Dtsch Med Wochenschr 2017; 142(10): 771-772
DOI: 10.1055/s-0043-107821
Leserbrief
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Von Äpfeln und Birnen

Heiner Melching
1   Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin, Berlin
,
Lukas Radbruch
1   Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin, Berlin
,
Michaela Hach
2   Bundesarbeitsgemeinschaft Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (c/o Björn Schulz Stiftung), Berlin
› Author Affiliations
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Publication Date:
17 May 2017 (online)

Mit großer Verwunderung haben der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und die Bundesarbeitsgemeinschaft Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (BAG SAPV) die Veröffentlichung von Rusche et al. in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift „Medizinische Versorgung und Kosten im letzten Lebensjahr. Propensity-Score-Matching von AAPV- und SAPV-Versicherten“ zur Kenntnis genommen [1].

Die Kernaussage der Autoren aus der Auswertung von Krankenkassendaten ist, dass die Kosten von Patienten mit spezialisierter ambulanter Palliativversorgung (SAPV) höher liegen als die von vergleichbaren Patienten mit allgemeiner ambulanter Palliativversorgung (AAPV). Insbesondere für die Arzneimittelkosten im letzten Lebensjahr fielen in der SAPV-Gruppe deutlich mehr Kosten an als in der Vergleichsgruppe, während die Pflegekosten in der SAPV-Gruppe sogar niedriger waren als die AAPV-Gruppe.

Allerdings beruhen diese Aussagen auf einer Reihe von falschen Voraussetzungen und methodologischen Fehlern. Krankenkassendaten bieten zwar den Vorteil, dass große Patientenzahlen bundesweit ausgewertet werden können, aber es können eben auch nur die bei den Kostenträgern vorhandenen Daten ausgewertet werden. Eine Gegenüberstellung von SAPV und AAPV macht jedoch nur Sinn, wenn die zum Tode führende Erkrankung und der Funktionsstatus der Patienten verglichen werden können. Die Autoren haben zwar 5 im Alter häufige Diagnosen bei ihrem Vergleich berücksichtigt (Asthma/COPD, Hypertonie, koronare Herzkrankheit, Diabetes und Alzheimer), diese Krankheiten sind jedoch auch heute noch eher selten der Grund für die Verordnung einer SAPV. Im Jahr 2012 wurde bei der überwiegenden Mehrzahl der Patienten eine SAPV wegen einer Tumorerkrankung eingeleitet, in einer Auswertung der Daten aus der Hospiz- und Palliativerhebung HOPE waren dies in 2010 86 % der Patienten [2]. In einer anderen Untersuchung zur ambulanten Palliativversorgung aus dem Jahr 2013 lag der Anteil der Tumorpatienten zwischen 75 und 94 % bei den 12 untersuchten Diensten [3].

Wenn davon auszugehen ist, dass in der Auswertung von Rusche et al. die Mehrzahl der Patienten in der SAPV-Gruppe an einer Tumorerkrankung litt, kann dies auch die hohen Arzneimittelkosten erklären, die dann aber nicht durch die Medikamente zur Schmerz- und Symptomkontrolle zustande kämen, sondern durch teure Chemotherapien am Lebensende.

Nach dem Bericht des Gemeinsamen Bundesausschusses G-BA betrugen im Jahr 2015 die Gesamtausgaben für die SAPV 332,4 Mio. Euro, wovon gerade 50,59 Mio. für Arzneimittel verwendet wurden, was ca. 15 % der SAPV-Kosten entspricht [4]. In den Jahren zuvor waren die Gesamtausgaben deutlich niedriger und der Anteil der Kosten für Arzneimittel lag stets unter 15 %. Häufig wird sogar in der SAPV die immense Anzahl von Arzneimitteln, die schwerstkranke Patienten im Laufe diverser Behandlungen erhalten haben, zunächst drastisch reduziert. Somit ist der Eindruck, der mit der Aussage in dem Artikel geweckt wird, mehr als nur irreführend!

Insgesamt ließe sich der Aufwand nur vergleichen, wenn der Funktionsstatus der Patienten berücksichtigt würde. Bei Patienten in der SAPV wurde ein Funktionsstatus ECOG 3 (> 50 % der Wachzeit bettlägerig) oder 4 (permanent bettlägerig) bei 75 % der Patienten dokumentiert [5]. Ein Vergleich wie bei Rusche et al. ist nicht sinnvoll, da es sich höchstwahrscheinlich um 2 Patientengruppen mit völlig unterschiedlichem Behandlungsbedarf handelt. Niemand würde es in Frage stellen, dass z. B. Patienten, die im Krankenhaus intensivmedizinisch behandelt werden müssen, mehr Kosten verursachen als Patienten, die mit einer vergleichsweise leichten Erkrankung auf einer Normalstation versorgt werden können. Die SAPV ist Patienten mit komplexen Symptomen vorbehalten, die einer besonders aufwendigen Versorgung durch ein multiprofessionelles Team bedürfen, welches rund um die Uhr verfügbar sein muss. Es ist davon auszugehen, dass der allergrößte Teil dieser Patienten ohne diese spezielle Versorgungsform der SAPV auf spezialisierten Abteilungen im Krankenhaus versorgt werden müsste. Somit wäre in Bezug auf die Kosten evtl. ein Vergleich der SAPV-Kosten mit denen einer spezialisierten Palliativstation im Krankenhaus logisch, aber nicht ein Kostenvergleich von SAPV und AAPV.

