Glossar
AA = Aplastische Anämie
FA = Fanconi-Anämie
HZL = Haarzellleukämie
IMF = Idiopathische Myelofibrose
KM = Knochenmark
MDS = Myelodysplastisches Syndrom
PNH = Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie
SAA = schwere Aplastische Anämie
|
Eine „aplastische Anämie” liegt definitionsgemäß vor, wenn eine periphere Bi- oder
Panzytopenie bei weitgehendem Fehlen des hämatopoetischen Knochenmarks („leeres
Knochenmark”, Abb. [1]) diagnostiziert wird. Bei aplastischen Anämien handelt es sich nicht um ein einheitliches
Krankheitsbild, sondern vielmehr um eine Gruppe von angeborenen und erworbenen Störungen,
die durch ein Versagen der Hämatopoese im Knochenmark gekennzeichnet sind [12]. Die kasuistische Erstbeschreibung einer aplastischen Anämie stammt von Paul Ehrlich
aus dem Jahr 1888. Heute wird die Diagnose einer aplastischen Anämie gestellt, wenn
sich histomorphologisch ein hypoplastisches Knochenmark sowie mindestens zwei der
folgenden Kriterien im peripheren Blutbild nachweisen lassen: Granulozytopenie mit
absoluten Neutrophilenzahlen unter 1×109/l, Thrombozytopenie unter 50×109/l und/oder absolute Retikulozytenzahlen unter 40×109/l [1]
[8]. Dosisabhängige Knochenmarkschädigungen infolge einer Behandlung mit Zytostatika
oder einer Strahlenexposition müssen ausgeschlossen sein [1].
Aplastische Anämien zählen mit einer jährlichen Inzidenz von ungefähr zwei Fällen
pro eine Million Einwohner zu den selteneren hämatologischen Krankheiten in Europa
und den USA [4]
[6]. Der klinische Verlauf der unbehandelten Erkrankungen, die mit zwei Häufigkeitsgipfeln
im Alter von 15-25 Jahren sowie nach dem 60. Lebensjahr auftreten, ist komplikationsreich
und führt ohne Therapie häufig zum Tod durch schwere Infektionen und Blutungen.
Abb. 1 Knochenmarkhistologie bei aplastischer Anämie. Aplastisches Bild mit nahezu vollständigem
Fehlen des hämatopoetischen Marks; nur Fettvakuolen, Stromazellen und wenige Lymphozyten.
Ätiopathogenese
Ätiopathogenese
Grundsätzlich können angeborene und erworbene Formen der aplastischen Anämie unterschieden
werden. Basierend auf ätiologischen beziehungsweise pathogenetischen Faktoren lässt
sich die in Tab. [1] gezeigte Einteilung vornehmen [10].
Die häufigste kongenitale Form der aplastischen Anämie ist die Fanconi-Anämie (FA).
Die FA wird autosomal rezessiv vererbt und gehört zu den Erkrankungen mit einer erhöhten
chromosomalen Instabilität, die unter anderem mit Wachstumsretardierung, Immundefektzuständen
und einer erhöhten Prädisposition für maligne Tumoren einhergehen. Bei der FA ließen
sich ursächliche Mutationen bisher in insgesamt sechs verschiedenen Genen (FANCA, FANCC, FANCD2, FANCE, FANCF und FANCG) nachweisen [9].
Nur bei der Minderzahl der Patienten mit erworbener aplastischer Anämie können auslösende
Faktoren ausgemacht werden. Bei diesen Faktoren, die zu einer aplastischen Anämie
disponieren - nicht jedoch alleinige Ursache sind -, handelt es sich in 15-25 %
der Fälle [6] um Pharmaka und seltener um chemische Noxen sowie virale Faktoren (Tab. [1]). Annähernd 70 % der aplastischen Anämien bleiben bis heute ätiologisch weitgehend
unklar und werden als idiopathisch bezeichnet. Die zahlreichen präklinischen und
klinischen Befunde zur Pathogenese und -physiologie der erworbenen aplastischen Anämie
sprechen für eine immunologisch vermittelte Zerstörung von hämatopoetischen Progenitorzellen
[11]
[12]. Im Rahmen dieser entgleisten Immunantwort (Idiosynkrasie), die sich wahrscheinlich
nur bei Menschen mit entsprechender - bisher nicht näher charakterisierter - Prädisposition
entwickeln kann, werden zytotoxische T-Lymphozyten aktiviert, die hämatopoetische
Progenitorzellen mittels Zytokinen (Interferon-γ, TNF-α, Interleukin-2) und direkt
über Fas-vermittelte Apoptose zerstören [11].
|
kurzgefasst: Bei aplastischen Anämien handelt es sich um eine Gruppe von Störungen basierend auf
verschiedenartigen ätiopathogenetischen Faktoren. Am häufigsten liegt die erworbene
idiopathische Erkrankungsform vor, bei der eine autoimmune Genese mit pathologischen
Immunreaktionen gegen hämatopoetische Progenitorzellen gut belegt ist.
|
Tab. 1 Einteilung der aplastischen Anämien nach ätiopathogenetischen Faktoren.
