Dagegen hilft vor allem, dass eine große Zahl anerkannter Wissenschaftler aus der „Szene” eingebracht werden. Es wird darauf ankommen, die überlegene Qualität der beteiligten Wissenschaftler mit ihrer anerkannten Unabhängigkeit eindeutig zu demonstrieren.

Eine Unterarbeitsgruppe des Arbeitskreises (s. [Kasten 2]) hat Definitionen der für Versorgungsforschung wichtigen Begriffe ins Internet gestellt. Im „Forum Versorgungsforschung” der ÄZQ unter www.versorgungsforschung.net wurden Verbindungen zu allen schon existierenden, oft anders benannten Aktivitäten der Versorgungsforschung geknüpft.

Inhaltliche Definition: Versorgungsforschung ist die wissenschaftliche Untersuchung der Versorgung von Einzelnen und der Bevölkerung mit gesundheitsrelevanten Produkten und Dienstleistungen unter Alltagsbedingungen. „Dem Arzt über die Schulter schauen” macht die Praxisrelevanz dieses Forschungsgebiets aus.

Methodische/funktionale Definition: Versorgungsforschung untersucht und beschreibt die „Inputs“, Prozesse und Ergebnisse der Krankheits- und Gesundheitsversorgung und versucht Zusammenhänge kausal zu erklären. Ziel ist es dabei, auf der Grundlage der empirischen Untersuchungen vorhandene Versorgungskonzepte zu verbessern oder neue zu entwickeln. Die Adresse ist die „letzte Meile des Gesundheitssystems”.

Die empfohlenen initialen Themenfelder, die in Kürze ausgeschrieben werden, sind:

Implementierung von Leitlinien, Ökonomisierung und Versorgungsqualität, Arztseitige Faktoren (job satisfaction).

Das skizzierte Vorgehen sollte die „scientific community” ebenso wie die Öffentlichkeit von der Qualität und Solidität der geplanten wissenschaftlichen Arbeit überzeugen. Versorgungsforschung ist überdies akademisch unterbewertet, was die Anerkennung im Vergleich zu Grundlagenforschung und zu Klinischer Forschung betrifft. Fakultäten urteilen heute auf der Basis von eingeworbenen Drittmitteln und des Impact-Faktors. Der Beitrag zur Verbesserung der Versorgungsqualität als wissenschaftliche Aufgabe kommt in der Anerkennung vielfach zu kurz. Die Initiative der BÄK kann durchaus dazu beitragen, das zu ändern.

Leider ist die Datenlage zur Krankenversorgung in Deutschland sehr lückenhaft, so der Sachverständigenrat: „In Deutschland bestehen Defizite hinsichtlich der Daten zum Versorgungsgeschehen” [2]. Deshalb hat der Sachverständigenrat vor 4 Jahren mit großem Nachdruck eine Intensivierung der Versorgungsforschung gefordert.

Es geht heute bei der Wiederholung dieses Appells an die Verantwortlichen auch um ein ausreichend ausgestattetes, befristetes und mehrgliedriges Förderprogramm zur Gesundheitsforschung, insbesondere der Versorgungsforschung. An dessen Umsetzung sollen sich die Bundesministerien für Bildung und Forschung sowie für Gesundheit und Soziale Sicherung inhaltlich und finanziell energischer beteiligen. Die Einbindung der Kassen in Programmgestaltung, Begutachtung von Anträgen und Bewertung der Ergebnisse soll helfen, die Versorgungsrelevanz sicherzustellen. Der Beschluss des Berliner Ärztetags, dass sich die Ärztekammern aktiv mit einem eigenfinanzierten Programm in die Versorgungsforschung einbringen, hat Signalwirkung und löst hoffentlich eine regelrechte Finanzierungslawine von Seiten der Ministerien und der Kassen aus! Vielfältige Themen warten auf Bearbeitung.

Ärztekammern sind durch Landesgesetz Körperschaften öffentlichen Rechts mit Pflichtmitgliedschaft aller Ärzte. Die Ärztekammern haben als sehr schwierige Doppelaufgabe:

die Wahrung der beruflichen Belange der Ärzteschaft und als hoheitliche Aufgabe die Aufsicht über die Ärzte.

Es ist sicher eine ausgesprochen glückliche Entwicklung, dass die Bundesärztekammer weder dem neuen Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin (IQWiQ) noch dem Gemeinsamen Bundesausschuss (GmBA) als Mitglied angehört, sondern nach § 91 - 8a im GmBA nur „angehört” wird. Damit muss die Ärztekammer, die ja für die professionelle Qualität gerade stehen soll, nicht ökonomisch-politisch beeinflussten Entscheidungen zustimmen. Sie kann vielmehr ggf. auf deren Qualitätsdefizite deutlich hinweisen. Es wird die Verantwortlichkeit der Ärztekammern bleiben, ökonomisch begründete Einschränkungen der Versorgung mit an sich angemessenen Leistungen als Rationierung zu geißeln. Qualität und Unabhängigkeit der von der BÄK geförderten Versorgungsforschung wird dabei helfen, möglicherweise weniger unabhängige wissenschaftliche Beratung in ihre Schranken zu weisen. Darin sollte man vor allem den Mehrwert eines finanziellen Engagements der Ärzte für die Versorgungsforschung sehen.

Info 1 Arbeitskreis Versorgungsforschung Vorsitzender: F. W. Schwartz, Hannover Mitglieder: R. Busse, Berlin W. Gaebel, Düsseldorf B. Häussler, Berlin W. Hoffmann, Greifswald M. M. Kochen, Göttingen V. Kunath, Dresden Bärbel Kurth, Berlin C. Ohmann, Düsseldorf H. Pfaff, Köln H.-H. Raspe, Lübeck N. Roeder, Münster J. Schölmerich, Regensburg H.-K. Selbmann, Tübingen Gabriela Stoppe, Basel J. von Troschke, Freiburg Ständige Gäste: A. Encke, Frankfurt C. Fuchs, Berlin J.-D. Hoppe, Berlin B. Müller-Oerlinghausen, Berlin G. Ollenschläger, Hannover J. Schulze, Dresden P.C. Scriba, München

Info 2 Arbeitsgruppen des Arbeitskreises Versorgungsforschung - Definition: Pfaff et al. - Methoden: Kunath et al. - inhaltliche Schwerpunkte: Schwartz et al. - Datenquellen: Kurth et al. - Durchführungsplanung: Busse et al.

Literatur

  • 1 Scriba P C. Versorgungsforschung tut not!.  Dtsch Med Wochenschr. 2003;  128 2631
  • 2 Sachverständigenrat f. d. Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Gutachten 2000/2001: Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2002 (vgl. www.svr-gesundheit.de)

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Peter C. Scriba

Medizinische Klinik Innenstadt, Klinikum der Universität

Ziemssenstraße 1

80336 München

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