Dtsch Med Wochenschr 2001; 126(19): 575
DOI: 10.1055/s-2001-13807
Leserbriefe
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Polyzythämia vera - Aktueller Stand der Therapie

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Publication Date:
28 April 2004 (online)

Im Übersichtsartikel zur aktuellen Therapie der Polycythaemia vera (PV) [1] steht der Satz: »Außerhalb klinischer Studien gilt Hydroxyurea (HU) derzeit als Standardtherapie bei der PV auch bei jüngeren Patienten« [1]. Dies können wir nicht nachvollziehen, zumal zuvor die Leukämieraten bei Polycythaemia vera nach HU zitiert werden und in weiteren Datensammlungen (die dort angegebenen Literaturstellen 31, 39 und 41) bei Philadelphia-Chromosom-negativen myeloproliferativen Erkrankungen einschließlich Polycythaemia vera mit zwischen 5,6-14 % angegeben werden. Die Therapie mit HU bei essentieller Thrombozytose war erst 1998 im Arzneimittelbrief [2] aus demselben Grund als fragwürdig bzw. umstritten unter die Lupe genommen worden. Für uns ist daher unverständlich, warum die Aderlasstherapie bzw. alleinige Erythrozytendepletion nicht weiterhin - wie bei uns - Standardtherapie bleiben sollte, an der alle anderen oder neuen Therapien zu messen sind - dies umso mehr, als offenbar auch in diesem Artikel die Ansicht vertreten wird, die Beeinflussung der Leukämierate nach HU sei nicht oder in ihrem wirklichen Ausmaß nicht ausreichend bzw. lege artis geprüft.

Den Aderlass aufgrund der Ergebnisse der PVSG-Studie als »nicht praktikabel« zu bezeichnen, halten wir für nicht akzeptabel. Die adäquate, straffe Behandlung der PV-Patienten mit konsequenter, dauerhafter Senkung des Hämatokritwertes auf < 45 % hängt sowohl bei der Aderlass- als auch bei der HU-Therapie ganz wesentlich von der Compliance ab - und zwar der Compliance nicht nur des Patienten, sondern auch der Sorgfalt und Compliance des behandelnden Arztes. Die »Praktikabilität« der HU-Therapie (Compliance der Tabletten-Einnahme, Blutbildkontrollen, Abfall und Wiederanstieg von Leukozyten und/oder Thrombozyten bei Dosisänderung, rasche Reaktion darauf, gelegentlich auch unangenehme neurologische Nebenwirkungen) halten wir für nicht weniger problematisch!

Mit »nicht praktikabel« könnte bei der Aderlasstherapie natürlich auch gemeint sein, dass bei sehr hohen Hämatokritwerten, insbesondere bei Erstdiagnose einer PV (oft bereits im Rahmen der ersten thromboembolischen Komplikation!) und anfangs noch sehr aktiv proliferierender Erkrankung meist mehrere, oft etliche kurzfristig zu repetierende Aderlässe erforderlich sind (mit häufigen Arztbesuchen, Zeitverlust, Arbeitsausfall, Zwischen-Blutkontrollen etc.), bis der Hämatokritwert des Patienten endlich aus dem riskant hohen Bereich von u. U. sogar > 55 oder 60 %, in den als »sicher« geltenden Bereich von < 45 % gesenkt ist. Dieses Ziel kann jedoch alternativ und problemlos binnen 2-3 Stunden in einer Sitzung mit dem gut tolerierten Verfahren der isovolämischen Erythrozytapherese [3] erreicht werden, die in dieser Übersicht - wieder einmal [4] [5] - gar nicht erwähnt wird. Sie hat zumindest in der hier geschilderten Situation ihre eindeutige Indikation. Die Möglichkeiten der Erythrozytendepletion sind jedenfalls ohne Einbezug der - falls erforderlichen - Erythrozytapherese nicht ausgeschöpft!

Das offensichtliche Problem, dieses Verfahren den Hämatologen einerseits und zugleich an der gleichen Institution denjenigen, die den Zellseparator zur Verfügung haben und bedienen können, synchron bekannt zu machen, sie davon zu überzeugen und es dort zu etablieren, ist uns hinlänglich bekannt. Wir haben darauf bereits hingewiesen [4].

Sehr bedenklich, ja unverständlich erscheint uns, dass in der wohl bereits angelaufenen neuen deutschen Therapiestudie zur PV [6] kein Standard-Arm mit alleiniger Erythrozytendepletion geführt wird, da ja die Gabe von HU »erlaubt« ist, wenn die Thrombozytenzahl (bereits ab > 600 000/µl!) es »erforderlich« macht! Bei Thrombozytenwerten im Bereich von 600 000 bis 1 Mio/µl halten wir dies in der Regel für überflüssig bei straff unter 45 % eingestelltem Hämatokritwert. So wurde ja auch in einem neueren Studienprotokollentwurf zur Therapie der essentiellen Thrombozytose (»ET-Studie«) sogar ein Kontrollarm mit Thrombozytenwerten bis 1,5 Mio/µl gestattet. (Letztere geplante Studie kam jedoch offensichtlich nicht in Gang, wohl weil ein Medikament nicht zur Verfügung gestellt wurde).

Da mit der Aussage der neuen PV-Studie wohl kaum vor Ablauf von 10 Jahren zu rechnen ist, werden wir - wenn alles so bleibt - wohl auch nach 12 Jahren immer noch nicht wissen, ob wir unseren PV-Patienten - auch jüngeren - HU geben sollten bzw. dürfen oder nicht.

Literatur

  • 1 Lengfelder E, Hehlmann R. Polyzythämia vera - Aktueller Stand der Therapie.  Dtsch Med Wschr. 2000;  125 1243-1247
  • 2 NN. Essentielle Thrombozythämie (ET): Leukämogenes Risiko nach Behandlung mit Hydroxycarbamid.  Der Arzneimittelbrief. 1998;  32 39
  • 3 Kaboth U, Rumpf K W, Lipp T, Bigge J, Nauck M, Beyer J H, Seyde W, Kaboth W. Treatment of Polycythemia Vera by Isovolemic Large-Volume Erythrocytapheresis.  Klin Wschr. 1990;  68 18-25
  • 4 Kaboth U, Rumpf K W, Hiddemann W, Kaboth W. Chronische myeloproliferative Erkrankungen. Erythrozytapherese bei Polycythaemia vera.  Dtsch Med Wschr. 1996;  121 1483
  • 5 Aulitzky W E, Griesshammer M, Heimpel H, Huhn D. Chronische myeloproliferative Erkrankungen.  Dtsch Med Wschr. 1996;  121 600-604
  • 6 Lengfelder E, Berger U, Hehlmann R. Interferon α in the treatment of polycythemia vera.  Ann Hematol. 2000;  79 103-109

Prof. Dr. med. U. Kaboth
Prof. Dr. med. L. Trümper

Abteilung Hämatologie und Onkologie Bereich Humanmedizin Georg-August-Universität Göttingen

Robert Koch-Straße 40

37075 Göttingen