<TD VALIGN="TOP">
Angeborene aplastische Anämien
</TD>
<TD VALIGN="TOP">
Erworbene aplastische Anämien
-
Idiopathisch
-
medikamentös-idiosynkratisch und toxisch
-
Chloramphenicol, Chloroquin, D-Penicillamin, Östrogen
-
nicht-steroidale Antiphlogistika (Indomethacin, Ibuprofen)
-
Antikonvulsiva (Carbamazepin, Phenytoin)
-
Sulfonamide (antibiotisch, thyreostatisch, antidiabetisch)
-
Schwermetalle (Gold, Wismutsalze, Arsen), Benzol
-
infolge viraler Erkrankungen
-
Parvovirus B19
-
Herpesviridae (EBV, CMV, HHV-6), Hepatitis A, B, C und HIV
-
in Assoziation mit Schwangerschaften
-
in Assoziation mit Autoimmunerkrankungen
-
in Assoziation mit einer PNH
</TD>
Klinik
Klinik
Die klinischen Manifestationen der AA leiten sich von der Knochenmarkinsuffizienz
mit konsekutiver Anämie, Thrombozytopenie und Leukozytopenie (neutrophile Granulozytopenie)
ab. Am häufigsten führen Blutungszeichen den Patienten zum Arzt. Dabei prägen vermehrte
Hämatomneigung, Petechien, auffälliges Nasen- und Zahnfleischbluten sowie Menorrhagien
das klinische Bild. Über Symptome der Anämie wie Adynamie, Leistungsminderung, Palpitationen,
belastungsabhängige Dyspnoe, Schwindel und Kopfschmerzen klagt ungefähr ein Drittel
der Patienten. Infektionszeichen liegen lediglich bei 5-10 % der Patienten zum Diagnosezeitpunkt
vor, und nur sehr selten werden die als typisch für eine Neutropenie beschriebenen
oropharyngealen Ulzerationen beobachtet [8]
[10]. Ab einer Neutrophilenzahl von 0,5 × 109/l ist das Infektionsrisiko deutlich erhöht [8]
[10].
Diagnostik
Diagnostik
Bei Verdacht auf eine aplastische Anämie sollte die diagnostische Abklärung neben
einer ausführlichen Anamnese (Medikamente, physikalische und chemische Noxen, Virusinfektionen, Schwangerschaft,
Familienanamnese) und körperlichen Untersuchung folgende Schritte umfassen.
Komplettes Blutbild und Differentialblutbild
Wesentliche Voraussetzung für die Diagnosestellung ist die Bestimmung des peripheren Blutbildes inklusive der absoluten Retikulozytenzahl. Anhand der in Tab. [2] genannten Kriterien lässt sich damit eine prognostisch relevante Einteilung in unterschiedliche
Schweregrade vornehmen [1]
[8]. Abgesehen von einer oft anzutreffenden leichten Makrozytose mit Poikilozytose sind
die Blutzellen morphologisch unauffällig. Unter Erwägung der möglichen Differentialdiagnosen
eines MDS, einer IMF oder einer HZL ist auf eventuelle Dysplasiezeichen, Erythroblasten
oder zytomorphologisch atypische Lymphozyten im mikroskopischen Differentialblutbild zu achten.
Tab. 2 Diagnostische Kriterien einer aplastischen Anämie [8].
