Dtsch Med Wochenschr 2005; 130(14): 906-907
DOI: 10.1055/s-2005-865111
Leserbriefe

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Stressverarbeitung: Bedeutung in der Medizin - Erwiderung Nr. 2

P. A. Berg
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Publication Date:
30 March 2005 (online)

In seiner Leserzuschrift konfrontiert Professor Heine die Psychoneuroimmunologie mit den Prinzipien der „Grundregulation“ aus der biologischen Medizin. Das Grund- bzw. Bindegewebe wird als ein Organ begriffen, das mit seiner Trias: Kapillare, Zelle, Grundsubstanz ein „übergeordnetes Ordnungsprinzip“ und phylogenetisch den „Vorläufer des Nerven- und Hormonsystems“ darstellt [3]. Aus diesem Konzept wird gefolgert, dass „Psyche und Soma“ in der Grundregulation zusammenlaufen und dass eine „inadäquate Grundregulation“ - z. B. bedingt durch Ablagerungen von exogenem oder endogenem Stoffwechselmüll [3] - ein „gemeinsames Substrat“ für eine Vielzahl von Krankheiten darstellt, seien sie funktioneller, psychischer, autoimmuner oder allergischer Natur.

Auch wenn Konsens besteht zwischen den Auffassungen der biologischen Medizin und der Neurobiologie, dass, wie Heine schreibt, „es keine somatischen Krankheiten ohne psychische Beteiligung und umgekehrt gibt“, also eine Einheit zwischen Körper und Seele, „body and mind“ besteht, sind ihre Denkansätze doch sehr konträr. So geht es der biologischen Medizin in erster Linie um die Umstimmung des „Milieus“ bzw. die Entschlackung der Grundsubstanz [3] [4], d.h. das pathogenetische Prinzip der „Maladaption des Molekularsiebes“ ist in seiner Definition unpräzise, schwer greifbar und zu sehr der Naturphilosophie verhaftet. Insofern kann sie auch nicht zu einer nach kausalen Gesichtspunkten ausgerichteten Therapie führen im Gegensatz zu den molekularbiologisch definierbaren Neurotransmitter-gesteuerten Interaktionen zwischen neuronalen, hormonalen und immunologischen Prozessen.

Die Modulierbarkeit dieses Kommunikationssystems stellt die Basis für die Adaptation gegenüber Stressoren dar, garantiert Stabilität (Homöostase, Allostase), hat also eine protektive und auch gesundheitsfördernde Funktion und schärft z. B. kognitive Prozesse im Gehirn (Hippocampus), d. h. trainiert Hirnfunktionen (Plastizität) [6].

Ein solches protektives, zentralnervöses Alarm- und Abwehr-System stellt zum Beispiel das enterische Nervensystem (ENS) dar, in dem sensorische Neurone, Interneurone und motorische Neurone als „Microcircuit“ zusammengeschlossen sind [8]. Daraus erklärt sich ihre besondere Funktion, dass nämlich bei Gefahr die im Darm lokalisierten Effektor-Systeme (insbesondere Immun- und Mastzellen) sofort eingeschaltet werden können. Das heißt, dass ein integriertes neurales Netzwerk - sozusagen „vor Ort“ - Effektor-Reaktionen entlang des gesamten Dünn- und Dickdarms kontrolliert. Dies wird bewerkstelligt durch die sehr enge Nachbarschaft zwischen den afferenten Neuronen des Vagus, des zentralnervösen Nervensystems und insbesondere den Mastzellen, die via ihrer sensorischen Rezeptoren bei Exposition schädlicher Agenzien gegenüber im Darm entsprechende Warnsignale an das ENS weitergeben können (Gehirn-/Darm-/Mastzellen-Achse). Dies geht gleichzeitig einher mit einer verstärkten Ansammlung von Mastzellen und enterochromaffinen Zellen sowie einer gesteigerten Ausschüttung von 5 Hydroxytryptamin (5HT = Serotonin) aus diesen Zellen [5].

