Dtsch Med Wochenschr 2016; 141(14): 1006
DOI: 10.1055/s-0042-103597
Dossier
Infektionskrankheiten bei Flüchtlingen
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Erstaufnahmeuntersuchungen bei Flüchtlingen: Viele Fragen bleiben offen

Joachim Mössner
1   Klinik und Poliklinik für Gastroenterologie und Rheumatologie, Department für Innere Medizin, Neurologie und Dermatologie, Universitätsklinikum Leipzig
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Publication Date:
12 July 2016 (online)

Die ärztlichen Untersuchungen nach Erstaufnahme von Flüchtlingen werden von den Gesundheitsämtern organisiert. Meiner Kenntnis nach gibt es für die Bundesländer keinen einheitlichen Standard, welches Untersuchungsprofil dabei erfolgt. Wie sollte eine solche Erstaufnahmeuntersuchung idealerweise aussehen? Dazu existieren unterschiedliche Sichtweisen.

Sicher gehört eine Röntgen-Thorax-Untersuchung zum Ausschluss einer Lungentuberkulose zum Standard – das liegt im öffentlichen Interesse. Viele weitere übertragbare Infektionserkrankungen könnten leicht mithilfe von Blutuntersuchungen diagnostiziert und somit behandelt werden (z. B. HIV, Hepatitis B und C). Das wäre für den Einzelnen und seine potenziell gefährdeten Mitmenschen von höchster Relevanz. Erste Daten dazu kommen aus Norddeutschland (s. S. 1007).

Die Finanzierung der Erstaufnahmeuntersuchungen liegt beim Staat, also den Bundesländern. Für weitere, aus ärztlicher Sicht notwendige Diagnose- und Therapieschritte müssen die Gemeinden aufkommen. Von den Erstaufnahmelagern werden die Flüchtlinge von den Gemeinden auf Asylbewerberheime verteilt. Hier versorgen sie Ärzte der kassenärztlichen Vereinigungen ambulant – häufig ohne zu wissen, welche Untersuchungen mit welchen Ergebnissen bereits erfolgt sind.

Viele Überlegungen zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen sind banal, müssen aber dennoch diskutiert werden. So können viele Erkrankungen ohne entsprechende Labordiagnostik erst diagnostiziert werden, wenn bereits Symptome auftreten und an diese Symptome auch gedacht wird. Daher muss ein Arzt, der einen Flüchtling untersucht, die möglichen Erkrankungen und ihre Prävalenz im Herkunftsland kennen. Die ethische Diskussion bezüglich Therapie einer Hepatitis-C-Infektion angesichts der Kosten möchte ich hier gar nicht thematisieren.

Die Anamnese ist eine ärztliche Kunst und setzt das Vertrauen des Patienten voraus. Eine chronische Hepatitis B oder C diagnostiziere ich auch ohne Anamnese, wenn sich bei erhöhten Serum-Transaminasen die entsprechende virologische Diagnostik anschließt. Für zahlreiche Erkrankungen ist die Anamnese aber unverzichtbar. Sicherlich wird der nativ arabisch sprechende Arzt „fündiger“ als der deutsche Arzt, der einen Dolmetscher benötigt – dennoch muss die Anamnese gerade bei Flüchtlingen integraler Bestandteil der Diagnostik bleiben.

Die Beiträge des Dossiers zeigen Infektions- und parasitäre Krankheiten bei Flüchtlingen, an die in der deutschen Hausarztmedizin sicher kaum gedacht wird. Die Beiträge dienen auch zur Anregung, welche Parameter das Profil der Erstaufnahmeuntersuchungen enthalten sollte.