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DOI: 10.1055/s-2002-36272
Poetische Arzneien
Arzneien in Dichtwerken 800 v.Chr. bis 1980 n.Chr.Poetic medicinesDrugs in literary works 800 bc to 1980 adPublication History
Publication Date:
19 December 2002 (online)

Prolog
Im April 1918 wurde Elisabeth Mann geboren, Katja und Thomas Manns fünftes Kind. Ein halbes Jahr später begann Thomas Mann mit der Niederschrift des Hexameter-Gedichts Gesang vom Kindchen, eines autobiographischen Bildes aus der Intimität der Münchener Familie vor dem Hintergrund des Weltkriegs. Der siebte Teil ist Die Krankheit überschrieben: es hatte die Seuche des Krieges, die peinliche Grippe/Dich erfaßt, die neuestens gerne die Kleinsten und Schwächsten/Auch befällt. Zu den Allgemein- kommen schmerzhafte Lokalsymptome, der Arzt stellt die Diagnose, und da tritt es nun ein in die Verskunst, das Wasserstoffsuperoxyd, bis heute viel als Desinfektionsmittel verwendet:
Aber das Ohr war es: Vorsichtig tastend | Machte der kundige Arzt es gewiß,-wie solltest du’s sagen. | Fluß des Mittelohrs, also lautet betrüblich sein Wahrspruch. | Da galt es pfleglich vorzugehen und nach der Verordnung:|Wasserstoffsuperoxyd, das dumpf und brodelnd im Ohr braust,|Einzulassen, so daß du betäubt die Augen verdrehtest,|Linderndes Öl, nicht zu kühl, doch um Gott auch wieder zu heiß nicht, | In den winzigen Hörgang zu träufeln, wo reißend die Qual dir|Nistete, und mit wärmender Watte den Eingang zu schließen.|Und es schlang noch ein wollenes Tuch um Wänglein und Kinn dir | Sorgend die Pflegerin und knotet’ es über dem Kopfe, | Daß mit dem leidensalten, erschöpften Gesichtchen du allen | Als ein kümmerlich Spittelweibchen erschienest. Es mischte | Lachen kläglich in unsrer Brust sich mit dem Erbarmen.
Poetische Arzneien: Ich denke, es hat Thomas Mann Spaß gemacht, die daktylische Chemievokabel „Wasserstoffsuperoxyd” einmal im Glanz der Poesie aufleuchten zu lassen. Wir besitzen das gleichzeitige Tagebuch und finden dort seine Genugtuung über das kleine Kunststück wieder:
Freitag den 27. XII. 18. <...> Nachmittags war lebhaftes Maschinengewehrfeuer irgendwoher zu hören. Die Berliner Regierung scheint übrigens noch im Amte. <...> Das Kindchen krank, Mittelohr, ein Abszeß schien sich geöffnet zu haben, das Ohr läuft. <...> Das arme kleine Wesen weint viel, scheint zu leiden. Es schneidet mir ins Herz. <...> Sonntag den 29. XII. 18. <...> Das Kindchen etwas besser. Das Ohr wird mit Wasserstoff-Superoxyd desinfiziert (ein halber Hexameter für das Gedicht), „das dumpf betäubend im Ohr braust”, sodaß sie die Augen verdreht und einzuschlafen scheint. Trug sie längere Zeit herum und unterhielt sie mit einem bauchigen Stehaufmann, den ich auf dem Tisch tanzen ließ. <...> Freitag den 3. I. <...> Vormittags das Gedicht. Zu prosaisch. Schönes, frühlingshaftes Wetter. Ausgedehnter Spaziergang. Nadoleçni beim Kindchen, traf ihn auf der Diele, er äußerte sich befriedigt, u. wirklich macht die Kleine wieder einen normalen, heiteren Eindruck und hat die neue Muhme trotz ihrer Häßlichkeit freundlich acceptiert.
Poetische Arzneien: Ich möchte im ersten Teil meines Vortrags darlegen, warum wir - und mit „wir” meine ich alle an Dichtung und Medizin interessierten Menschen - sie aufmerksam wahrnehmen sollten. Im zweiten Teil präsentiere ich eine Anthologie aus vier Bereichen der Pharmakologie.
1 Für Milica. Jahresschlußvorlesung 21.12.2000
Prof. Dr. Klaus Starke
Institut für Experimentelle und Klinische
Pharmakologie und Toxikologie
Albertstraße 25
79104 Freiburg i.Br.