<TD VALIGN="TOP" COLSPAN="4">
zwei der drei nachfolgenden Blutbildkriterien sind erfüllt:
</TD>
<TD VALIGN="TOP">
</TD><TD VALIGN="TOP">
Neutrophile Granulozyten
</TD><TD VALIGN="TOP">
Thrombozyten
</TD><TD VALIGN="TOP">
Retikulozyten
</TD>
<TD VALIGN="TOP">
Aplastische Anämie (AA)
</TD><TD VALIGN="TOP">
< 1 × 109/l
</TD><TD VALIGN="TOP">
< 50 × 109/l
</TD><TD VALIGN="TOP">
< 40 × 109/l
</TD>
<TD VALIGN="TOP">
Schwere AA (SAA)
</TD><TD VALIGN="TOP">
< 0,5 × 109/l
</TD><TD VALIGN="TOP">
< 20 × 109/l
</TD><TD VALIGN="TOP">
< 20 × 109/l
</TD>
<TD VALIGN="TOP">
Sehr schwere AA (VSAA)
</TD><TD VALIGN="TOP">
< 0,2 × 109/l
</TD><TD VALIGN="TOP">
< 20 × 109/l
</TD><TD VALIGN="TOP">
< 20 × 109/l
</TD>
<TD VALIGN="TOP" COLSPAN="4">
histopathologischer Nachweis eines hypoplastischen Knochenmarks
</TD>
<TD VALIGN="TOP" COLSPAN="4">
keine unmittelbar vorhergehende zytostatische Behandlung oder Strahlenexposition;
keine andersartigen Knochenmarkerkrankungen
</TD>
Knochenmarkuntersuchung
Neben dem Blutbild ist die histopathologische Untersuchung einer Knochenmarkbiopsie aus der Crista iliaca (Jamshidi-Punktion) Bedingung für den Beweis einer AA. Abgesehen
von residuellen hämatopoetischen Inseln mit vorherrschender Erythropoese - Megakaryozyten
fehlen oft, die Myelopoese ist deutlich reduziert, aber durchreifend - zeigt die Histologie
des Knochenmarks eine Aplasie oder zumindest eine deutliche Hypoplasie (Zellularität unter 30 % der Norm). Das fehlende hämatopoetische Mark ist durch Fettmark
ersetzt, oft finden sich eine Mastzellvermehrung sowie lymphoplasmozytoide Herde,
die differentialdiagnostisch an ein Non-Hodgkin-Lymphom (NHL) denken lassen. Zum Ausschluss
einer klonalen Erkrankung (MDS, hypozelluläre Leukämie) sollte trotz der technischen
Schwierigkeiten (Mangel an mitotischen hämatopoetischen Zellen) eine zytogenetische Untersuchung mit Metaphasendarstellung der Chromosomen aus Knochenmarkzellen angestrebt werden.
Bei Verdacht auf eine maligne Erkrankung aus dem lymphatischen Formenkreis (NHL) sollte
eine immunphänotypische Analyse mittels Durchflusszytometrie erfolgen. Die Frequenz der in vitro-kultivierbaren Stammzellen
im „colony forming assay”, der fakultativ durchgeführt werden kann, ist deutlich reduziert; ein normales Wachstum
hämatopoetischer Progenitorzellen schließt eine aplastische Anämie definitiv aus.
Weiterführende Laboruntersuchungen
Zum Ausschluss einer erworbenen megaloblastären Anämie werden die Serumkonzentrationen
von Vitamin B12 und Folsäure bestimmt. Die Serumeisenparameter (Ferritin, Transferrinsättigung) sind erhöht und zeigen eine gestörte Eisenverwertung
bei Suppression der Erythropoese an. Im Verlauf der Erkrankung sollten diese Parameter
außerdem zur Abschätzung der transfusionsbedingten Eisenüberladung des Organismus
ermittelt werden. Zur ätiopathogenetischen Abklärung werden virusserologische Laboruntersuchungen auf Parvovirus B19, Hepatitis A, B, C, HIV sowie EBV und CMV durchgeführt. Zum Ausschluss
systemischer Autoimmunopathien sind das C-reaktive Protein (CRP) zu bestimmen sowie Screeninguntersuchungen auf
antinukleäre Antikörper (ANA) und Rheumafaktoren (RF) durchzuführen. Eine FA lässt sich durch Analysen chromosomaler Veränderungen in peripheren Lymphozyten oder
Fibroblasten nach in vitro-Kultur mit DNA-Crosslinkern (Diepoxibutan- oder Mitomycin-Test)
und künftig mittels molekulargenetischer Mutationsdetektion (Sequenzierung der FA-Gene)
ausschließen [9]. Diese Untersuchungen sind bei allen AA-Patienten unter 50 Jahren auch ohne sonstige
FA-Merkmale durchzuführen (Institut für Humangenetik, Universität Würzburg). Als wichtige
Differentialdiagnose der AA kommt eine paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH, Marchiafava-Anämie) in Betracht. Eine PNH ist nicht immer durch eine ausgeprägte
Hämolyse (Hyperbilirubinämie, Erhöhung der LDH, Haptoglobin im Serum niedrig; Hämoglobin-
und Hämosiderinurie) gekennzeichnet, die Sensitivität der klassischen Tests (Zuckerwasser-
und Ham-Test) ist nicht ausreichend. Daher sollten durchflusszytometrische Untersuchungen
peripherer Granulozyten oder Thrombozyten durchgeführt werden, die bei einer PNH eine
Defizienz Glykosylphosphatidylinositol (GIP)-verankerter Oberflächenmoleküle (z. B.
CD59 und CD55) aufweisen [5].