Ohnehin ist die Definition von AAPV bei Rusche et al. in Frage zu stellen. Dort wurden verstorbene Patienten mit SAPV-Verordnung anderen verstorbenen Patienten ohne eine solche Verordnung entgegengestellt. Jede Versorgung von Sterbenden ohne SAPV wurde also als AAPV definiert, da die Autoren davon ausgehen, dass die Hausärzte und Pflegedienste die allgemeine ambulante Palliativversorgung leisten. Wenn dies auch in vielen Fällen so angenommen werden kann, sind doch durchaus Defizite in diesem Bereich zu beklagen. Palliativmedizin ist erst seit 2009 Pflichtfach im Medizinstudium, sodass palliativmedizinische Grundkenntnisse nur bei den jüngeren Ärzten generell vorausgesetzt werden können, wohingegen es bei vormals ausgebildeten Ärzten allein eine Frage des persönlichen Interesses und Engagements war, ob und wieweit sie sich palliativmedizinisch weitergebildet haben. Erst im Dezember 2015 wurde durch das Hospiz- und Palliativgesetz vom Gesetzgeber klargestellt, dass Palliativversorgung Teil der Krankenbehandlung ist.

Es gibt in Deutschland nach wie vor keine klare Regelung und keinen Konsens dazu, was genau AAPV ist bzw. wie diese finanziert wird. Zwar gibt es im EBM 5 Abrechnungsziffern, die der AAPV zugeordnet werden, allerdings umfassen diese ausschließlich einen kleinen Teilbereich ärztlicher Leistungen. Im Bereich der Pflege existieren in den allermeisten Bundesländern überhaupt noch keine Regelungen zur AAPV.

Besonders irreführend in der Veröffentlichung ist, dass die Kosten für die Behandlung im letzten Lebensjahr pauschal als SAPV-Kosten dargestellt werden. So sollen die Krankenkassen im Mittel 31 743 Euro für eine SAPV ausgegeben haben und für eine AAPV nur 24 981 Euro. Leider wird in Deutschland die SAPV aber in vielen Fällen zu spät verordnet. Die durchschnittliche Dauer der Behandlung lag bei 20 Tagen [6], sodass also nur ein geringer Teil der Behandlungskosten im letzten Lebensjahr der SAPV zugeordnet werden kann. Im GBA-Bericht wurden für 2015 insgesamt 332,4 Mio. für die 118 452 Abrechnungsfälle aufgeführt, dies ergibt 2806,54 Euro pro Fall. Nun ist ein Abrechnungsfall natürlich nicht mit einem Patienten gleichzusetzen, da dieser durch Erst- und Folgeverordnungen mehrere solcher Fälle auslösen kann, aber selbst wenn man diese 2806 Euro mit 2 oder 3 multipliziert, bleibt man von den 31 743 Euro der Autoren noch weit entfernt.

Aus Sicht der DGP und der BAG SAPV ist es wünschenswert, dass die SAPV früher in den Behandlungsverlauf integriert werden kann, weil dadurch Über-, Unter- und Fehlversorgungen sicher vermieden werden und dann vielleicht auch die hohen Behandlungskosten dieser Patienten mit komplexen Bedürfnissen beeinflusst werden könnten.

Durch die Auswertungen unter falschen Voraussetzungen und die unzulässigen Vergleiche werden 2 Versorgungsbereiche zueinander in Konkurrenz gesetzt und tendenziell gegeneinander ausgespielt, die nach allen Vorstellungen der Palliativversorgung Hand in Hand zusammenarbeiten und miteinander kooperieren sollten. Eine gute, zweckmäßige und wirtschaftliche SAPV ist immer auch auf eine gute Grundversorgung und ein enges Miteinander mit allen Formen der allgemeinen Palliativversorgung angewiesen. Spezialisierte multiprofessionelle Teams sollen in der SAPV mit Haus- und Fachärzten, Pflegediensten und Hospizdiensten zusammenarbeiten und diese bei Bedarf ergänzen. Dieses Miteinander sollte nicht durch irreführende Aussagen gefährdet oder erschwert werden. Insbesondere im Interesse von Palliativpatienten und deren Angehörigen halten wir Preisvergleiche dieser Art für unangemessen.