Dtsch Med Wochenschr 2001; 126(6): 151-152
DOI: 10.1055/s-2001-11045
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»Furberg-Bias« - oder: Vom beliebigen Umgang mit Evidence-Based Medicine

M. Middeke
  • DMW Chefredaktion, Stuttgart
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Kalziumantagonisten als Antihypertensiva schneiden bei Furberg und einigen amerikanischen Kollegen seit Jahren nicht gut ab [8]. Man wirft Ihnen allerdings Voreingenommenheit und noch mehr vor. Deshalb bestehen in der »Hypertonologenszene« Vorbehalte gegen die Person Furberg und ihre Daten.

Nun wurden im Lancet in ein und demselben Heft zwei sich anscheinend widersprechende Metaanalysen zu den Kalziumantagonisten veröffentlicht. Die negativen Daten kommen mal wieder von Furberg und Kollegen [10], die »positiven« Daten von der Blood Pressure Lowering Treatment Trialists Collaboration [4], einer Gruppe vorwiegend amerikanischer Wissenschaftler, denen man unter Hypertonologen mehr vertraut.

Die Gralshüter von Evidence-Based Medicine (EBM) müssten jetzt eigentlich Bauchschmerzen bekommen. Immerhin gilt die Metaanalyse randomisierter, kontrollierter Studien als höchster Evidenzgrad: A Ia. Aber welche Metaanalyse gilt nun? Oder heben sich die beiden Analysen gegenseitig auf? Welche Konsequenzen hat das für nationale und internationale Leitlinien?

Furberg berichtete über seine Daten bereits im Sommer 2000 auf dem internationalen Hypertoniekongress in Chicago. Die Szene war sich damals einig: Die Analyse sei (mal wieder) schlecht und gebe nicht Anlass, die eigenen Therapieempfehlungen zu ändern. Man warte auf jeden Fall auf die angekündigte Metaanalyse der »Collaboration«-Gruppe um MacMahon, weil hier andere Ergebnisse zu erwarten seien. Nun haben die Gutachter des Lancet aber beide Analysen bgutachtet und offensichtlich zur Publikation empfohlen. Natürlich gibt es einige methodische Unterschiede in den beiden Analysen, insbesondere die Auswahl der Studien; dies erklärt wie es zu der unterschiedlichen Bewertung kommen kann: Die Furberg-Gruppe hat mit FACET, MIDAS und CASTEL [5] [6] [12] drei Studien mit in die Analyse einbezogen, in denen der Ausgang für Kalziumantagonisten negativ war. Die FACET- Studie hatte nur 380 Teilnehmer und wird auch aus anderen Gründen in der Szene als schlecht bewertet. Immerhin erschien sie aber im angesehenen Diabetes Care. MIDAS und CASTEL wurde von der Collaboration-Gruppe nicht berücksichtigt, weil die Ergebnisse bereits 1994 bekannt waren, zu einem Zeitpunkt der vor der Planung der prospektiven Metaanalyse lag. Bei welcher Metaanalyse liegt nun Selektionsbias vor? Dürfen wir das selbst beurteilen, oder müssen wir beim Cochrane-Institut nachfragen? Haben Gegner und Befürworter von Kalziumantagonisten als Therapie der ersten Wahl bei Hypertonie nun beide Recht und können ihre Argumente frei wählen?

