Dtsch Med Wochenschr 2005; 130(14): 905-906
DOI: 10.1055/s-2005-865109
Leserbriefe

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Stressverarbeitung: Bedeutung in der Medizin

Zu den Beiträgen aus DMW 3/2005H. Heine
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Publication Date:
30 March 2005 (online)

W. Schüffel bringt in seinem Editorial „Stressverarbeitung. Bedeutung in der Medizin“ [10] eine bedeutsame Synopse der im gleichen Heft erschienenen hoch aktuellen Arbeiten von F. Pedrosa Gil [3] zur psychosomatischen und endokrinologischen Stressforschung sowie von P. A. Berg [1] über neuroimmunologische Aspekte funktioneller somatischer Syndrome. Schüffel folgert, dass offensichtlich eine Vielzahl von Belastungsstörungen einschließlich des posttraumatischen Stresssyndroms bzw. ausgeprägte funktionelle somatische Syndrome (z. B. Fibromyalgie) Äpfel vom selben Stamm sein könnten. Hintergrund wäre eine gestörte neuroimmunologische Stressverarbeitung. Er zieht daraus den wichtigen Schluss, „dass gestörte Stressverarbeitung als ein durchgehendes Prinzip in der Medizin zu finden ist“. Das Verbindende in den verschiedenen Belastungsstörungen sei Schmerz im körperlichen und im übertragenen Sinne.

Im Editorial wie in den beiden genannten Publikationen ist deutlich das Bemühen der Autoren zu erkennen, den seit Descartes (1596 - 1650) bestehenden Hiatus zwischen Psyche und Soma zu überbrücken. Descartes hatte mit dieser Trennung der Aufklärung wesentlich den Weg geebnet. Denn erst mit Herausnahme der Psyche aus dem Ursache-Wirkungsparadigma konnte das moderne rationale Denken entwickelt werden [7]. In der Medizin wurde das Paradigma erst mit Entdeckung von Zelle, Zellkern und Chromosomen im 19. Jahrhundert als den quantifizierbaren Bausteinen des Lebens allmählich wirksam [6] [7] [8]. Einen entscheidenden Beitrag leistete dazu Rudolf Virchow (1821 - 1902) mit seiner Zellularpathologie, die erstmals eine verbindliche Nosologie erlaubte [2]. Endgültig hat sich das Kausalitätsprinzip in der Medizin erst nach dem zweiten Weltkrieg durchgesetzt. Vor dieser Entwicklung wurde u. a. von Viktor v. Weizsäcker und Thure v. Uexküll gewarnt [6] [7].

Das Kausalitätsprinzip tritt in der Medizin, ähnlich wie die klassische Newtonsche Physik in der Quantenphysik, nur unter bestimmten Bedingungen auf, z. B. bei mikrobiell und akzidentell verursachten Krankheiten [6-8]. Im breiten dazwischen liegenden Bereich ist das Prinzip aufgrund hoher Vernetzungen und Rückkopplungen seiner Komponenten nur in kleineren Teilaspekten erfassbar.

Der Siegeszug der Virchowschen Zellularpathologie ab Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die bis dahin geltende, in der antiken Säftelehre wurzelnde ganzheitlich ausgerichtete Humoralpathologie letztlich verdrängt [5].

Der Wiener Pathologe Carl v. Rokitansky (1804 - 1878), ein Zeitgenosse Virchows, hatte versucht die Humoralpathologie durch Hinweis auf die Bedeutung der Endstrombahn als gemeinsamen Nenner der Ver- und Entsorgung aller Organe und damit der Krankheitsentstehung neu zu beleben [4] [8]. Er versuchte dadurch das gegenwärtig wieder in den Blickpunkt geratende Prinzip aufrecht zu erhalten, dass „Krankheit nur eine lokale Manifestation einer allgemeinen Stoffwechselstörung ist und dass sie daher am besten durch stoffwechselverbessernde, entzündungshemmende und blutreinigende Mittel, also durch allgemein eingreifende, den ganzen Körper beeinflussende Maßnahmen zu behandeln sei“ [9]. Eine Auffassung, die sich implizit auch bei Schüffel, Pedrosa Gil und Berg wiederfindet und sich bis in die Gegenwart in der Wiener medizinischen Schule erhalten hat. Nach Rokitansky wurde diese Sichtweise von dem Wiener Ordinarius für innere Medizin Hans Eppinger (1875 - 1948) in seiner Permeabilitätspathologie weiterentwickelt [2]. Er folgerte, dass egal ob man normales oder krankhaft verändertes Gewebe betrachte „immer stößt man auf dasselbe Gefüge, nämlich die große Betriebsgemeinschaft Blut-Kapillarwand-Interstitium-Gewebszelle-Lymphbahn ... ja man kann sogar einen Schritt weitergehen und feststellen, dass die Störung der Kapillarpermeabilität vielfach der ersten Szene im ersten Akt des Dramas „Krankheit“ entspricht“ [2].