Auf dem Boden dieser Funktionseinheit lässt sich auch erklären, warum es z. B. unter psychischem Stress zu einer Dysregulation dieser bidirektionalen Kommunikationsschiene kommen kann mit Symptomen wie viszerale Hyperalgesie, abnormale intestinale Motilität oder aber auch psychische Alterationen. Derartige pathogenetische Vorgänge scheinen bei der Entwicklung des Reizdarmsyndroms eine wesentliche Rolle zu spielen [5].

Mit der Aufklärung dieser Organ- und Immunzellen-vermittelten Neurotransmitter-Funktionen wurde es auch möglich, neue Therapiekonzepte zu entwickeln wie zum Beispiel die Behandlung mit spezifischen serotonergen HT3-Antagonisten, HT4-Agonisten oder anderen schmerzlindernden Substanzen (z. B. Alpha 2 adrenerge Agonisten) [2].

All dies verdeutlicht, dass Funktionen des Zentralnervensystems die entscheidende „first line of defense“ [7] darstellen, sowohl gegen physische wie psychische Stressoren, aber damit gleichzeitig auch wesentlich für die Aufrechterhaltung der Gesundheit sind. Empathie, Empfindungen, all diese innerpsychischen Prozesse reflektieren neuronale Vorgänge, entsprechen chemischen und elektrischen Aktivitäten und sind Ausdruck der Verschaltung von Synapsen, die auch durch äußere Einflüsse, Lebensstil und Genetik ständig neu rekrutiert werden können (Adaptions- und Lernfähigkeit des Gehirns). Insofern ist die „Psyche“ („mind“) vielleicht die wichtigste „vierte Säule“ in diesem neuro-endokrino-immunologischen System [1, 7].

Ein positiver Ansatz für die Diskussion wäre es gewesen, Kollege Heine hätte die in der Psychoneuroimmunologie verankerten Informationen aufgegriffen, um auf die sich ergänzenden Elemente beider Disziplinen aufmerksam zu machen (bestätigt durch die Empirie der gleichzeitig praktizierten und akzeptierten Anwendung konventioneller/schulmedizinischer und alternativer Therapieverfahren), statt ausschließlich das Prinzip der durch die Grundregulation vermittelten Ganzheitlichkeit in den Vordergrund zu stellen (s. die Einlassung zum „Kunstwort Neuropsychoimmunologie“). Denn nirgendwo sonst ist mir in der Medizin ein wissenschaftliches Forschungsgebiet bekannt, das so tiefgreifend und faszinierend die Idee der Ganzheitsmedizin („mens sana in corpore sano“) zu verwirklichen sucht wie die Psychoneuroimmunologie.

Literatur

  • 1 Andreasen N C. Linking mind and brain in the study of mental illnesses: a project for a scientific psychopathology.  Science. 1997;  275 1586-1593
  • 2 Farthing M JG. Treatment options in irritable bowel syndrome. Best Practice & Research.  Clinical Gastroenterology. 2004;  18 773-786
  • 3 Heine H. Die Prinzipien der Grundregulation im Organismus. Ganzheitsmedizin erfordert neue Denkansätze.  SANUM-Post. 1990;  11 12-15
  • 4 Kracke A. Die Grundregulation nach Pischinger. Schlüssel zum Verständnis der Ausleitungsverfahren.  SANUM-Post. 2001;  57 17-24
  • 5 Mach T. The brain-gut axis in irritable bowel syndrome - clinical aspects.  Med Sci Monit. 2004;  10 RA125-131
  • 6 McEwen B S. Protection and damage from acute and chronic stress: Allostasis and allostatic overload and relevance to the pathophysiology of psychiatric disorders.  Ann NY Acad Sci. 2004;  1032 1-7
  • 7 Ray O. The revolutionary health science of psychoendoneuroimmunology: A new paradigm for understanding health and treating illness.  Ann NY Acad Sci. 2004;  1032 35-51
  • 9 Wood J D. Enteric neuroimmunophysiology and pathophysiology.  Gastroenterology. 2004;  127 635-657

Prof. Dr. P. A. Berg

Medizinische Klinik und Poliklinik, Universität Tübingen

Otfried-Müller-Straße 10

72076 Tübingen

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