Bei Patienten mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko schneiden Kalziumantagonisten schlechter ab als andere Antihypertensiva,insbesondere ACE-Hemmer. Zur Vermeidung eines Schlaganfalls haben sie Vorteile gegenüber Betablockern und Diuretika, nicht gegenüber ACE-Hemmern: In der Furberg-Analyse hatten die Patienten unter Kalziumantagonisten ein signifikant höheres Risiko für Herzinfarkt (+ 26 %), Herzinsuffizienz (+ 25 %) und schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse (+ 10 %) im Vergleich mit Diuretika, Betablockern und ACE-Hemmern. In der Analyse der Collaboration-Gruppe schneiden die Kalziumantagonisten bei KHK (+ 12 %) und bei Herzinsuffizienz (+ 19 %) im Vergleich mit anderen Substanzen ebenfalls schlechter ab, das Ergebnis ist jedoch nur signifikant für den Vergleich mit ACE-Hemmern bei KHK. Allerdings senken Kalziumantagonisten die Schlaganfallhäufigkeit signifikant um 13 % stärker als Betablocker oder Diuretika in der Collaboration-Analyse und um 10 % (nicht signifikant) in der Furberg-Analyse. Die Gesamtsterblichkeit war in beiden Analysen für Kalziumantagonisten nicht unterschiedlich zu anderen Substanzen. Handelt es sich jetzt um eine positive und eine negative Metaanalyse, oder um zwei negative oder eine negative und eine unentschiedene?

Kann man daraus für die Praxis tatsächlich brauchbare Konsequenzen ziehen? Gehören Kalziumantagonisten nun doch wieder in die zweite Reihe? Dort sind sie nach Einschätzung des amerikanischen Joint National Committee on Detection, Evaluation and Treatment of High Blood Pressure (JNC VI) noch in der letzten Veröffentlichung von 1997. Man darf gespannt sein ob und wie andere Fachgesellschaften neu bewerten. Es ist sehr viel Geld und auch Macht im Spiel. Das darf man nicht außer Acht lassen, wenn man die »big players« der Szene betrachtet - auch wenn sie unter WHO und ISH (International Society of Hypertension) firmieren und inzwischen Kongresse und Journale beherrschen.

Keine Substanzgruppe unter den Antihypertensiva ist so heterogen wie die Kalziumantagonisten, das muss jeder Arzt täglich bei der Auswahl in der Praxis oder Klinik berücksichtigen. In den beiden Metaanalysen wird allerdings nicht zwischen den einzelnen Substanzen unterschieden. Es gibt gar keinen Zweifel, dass Kalziumantagonisten sehr potente Blutdrucksenker sind. Daher senken sie auch im Vergleich zu Placebo (zwei Studien mit Amlodipin bzw. Nitrendipin) den Schlaganfall um 39 % und schwere kardiale Ereignisse um 28 %, wie die Collaboration-Gruppe in einem weiteren Teil ihrer Analyse zeigt. Sie scheinen auch bei der Schlaganfallverhütung und als Antidementiva [2] [9] [13] eine besondere Wirkung zu entfalten, schneiden aber bei kardiovaskulären Risikopatienten eher schlechter ab im Vergleich mit anderen Antihypertensiva in der Monotherapie. Dies ist sicher eine Enttäuschung für viele, die sich insbesondere hier Vorzüge versprochen hatten. Aber die Datenlage reicht auch nach diesen beiden Metaanalysen noch nicht zur endgültigen Bewertung der Kalziumantagonisten im Vergleich. Wie so oft gibt es Gott sei Dank noch einige sehr große laufende Studien, die uns in absehbarer Zeit bessere Erkenntnisse ermöglichen [3] [7]. Bis dahin darf weiter interpretiert, deklamiert und leider auch polemisiert werden. Dabei werden die EBM-Pfeile hin und hergeschossen. Man sollte aber berücksichtigen, dass die meisten Hypertoniker für eine optimale Blutdruckeinstellung sowieso eine Kombinationstherapie brauchen. Hierbei ist auf die Kalziumantagonisten gar nicht zu verzichten.

Es gibt sogar Hinweise, dass die Kalziumantagonisten insbesondere in der Kombination mit ACE-Hemmern bei Risikopatienten besonders gut geeignet sind. Es fehlt allerdings bisher eine große Interventionsstudie, die gezielt die antihypertensive Kombinationstherapie untersucht. Der seriöse Streit um die Kalziumantagonisten bezieht sich auf ihre Platzierung als Monotherapie bzw. initiale Therapie.