Nach Eppinger war es der Wiener Anatom Alfred Pischinger (1899 - 1982), der einen entscheidenden Schritt für die Ganzheitlichkeit medizinischen Denkens machte. Er verwies auf folgende einfache Tatsache: „Der Zellbegriff ist genaugenommen nur eine morphologische Abstraktion. Biologisch gesehen kann er nicht ohne das Lebensmilieu der Zelle genommen werden“ [8]. Dieses allen Zellen vorgeschaltete Milieu wird durch die Grundsubstanz (extrazelluläre Matrix ECM) bestehend aus Proteoglykanen, Glykosaminoglykanen, Struktur- und Vernetzungsglykoproteinen (Kollagen, Elastin, Fibronektin u. a. m.) gebildet [5] [6]. Die ECM bildet ein Molekularsieb, das über terminale vegetative Nervenfasern an das Zentralnervensystem und über die Endstrombahn an das Endokrinium angeschlossen ist. Beide Systeme sind im Gehirnstamm vielfältig miteinander verschaltet [1] [3] [5] [6]. Dadurch entsteht ein für die „Stressverarbeitung“ hoch effektives „System der Grundregulation“ [5] [6] [8]. Da in der ECM das gesamte Spektrum an Abwehrzellen patrouilliert, ist die Grundregulation auch eng mit dem Immunsystem verknüpft (das Kunstwort Neuropsychoimmunologie gibt dies nicht ausreichend wieder) [5]. Die ECM hält außerdem die für alle physiologischen Zellfunktionen notwendige Gewebespannung aufrecht und ist Speicher sowie „Reifungsort“ für informative Zellprodukte u. a. Zytokine und Vorstufen proteolytischer Enzyme [5].

Auf alle somato-psychischen und psycho-somatischen Eingänge wird die ECM ohne zwischen „Gut und Böse“ zu unterscheiden sehr schnell durch qualitative und quantitative Änderungen auf die jeweils aktuelle Situation eingestellt („unspezifische Mesenchymreaktion“ Hauss [4]). Über Zellrezeptoren, die mit der ECM in Verbindung stehen, werden dabei die entsprechenden situationsgerechten Zellreaktionen aktiviert [4] [5]. Die ECM produzierenden Zellen (u. a. Fibroblasten und im ZNS die Astrozyten) reagieren sehr empfindlich auf „Milieuänderungen“ wodurch es über die Grundregulation zu raschen Adaptationsreaktionen kommt [4] [5] [8]. Unphysiologischer Umbau der ECM, d. h. Maladaptationen werden zentral häufig als Befindensstörungen oder Schmerzen dekodiert. Funktionelle Störungen, psychische, autoimmune und allergische Erkrankungen haben abgesehen von ihren genetischen Beziehungen ein gemeinsames Substrat in einer inadäquaten Grundregulation.

Fazit ist: Psyche und Soma laufen in der Grundregulation zusammen. Es gibt keine somatische Krankheit ohne psychische Beteiligung und umgekehrt. Der Körper strebt stets eine bio-psycho-sozial zu definierende Homöostase an [10].

Literatur

  • 1 Berg P A. Neuroimmunologische Aspekte funktioneller somatischer Syndrome.  Dtsch Med Wochenschr. 2005;  130 107-113
  • 2 Eppinger H. Permeabilitätspathologie als die Lehre vom Krankheitsbeginn. Wien, Springer Verlag 1949
  • 3 Gil Pedrosa F. Aktuelles zur psychosomatischen und endokrinologischen Stressforschung.  Dtsch Med Wochenschr. 2005;  130 102-106
  • 4 Hauss W H. Die unspezifische Mesenchymreaktion (UMR). Das essentielle Ereignis der in den Industriestaaten häufigsten Erkrankungen.  Perfusion. 1994;  9 312-322
  • 5 Heine H. Grundregulation - eine Synthese medizinischen Denkens.  Dt Ztschr f Akup. 2004;  47 6-19
  • 6 Heine H. Lehrbuch der biologischen Medizin. 2. Aufl Stuttgart, Hippokrates Verlag 1997
  • 7 Pietschmann H. Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte. Von der Öffnung des naturwissenschaftlichen Denkens. Stuttgart und Wien, Ed. Weitbrecht 1990
  • 8 Pischinger A. Das System der Grundregulation. Grundlagen einer ganzheitsbiologischen Medizin. 10. Auflage Stuttgart, Karl F. Haug Verlag, hrsg. H. Heine 2004: 15-89
  • 9 Rokitansky Cv. Handbuch der pathologischen Anatomie. Wien, Maudling 1846
  • 10 Schüffel W. Stressverarbeitung: Bedeutung und Sinn in der Medizin.  Dtsch Med Wochenschr. 2005;  130 85-86
  • 11 Virchow R. Die Cellularpathologie in der Bedeutung auf physiologische und pathologische Gewebslehre. Berlin, Hirschwald 1858

Prof. Dr. rer. nat. med. habil. Hartmut Heine

ehem. Leiter des Anatomischen und Klinisch-morphologischen Institutes der Universität Witten/Herdecke

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