Dtsch Med Wochenschr 2012; 137(04): 150
DOI: 10.1055/s-0031-1298831
Korrespondenz | Correspondence
Leserbriefe
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Verursacht anthroposophische Medizin Masern-Ausbrüche?

Does anthroposophic medicine cause measles outbreaks?
G. Soldner
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Publikationsdatum:
18. Januar 2012 (online)

Zum Beitrag in DMW 44/2011

„Anthroposophische Medizin verursacht Masern-Ausbrüche“ lautet die These von E. Ernst, abgedruckt in der DMW [2]. Erstaunlich ist aus meiner Sicht, dass Ernst das aktuelle, seit Jahren verfügbare Merkblatt zum Thema Masern der zuständigen Fachgesellschaft, der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland (GAÄD), nicht zitiert (www.gaed.de; „Merkblätter“). Er würde dort Themen wie SSPE, Komplikationsrisiken von Masern, Masernimpfung und Fernreisen in arme Länder etc. sachlich und korrekt dargestellt finden.

Die von ihm zitierte schwedische Studie des Karolinska Instituts [1] zeigt nicht nur die niedrige Masern-Impfrate der untersuchten Waldorfschüler, sondern auch einen nur halb so hohen Antibiotika- und Antipyretikaverbrauch dieser Gruppe und eine Asthma- und Neurodermitisrate, die mehr als 50 % unter der Vergleichsgruppe lag. Erstmals konnte damals eine Korrelation von Lebensstil und Allergierate wissenschaftlich nachgewiesen werden. Die EU förderte die Folgestudie (PARSIFAL), u. a. unter Beteiligung von E. von Mutius, die weitere Belege in dieser Hinsicht erbrachte [3]. Auch dies sollte erwähnt werden, wenn man schon diese Studie zitiert. Auch Asthma weist eine Mortalität auf!

Von den 1191 erkrankten Kindern in Coburg entwickelte keines eine schwerwiegende Komplikation mit bleibenden Folgen; E. Ernst spricht von „28 % Komplikationen“. In Europa gab es 2011 von Januar bis Juli 26000 Masernfälle, davon 14000 Fälle in Frankreich und (bis Oktober) 1500 in Deutschland (Ärzte-Zeitung, 25.10.2011). Da weitaus die meisten Waldorfschulen sich in Deutschland befinden (226 versus 23, sehr viel kleinere französische) und die Impfstrategien in den Nachbarländern weniger freiheitlich sind als hier, können auch diese Zahlen die These von Ernst nicht belegen. Die „Konsequenz für Praxis und Klinik“ im Beitrag von E. Ernst: „Anthroposophische Schulen propagieren häufig eine Impfgegnerschaft“ hat a) nichts mit Praxis und Klinik zu tun und ist b) durch nichts belegt und belegbar.

Den Impfentscheid treffen nach deutscher Rechtslage die Eltern, nicht die Ärzte, die zu objektiver und umfassender Information verpflichtet sind. Schuleltern von Waldorfschulen und ihre Entscheidungen können deshalb nicht mit „anthroposophischer Medizin“ gleichgesetzt werden. Rechtlich wäre eine Impfpflicht gegen Masern in Deutschland (gemäß Empfehlung des 109.  Deutschen Ärztetages) nach dem Gutachten von Zuck [4] ein unverhältnismäßiger, verfassungswidriger Eingriff in Eltern- und Patientenrechte. Andererseits ist jeder Arzt verpflichtet, öffentlich empfohlene Impfungen durchzuführen, wenn sich die Eltern/der Impfling dafür entschieden haben und keine Kontraindikationen bestehen –  ob der Arzt Anthroposoph ist oder nicht. Dies ist die Position der GAÄD.

 
  • Literatur

  • 1 Alm JS, Swartz J et al. Atopy in children of families with an anthroposophic lifestyle. Lancet 1999; 353: 1485-1488
  • 2 Ernst E. Anthroposophische Medizin verursacht Masern-Ausbrüche. Dtsch med Wschr 2011; 136: 2271-2272
  • 3 Flöistrup H, Schwartz J et al. Allergic disease and sensitization in Steiner school children. J Allergy Clin Immunol 2006; 117: 59-66
  • 4 Zuck R. Gutachterliche Äußerung für die GAÄD wegen Impfbeschluss des 109. DÄT zu berufsrechtlichen Sanktionen gegenüber Ärzten. Der Merkurstab 2006; 59: 549-555