ergopraxis 2012; 5(11/12): 27-29
DOI: 10.1055/s-0032-1331006
ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York

SI bei Autismus – Wenn Wahrnehmung wehtut

Andrea Hasselbusch
,
Astrid Baumgarten

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Publication Date:
16 November 2012 (online)

 

Menschen mit Autismus leiden unter sensorischen Verarbeitungsstörungen und Missempfindungen. Diese Tatsache sowie die Studienlage sprechen für einen sensorisch-integrativen Bezugsrahmen in der Ergotherapie. Ein Plädoyer für eine klientenzentrierte und evidenzbasierte Behandlung von betroffenen Kindern.


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Andrea Hasselbusch und Astrid Baumgarten

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Andrea Hasselbusch, PhD cand., MOccTh, PG cert. Ed., Bc OT, Dip OT und Lehrtherapeutin SI/DVE, arbeitet derzeit an der Bournemouth University in England.


Astrid Baumgarten, Ergotherapeutin, Dozentin und Lehrtherapeutin SI/DVE, ist in der Pädiatrie tätig und leitet das Weiterbildungsinstitut INSIGHT.

Menschen mit Autismus berichten seit Jahrzehnten über ihre Probleme im Bereich der Wahrnehmungsverarbeitung [1-4]. Ihre Erfahrungen zeigen, wie Hyperreaktivität auf alltägliche sensorische Informationen das Leben in der Schule, bei der Arbeit, im sozialen Zusammenleben und zu Hause beeinträchtigt. Auch die Selbstversorgung kann so zu wiederkehrenden traumatischen Situationen führen. Die Betroffenen schildern sensorische Missempfindungen, insbesondere bei Geräuschen, Berührung, Geruch oder Geschmack. Diese nehmen sie über das Kindesalter hinaus bis ins höhere Alter als extrem einschränkend und belastend wahr. Ihr Alltag birgt somit unüberwindbare Hindernisse. In diesem Fall sind sie auf Schutzmaßnahmen wie eine reizarme Umgebung oder eine angemessene Arbeitsplatzgestaltung angewiesen [5].

Autismus betrifft die ganze Familie

Die Wahrnehmungsver-arbeitungsstörung eines autistischen Kindes beeinflusst den Alltag aller Familienmitglieder, zum Beispiel bei Mahlzeiten, Ausflügen oder Familienfeiern [7, 8]. Denn: Das Verhalten des Kindes kann so schwierig und unvorhersehbar sein, dass dem Rest der Familie nichts anderes übrig bleibt, als sich umzustrukturieren [9]. Viele autistische Kinder sind gerade in der Öffentlichkeit derart reizüberflutet, dass die Eltern den Weg zum Kindergarten oder zur Schule nur mit dem Auto bewältigen. Öffentliche Verkehrsmittel oder Fußwege entlang einer Straße können sie wegen häufig und plötzlich auftauchender Geräusche nicht nutzen.

In einer qualitativen Studie von 2008 werteten die Forscher Bio-grafien und Interviews autistischer Menschen aus [10]. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Betroffene ihre Probleme und Defizite in sozialen Beziehungen, Kommunikation, repetitiven Verhaltensweisen und eingeschränkten Interessengebieten vor allem in ihrer atypischen Wahrnehmungsverarbeitung begründet sehen. Eine Metaanalyse von 14 quantitativen Studien, ebenfalls aus dem Jahr 2008, zeigt zudem deutlich, dass Kinder mit dieser Diagnose mehr Probleme in der sensorischen Modulation haben als alle Vergleichsgruppen mit unauffällig entwickelten bzw. entwicklungsverzögerten Kindern ohne Autismus [11]. Untersuchungen belegen weiterhin, dass es bestimmte Untergruppen autistischer Menschen bezüglich der Wahrnehmungsverarbeitung gibt: Eine Gruppe zeigt eher untypische Reaktionen auf Geruch und Geschmack, was zu enormen Einschränkungen im Essverhalten führen kann [12, 13]. Die andere Gruppe reagiert bei auditiven und taktilen Reizen deutlich über und lehnt ontakt ab, zum Beispiel das Kuscheln mit den Eltern [14]. Sie möchte nicht oder nur in ganz spezifischer Weise berührt werden.

„Sich morgens anzukleiden, gestaltet sich oft diffizil. Je nach Tagesform schmerzen manche Stoffe, Pfeile jagen durch meine Wirbelkörper. Panik erfasst mich, ich lege das Kleidungsstück ab.“

Cassandra, Erwachsene mit Autismus [6]


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Der Alltag und das Wohlbefinden leidet

Bei 80 bis 90 Prozent der Menschen mit Autismus treten sensorische Modulationsstörungen auf [15]. Ihr hierdurch eingeschränktes Repertoire an angemessenen Verhaltensweisen und Reaktionen führt insbesondere im Umgang mit anderen Menschen zu Schwierigkeiten. Ebenso belasten sie emotionale und psychische Auswirkungen wie Ängstlichkeit und Depressionen [13, 16]. Die andauernden sensorischen Überforderungen ängstigen die Kinder häufig: Die Umwelt ist zu laut, zu grell und zu irritierend. Manche von ihnen reagieren mit depressivem Rückzug in lethargisches, passives Verhalten. Auditive Filterschwierigkeiten tragen häufig dazu bei, dass sich die Kinder nur schwer auf die Lernaktivitäten im Klassenraum konzentrieren können [14].