Wir sollten uns eine gesunde Skepsis gegen die allzu lauten Protagonisten von EBM bewahren, wenn sie EBM nach Belieben und Gutdünken verwenden, insbesondere wenn sie sich früher in der schrecklichen Zeit vor EBM um Studiendaten wenig geschert haben. Die Anforderungen an Standardisierung und Qualität von Studien und Metaanalysen und an die Qualität des Reports müssen weiter erhöht werden [1]. Abgesehen von der z. T. berechtigten Warnung vor übertriebenen Erwartungen an EBM [11] sollte die Rangfolge der EBM-Evidenzgrade dringend überdacht werden. Die Kalziumantagonistenstory ist ein schönes Beispiel für eine potenzielle EBM-Falle.

Literatur

  • 1 Antes G, Bassler D. Evidence-Based Medicine, Forschungstransfer und die Rolle der medizinischen Journale.  Dtsch med Wschr. 2000;  125 1119-1121
  • 2 Berkels R, Klaus W. Kalziumantagonisten näher betrachtet.  Dtsch med Wschr. 2000;  125 531-533
  • 3 Black H R, Elliott W J, Neaton J D. et al . Rationale and design for the Controlled Onset Verapamil Investigation of Cardiovascular Endpoints (CONVINCE) Trial.  Control Clin Trials. 1998;  19 370-390
  • 4 Blood Pressure Lowering Treatment Trialists¿Collaboration . Effects of ACE inhibitors, calcium antagonists, and other blood-pressure-lowering drugs: Results of prospectively designed overviews of randomised trials.  Lancet. 2000;  355 1955-1964
  • 5 Borhani N O, Mercuri M, Borhani P A. et al . Final outcome results of the Multicenter Isradipine Diuretic Atherosclerosis Study (MIDAS): A randomized controlled trial.  JAMA. 1966;  276 785-791
  • 6 Casiglia E, Spolaore P, Mazz E. et al . Effect of two different therapeutic approaches on total and cardiovascular mortality ina Cardiovascular Study in the Elderly (CASTEL).  Jpn Heart J. 1994;  35 589-600
  • 7 Davis B R, Cutler J A, Gordon D J. et al . Rationale and design for the Antihypertensive and Lipid Lowering treatment to prevent Heart Attack Trial (ALLHAT).  Am J Hypertens. 1996;  9 342-360
  • 8 Furberg C D, Psaty B M, Meyer J V. Nifedipine - dose-related increase in mortality in patients with coronary artery disease.  Circulation. 1996;  93 1475-1476
  • 9 Lehrl S, Gräßel E, Eicke C. Wirkung von Felodipin bei hypertonen Patienten mit leichten Hirnleistungsstörungen in einer randomisiert Doppelblindstudie.  Dtsch med Wschr. 2000;  125 1350-1355
  • 10 Pahor M, Psaty B M, Alderman M H, Applegate W B, Williamson J D, Cavazzini, C, Furberg C D. Health outcomes associated with calcium antagonists compared with other first-line antihypertensive therapies: A meta-analysis of randomiesd controlled trials.  Lancet. 2000;  356 1949-1954
  • 11 Rogler G, Schölmerich J. »Evidence-Biased Medicine« - oder: Die trügerische Sicherheit der Evidenz.  Dtsch med Wschr. 2000;  125 1122-1128
  • 12 Tatti P, Pahor M, Byington R P. et al . Outcome results of the Fosinopril versus Amlodipine Cardiovascular Events randomized Trial in patients with hypertension and NIDDM.  Diabetes Care. 1998;  21 597-603
  • 13 Trenkwalder P. Kognitive Störungen und Demenz - neue Endorganschäden bei Hypertonie.  Dtsch med Wschr. 2000;  125 1349

Prof. Dr. med. Martin Middeke

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