Sprache · Stimme · Gehör 2012; 36(01): 1
DOI: 10.1055/s-0032-1307038
Der kleine Repetitor
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Lernen durch Einsicht

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Publication Date:
21 March 2012 (online)

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Lernen ist durch kognitive Prozesse unterschiedlichen Ausmaßes gekennzeichnet. Daher können Lernarten nach diesem Aspekt unterteilt werden:

  1. Beim Assoziationslernen oder Lernen von Reizverbindungen (klassische Konditionierung; instrumentelle bzw. operante Konditionierung; s. Sprache Stimme Gehör 2010; 34: 1) steht der Lernende ohne maßgebliche Beteiligung seiner Intelligenz in einer Lernsituation.

  2. Das Lernen durch Beobachtung (auch als Imitationslernen, Lernen am Modell oder soziales Lernen bezeichnet; s. Sprache Stimme Gehör 2011; 35: 1) bildet die Brücke zum verständnis-basiertem Lernen.

  3. Deren höchste Form ist das Lernen durch Einsicht, auch Problemlösen genannt.

Beim Lernen durch Einsicht verbinden sich frühere Lernerfahrungen mit dem Erkennen von Gegebenheiten/Faktoren, die eine konkrete Problemstruktur ausmachen, und der Umstrukturierung (Umorganisation) dieser Gegebenheiten/Faktoren. Hierzu werden neue Zusammenhänge hergestellt, Ursache-Wirkungsbeziehungen überlegt, die den Lösungsweg öffnen sollen. Die Entdeckung eines neuen Problemzugangs – egal, ob er sich als richtig oder falsch erweist – wird auch als "Aha-Erleben" [Bühler K. Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. Über Gedanken. Archiv für Psychologie 1907; 9: 297–365] bezeichnet. Aha-Erlebnisse sind meistens, aber nicht zwingend, ein Erfolgsgarant zur Lösung eines Problems. Das Erkennen der Problemlösung ist die "intellektuelle Einsicht". Die Einsicht kann unterschiedlich vermittelt sein: visuell ("Einsehen" in die Problemstruktur), etwa durch Aufhebung der funktionalen Gebundenheit eines oder mehrere Objekte in einer Problemstruktur, oder sprachlich.

Einsichtiges Lernen bedeutet spontanes, unmittelbares Verstehen eines Sachverhalts, weil – anders als beim allmählich verlaufenden Assoziationslernen – kognitive Strukturen und/oder funktionale Gegebenheiten erkannt werden. So ist das Lernen durch Einsicht verständnisbasiert und damit anderen Lernarten überlegen – nicht zuletzt auch deshalb, weil es Übertragungseffekte (Transfereffekte) ermöglicht. Der Grad der Ähnlichkeit zwischen 2 Aufgaben bzw. Problemen bestimmt das Ausmaß des positiven Transfers. Lernumgebungen lassen sich so gestalten, dass Einsichten mehr oder weniger wahrscheinlich werden.

Das Konzept "Lernen durch Einsicht" wurde durch die gestaltpsychologische Schule entwickelt, die auch den Terminus "Einsicht" prägte. Als ihr bekanntester Vertreter gilt Wolfgang Köhler, der Schimpansen überschaubare Problemlösesituationen brachte und ihr Vermögen zu einsichtigem Handeln untersuchte [Köhler W. Intelligenzprüfungen an Menschenaffen. Berlin: Springer; 1921]. Aber auch bei Rabenvögeln wurde einsichtiges Lernen nachgewiesen [Heinrich B. Die Weisheit der Raben. München: List; 2001].

Fazit

Bedingungen für einsichtiges Lernen sind:

  • Der Lernende vermag eine Situation so zu überschauen, dass ihm deren Struktur und damit die Problemlösung schlagartig einsichtig werden.

  • Einsichtig Gelerntes bewirkt nicht nur eine Verhaltensänderung, sondern auch eine veränderte Denkstruktur, mit der in ähnlichen Situationen leichter gelernt wird.

  • Einsichtig Gelerntes lässt sich auf ähnliche Situationen übertragen (transferieren).

  • Einsichtig Gelerntes ist intellektuell erschlossen und verstanden.

  • "Übung" macht bei dieser Lernart nicht den Meister.

Lernen geht einher mit dem Erwerb von Informationen, die im Gedächtnis eingetragen werden: das Thema des nächsten Repetitors!

Prof. Dr. rer. nat. Christiane Kiese-Himmel, Göttingen