Diese schwerwiegenden Auswirkungen haben dazu geführt, dass die sensorischen Symptome als ein Diagnosekriterium des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-V) der Amerikanischen Gesellschaft der Psychiater aufgenommen werden. Mit der Veröffentlichung in den USA im Mai 2013 erhält auch der sensorisch-integrative Bezugsrahmen (SI) in der Therapie für Menschen mit Autismus einen wichtigen Stellenwert. Daher wäre es wünschenswert, dass Ergotherapeuten mit einer zertifizierten SIeiterbildung und Erfahrungen in klientenzentrierter Befunderhebung und Behandlung bei Menschen mit Autismus als Spezialisten einen Teil zur fachärztlichen Erstellung der Diagnose beitragen.


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Studien kritisch hinterfragen

Wissenschaftler, die sich in Effektivitätsstudien dem sensorisch-integrativen Bezugsrahmen in der Ergotherapie widmeten, stellten Kernbestandteile des Behandlungsansatzes teilweise verfälscht dar oder setzten sie nicht korrekt um. Sie wandten beispielsweise passive sensorische Stimulation an oder nutzten Räume mit SI-Geräten, jedoch keine Interaktion zwischen Kind und Therapeutin [17, 18]. Das Therapeutenverhalten und die aktive Teilnahme des Kindes in einem kindzentrierten Spiel sind jedoch essenzielle Bestandteile der sensorisch-integrativen Behandlung. Unter Berücksichtigung der SI-Kernprinzipien gibt es derzeit acht Wirksamkeitsstudien zu Ergotherapie bei autistischen Kindern. Die Arbeiten sind von unterschiedlicher Qualität, die aktuellste ist eine rando-misierte kontrollierte Studie [19]. Alle Untersuchungen belegen positive Veränderungen durch die sensorisch-integrative Behandlung. Zudem zeigte die Sensorische Integrationstherapie signifikant bessere Effekte im Vergleich zu Gruppen, die keine Therapie bzw. eine alternative Intervention erhielten.


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Umfeld - und Alltagsmanagement als wichtiger Therapiebaustein

Einige Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen zeigen sich konstant in bestimmten Situationen und Umgebungen, andere treten vorrangig in besonderen Kontexten oder Aktivitäten auf [20-22]. So unterscheidet sich beispielsweise das Geräuschniveau in einer Familie mit einem Einzelkind gravierend vom Lärmpegel in einer Grundschule. Dies kann dazu führen, dass Kinder mit einer auditiven Hyperreaktivität andere Verhaltensweisen in ihrer häuslichen Umgebung zeigen als in der Klasse und trotz guter kognitiver Fähigkeiten bei schulischen Leistungen versagen [21,23]. Die Beratung ist daher ein wichtiger Bestandteil der Ergotherapie und des langfristigen Umfeld- und Alltagsmanagements [24, 25]. Dabei zeigt die Therapeutin den Eltern zunächst die Verhaltensauffälligkeiten ihres Kindes im Zusammenhang mit dessen individueller Reizverarbeitung auf. Häufig ist es bei Behandlungsbeginn wichtig, irritierende Sinnesreize zu reduzieren. Für problematische Alltagsabläufe beim Zubettgehen oder beim Essen erarbeitet die Therapeutin gemeinsam mit dem Kind und den Eltern wirkungsvolle Rituale und Strategien, die auf sensorisch-integrativen Prinzipien basieren: zum Beispiel eine schwere Bettdecke oder Speisen mit eindeutiger Konsistenz und offenkundigem Geschmack.

„Ich bin jemand, der selten eine Umarmung braucht bzw. sie genießen kann. Am besten ist es, wenn sie ziemlich kurz erfolgt und relativ fest ist.“

Carsten, Erwachsener mit Asperger-Syndrom [6]

In der Behandlung kann die Therapeutin mit Bildergeschichten arbeiten, die von sozialen Situationen mit körperlicher Nähe oder Berührung erzählen [26, 27]. Hier bieten sich Themen wie „sich in einer Reihe anstellen“ oder „einen Mitschüler bei der Hand nehmen“ an. Die Therapeutin erklärt dem Kind den Hintergrund und die sozialen Regeln dieser Situationen. Daraufhin zeigt sie ihm Strategien, die solche Situationen ertragbarer oder einfacher machen, zum Beispiel das andere Kind am Handgelenk und über dem Pullover anfassen oder sich als Letzter in einer Schlange anstellen. Dadurch lernt das Kind, Situationen und soziale Erwartungen von angebrachtem/akzeptablem Verhalten zu verstehen („Fallbeispiel“).


