Dtsch Med Wochenschr 2012; 137(51/52): 2689-2690
DOI: 10.1055/s-0032-1327350
Weihnachtsheft
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Von Mitleid und Empathie

On pity and empathy
H. H. Goßmann
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Publication Date:
11 December 2012 (online)

Das Beispiel Parzival

Wolfram von Eschenbachs Heldenepos „Parzival“ kann uns als Beispiel dienen, wie ein Mangel an Empathie die rettende Frage zum rechten Zeitpunkt verhindern kann.

Hochgemut und voller Stolz reitet Parzival zu König Artus‘ Tafelrunde. Ritterliche Kämpfe und Abenteuer haben ihm Ruhm eingebracht, er wird herzlich empfangen. Inmitten der Festlichkeiten und Zeremonien erscheint Cundrie la Surciere, offenbar eine Botin der Gralsritter und verflucht ihn: Er habe bei seinem Besuch auf der Gralsburg des Königs Anfortas diesen nicht nach seinen Leiden gefragt, kein Mitleid gezeigt [17]: „sin not iuch sollte erbarmet han“ [15].

Das ist ein schwerer Vorwurf, ja ein vernichtendes Urteil, denn das Mitleid ist für einen Ritter des Mittelalters eine hohe Tugend, ein göttliches Gebot [7]. So sehr ihn nun die Herren – und besonders die Damen – der Tafelrunde trösten wollen „ihn trieb die Not des Jammers fort von ihnen und die courtoisie eines rechten Ritters lenkte ihn zu keuscher Demut hin und zum Erbarmen“ [[17]. Gemeint ist die Scham, die ebenfalls zu den Tugenden eines echten Hofmannes gehörte.

Der vornehme König hatte aber – wie so mancher unserer Patienten – sein Leiden nur durch Andeutungen zu erkennen gegeben. Parzival hatte diese Zeichen nicht zu deuten verstanden. Hierin liegt sein eigentliches Versagen. Erst als er durch einen Verwandten über das Schicksal des Anfortas aufgeklärt ist, kann er ihn von seinem Leiden befreien.

Parzival findet zurück zur Gralsburg und stellt dem kranken König Anfortas die erlösende Frage: „waz wirret dir?“ Peter Knecht übersetzt: „was tut dir weh?“ [17]. Dieter Kühn schreibt: „Sag, was quält dich so?“. Anfortas, der jahrelang an einer nicht heilenden Wunde gelitten hatte, wird durch diese anteilnehmende Frage geheilt (Abb.  [ 1 ]).

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Abb. 1 Bildunterschrift: „Also parcifal sogramu(r)ß vnd keyn nyder stach vnd mit gawane do vor tüse fur.“ Parzival hat Segramors besiegt und kämpft mit Keye. Aus: Wolfram von Eschenbach, Parzival (Handschrift), Hagenau, Werkstatt Diebold Lauber, um 1443–1446, Cod. Pal. Germ. 339, I. Buch, Blatt 208v (Quelle: Wikimedia Commons).
 
  • Literatur

  • 1 Balint M. Fünf Minuten pro Patient. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 1975
  • 2 Dörner K. Todliches Mitleid. Gütersloh: Jakob van Hoddis; 1988
  • 3 Forester V. Lessing und Moses Mendelsohn. Darmstadt: Lambert Schneider; 2010
  • 4 Gadamer HG. Wahrheit und Methode“. Tübingen: Mohr; 1962
  • 5 Hamburger K. Das Mitleid. Stuttgart: Klett-Cotta; 1986
  • 6 Herder JG. Briefe zur Beförderung der Humanität. Bd. 4. Leipzig: Verlag des bibliographischen Instituts;
  • 7 Huizinga J. Herbst des Mittelalters. Stuttgart: Kröner; 1975
  • 8 Jung E, von Franz ML. Die Gralslegende in psychologischer Sicht. Olten und Freiburg: Walter; 1980
  • 9 Kühn D. Der Parzival des Wolfram v. Eschenbach. Frankfurt am Main: Inselverlag; 1991
  • 10 Martin A, Drees V. Vertrackte Beziehungen. Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft; 1999
  • 11 Maurer F. Parzivals Sünde. Dtsch Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1950; 24: 304
  • 12 Nietzsche F. Von den Mitleidigen. In: Also sprach Zarathustra. Leipzig: C. G. Naumann; 1918
  • 13 Schopenhauer A. Die Welt als Wille und Vorstellung. Sämtliche Werke, Bd.1. Leipzig: Reclam;
  • 14 Von Simson OG. Über das religiöse in Wolframs Parzival. . Dtsch. Beiträge zur geistigen Überlieferung München: 1953
  • 15 Schröder FR. Parzivals Schuld. Germanisch Romanische Monatsschrift, N.F. 1959; 9: 1-20
  • 16 De Waal F. Das Prinzip Empathie. Mannheim: Carl Hanserverlag; 2009
  • 17 von Echenbach W. Parzival. . Aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt von Peter Knecht. Frankfurt: Eichborn; 1993