Blutgruppenbestimmung - HLA-Typisierung
In Hinblick auf erforderliche Transfusionen von Erythrozyten- und Thrombozytenkonzentraten
sollte rechtzeitig eine vollständige Blutgruppenbestimmung erfolgen. Eine molekulargenetische
HLA-Typisierung (Klasse I- und Klasse II-Antigene) des Patienten sowie von Patientengeschwistern
dient der Identifikation von HLA-identischen Knochenmarkspendern.
Technische Untersuchungen
Als Ausgangsbefund sollte auch ohne klinische Anhaltspunkte für eine Pneumonie eine
Röntgenuntersuchung des Thorax veranlasst werden. Eine sonographische Untersuchung der Bauchorgane ist zum Ausschluss einer Hepatosplenomegalie (Differentialdiagnosen: IMF, Hypersplenismus
bei portaler Hypertension) sowie intraabdomineller Lymphome (NHL) zu empfehlen.
|
kurzgefasst: Die Diagnose einer aplastischen Anämie wird anhand von Anamnese, peripherem Blutbild
einschließlich der absoluten Retikulozytenzahl (Bi- oder Panzytopenie) sowie dem
histologischen Untersuchungsbefund des Knochenmarks (Hypo- bis Aplasie) gestellt.
|
Differenzialdiagnosen
Differenzialdiagnosen
Beim klinischen Vollbild der SAA lässt sich die Diagnose in aller Regel ohne Probleme
stellen. Schwierigkeiten treten bei den Fällen auf, die nicht alle der in Tab. [2] aufgeführten diagnostischen Kriterien erfüllen. Zu den mit der aplastischen Anämie
ätiopathogenetisch verwandten Erkrankungen werden die isolierte Erythrozytenaplasie
(pure red cell aplasia), die Agranulozytose sowie die amegakaryozytäre Thrombozytopenie gezählt. Diese Störungen, die angeboren oder erworben sind, zeigen charakteristischerweise
eine isolierte Hypo- oder Aplasie einer einzelnen Reihe der Hämatopoese im peripheren
Blutbild sowie im Knochenmark [3]
[10]. Agranulozytosen werden vornehmlich in Assoziation mit verschiedenen Pharmaka
beobachtet und treten in Europa und den USA mit einer jährlichen Inzidenz von 3 -
4 Fällen pro 1 Millionen Einwohner mit einer relativen Häufung nach Einnahme von
Procainamid, schwefelhaltigen Thyreostatika und Sulfasalazin auf [6]. Bei einer „pure red cell aplasia” sollten neben viralen Infektionen (Parvovirus
B19, Hepatitis C) auch Autoimmunerkrankungen und eine paraneoplastische Situation
(Thymome, Lymphome) ursächlich erwogen werden [3].
Die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie und myelodysplastische Syndrome, die in seltenen Fällen auch mit einer Hypozellularität des hämatopoetischen Knochenmarks
einhergehen (hypoplastisches MDS), können sich ebenso durch eine periphere Panzytopenie
auszeichnen und zeigen nach neueren Erkenntnissen eine gewisse pathogenetische Verwandtschaft
mit aplastischen Anämien [2]
[7]
[12]. Die zu den myeloproliferativen Krankheiten gezählte idiopathische Myelofibrose sowie Karzinome mit maligner KM-Infiltration können durch die histopathologische Knochenmarkuntersuchung
von einer aplastischen Anämie abgegrenzt werden. Erkrankungen, die mit einer Panzytopenie
jedoch nicht mit einem leeren Knochenmark einhergehen, sind Leukämien (aleukämische AML und ALL) und Lymphome mit KM-Befall (z. B. HZL). Sie lassen sich durch immunphänotypische Untersuchungen
mittels Durchflusszytometrie nachweisen.
Fazit
Die aplastische Anämie ist eine seltene Erkrankung des hämatopoetischen Knochenmarks.
Sie ist in der Mehrzahl der Fälle erworben und tritt als idiopathische Form oder in
Assoziation mit Medikamenten sowie viralen Infektionserkrankungen auf dem Boden einer
idiosynkratischen Immunreaktion auf. Angesichts der potenziell letalen Komplikationen
sollte bei jeder unklaren Bi- oder Panzytopenie eine AA differentialdiagnostisch in
Erwägung gezogen werden. Die histologische Untersuchung einer Knochenmarkbiopsie aus
dem Beckenkamm erlaubt zusammen mit der Anamnese die Diagnosestellung.
Autorenerklärung: Die Autoren erklären, dass sie keine finanziellen Verbindungen mit einer Firma haben,
deren Produkt in dem Artikel eine wichtige Rolle spielt (oder mit einer Firma, die
ein Konkurrenzprodukt vertreibt).