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SI bei Kindern mit Autismus vielversprechend

Der sensorischintegrative Bezugsrahmen ist nach derzeitigem Forschungsstand vielversprechend für Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung, welche sensorische Modulationsstörungen aufweisen und dadurch Betätigungsschwierigkeiten im Alltag haben [12, 15, 28]. Durch die Sensorische Integrationstherapie nehmen die Kinder taktile Sinnesreize als weniger unangenehm wahr, ertragen auditive Sinnesreize besser und ignorieren Alltagsgerüche leichter. Viele zeigen nach der Behandlung ein der jeweiligen Situation angemesseneres Erregungsniveau mit weniger Panik oder Angstreaktionen. Das erleichtert die Abläufe der Selbstversorgung deutlich. Autismustypische Verhaltensweisen gehen zurück, was zu besseren Aufmerksamkeitsleistungen gegenüber Anforderungen führt, die an die Kinder gestellt werden. Auch die Bereitschaft, mit anderen Menschen zu interagieren, wächst. Durch das verbesserte Arbeitsverhalten und teilweise auch durch die reduzierte taktile Hyperreaktivität können sich feinmotorische Fähigkeiten entwickeln, was zu einem geschickteren Gebrauch von Alltagswerkzeugen wie Zahnbürsten oder Besteck führen kann („Fallbeispiel“).

„Manchmal würde ich auch gerne mehr essen, aber ich bin sehr sensibel im Mundbereich und auch im Geschmack, sodass mir schlecht wird, wenn ich etwas esse, was nicht gut schmeckt.“

Simon, Erwachsener mit hochfunktionalem Autismus [6]


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SI bekommt wichtigen Stellenwert

Für Kinder mit Autismus und Problemen in der sensorischen Modulation sollte der Zugang zu einer ergotherapeutischen Behandlung mit sensorisch-integra-tivem Bezugsrahmen inklusive Eltern- und Umfeldberatung in jedem Fall gewährleistet sein. Entsprechend den Prinzipien der evidenzbasierten Praxis nimmt die Beratung sowohl im häuslichen als auch im schulischen Umfeld einen wichtigen Stellenwert ein. Durch die Kompetenzerweiterung der Bezugspersonen lassen sich sowohl Umwelt und Aktivitäten an die sensorischen Bedürfnisse des Betroffenen anpassen als auch Selbstregulationsstrategien in den Alltag effektiv übertragen.

Die Betätigungsanalysen während problematischer Aktivitäten gewährleistet eine detaillierte Befunderhebung. Darüber hinaus trägt das „Sensory Profile“ oder das „Sensory Processing Measure“ dazu bei, die komplexe Wechselwirkung zwischen sensorischen Faktoren, die zu den Betätigungsproblemen beitragen, zu verstehen [30, 31 ]. Daraus entwickelt die Ergotherapeutin dann gemeinsam mit dem Kind und den Bezugspersonen konkret überprüfbare Betätigungsziele, zum Beispiel nach dem SMART-Prinzip oder der Goal Attainment Scale (GAS) [29]. Auf diese Weise kann sie durch die Therapie das Familienleben erleichtern, Lernen verbessern und die Eingliederung in das Arbeitsleben unterstützen [32]. Zudem reduziert sich der individuelle Leidensdruck bei den Betroffenen enorm, die Lebensqualität und das Wohlbefinden steigen.

FALLBEISPIEL

Julia, 4 Jahre alt, mit Autismus

Julia empfindet Berührung als sehr unangenehm. Viele Kleidungsstücke kratzen, sie isst nurJoghurt und versucht, soziale Situationen zu vermeiden, in denen andere ihr sehr nahe kommen. Die Vierjährige ist überaus ängstlich und ihr genereller Wachheitsgrad sehr hoch. Sie schläft wenig, alltägliche Aktivitäten wie Waschen und Zähneputzen können nur gegen ihren Willen von den Eltern durchgeführt werden.

In der ergotherapeutischen Einzeltherapie lag zunächst der Schwerpunkt darauf, den allgemeinen Wachheitsgrad zu senken. Dazu nutzte die Therapeutin Spielaktivitäten mit sehr intensiven propriozeptiven Reizen: am Trapez baumeln, schwere Säckchen ziehen oder Tauziehen. Außerdem achtete sie auf taktilen tiefen Druck, zum Beispiel mithilfe der „Quetschmaschine“ untereinergroßen Matratze. Nach und nach baute sie ohne Zwang taktile Reize wie die Puppe baden in den Spielfluss ein. Nach 6 Wochen machten sich erste positive Verhaltensänderungen im Alltag bemerkbar: Es gab weniger Tränen bei der Körperpflege. Nach 4 Monaten ertrug Julia Berührungen leichter, und nach 6 Monaten konnte die Mutter langsam das Ernährungsrepertoire erweitern und kindertypische Speisen mit unterschiedlichen Konsistenzen anbieten.


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