Dtsch Med Wochenschr 2010; 135(12): 569
DOI: 10.1055/s-0030-1251893
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Bedeutung des neuen Patientenverfügungsgesetzes für die klinische Praxis

Germany’s new law of patient will: relevance for clinical practiceE. Winkler1
  • 1Medizinische Klinik und Poliklinik III; Ludwig-Maximilian-Universität, München
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
16. März 2010 (online)

Die Neuregelung des Betreuungsgesetzes („Patientenverfügungsgesetz”) zum 1. 9. 2009 spiegelt – nach langem Ringen um die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen – im Grunde die bisherige Rechtsprechung wider. Durch die Rechtsverbindlichkeit stärkt es die Verfügung im klinischen Alltag deutlich. Patientenverfügungen erlauben Patienten über den Zeitpunkt der eigenen Entscheidungsfähigkeit hinaus mitzubestimmen, mit welchen lebenserhaltenden Maßnahmen sie nicht einverstanden sind. Die Nicht-Beachtung einer passgenauen oder die vorschnelle Umsetzung einer auslegungsbedürftigen Verfügung kann nun zivil- und strafrechtlich relevant werden. Um dies zu vermeiden, geben Marckmann et al. in diesem Heft Orientierung für die Anwendung des neuen Patientenverfügungsgesetzes in der Praxis. Dabei sind drei Themen in Zukunft wichtig, gerade weil sie im Gesetz nicht geregelt sind: Die ärztliche Beratung für die Passgenauigkeit von Verfügungen, die Rolle der Angehörigen und die Vorsicht bei der Verwendung der (fehlenden) medizinischen Indikation als Argument für eine Therapiebegrenzung.

Im Zentrum der Diskussion um die Verbindlichkeit der Verfügungen stand die Sorge, dass Patienten eine für sie nützliche oder lebensrettende Behandlung aus den „falschen” Gründen ablehnen, z. B. aufgrund mangelnder Information oder fehlendem medizinischen Verständnisses. Marckmann et al. diskutieren die Intensität, mit der man einen entscheidungsfähigen Patienten von der Nützlichkeit einer von ihm abgelehnten Maßnahme überzeugen soll. Dies macht deutlich, wie problematisch die Situationen sein können, in denen der vorausverfügte Wille auf die Situation zutrifft, aber die Qualitätsmerkmale vermissen lässt, die hier für eine „wohlüberlegte, durch klare Präferenzen begründete” Entscheidung zur Therapieverweigerung genannt werden. Eine ärztliche Beratung beim Abfassen von Patientenverfügungen ist wichtig, um entscheidungsrelevante medizinische Informationen zu liefern, unbegründete Ängste auszuräumen und eine klinische Depression, die bei Patienten mit unheilbaren Erkrankungen häufig nicht erkannt wird, zu behandeln. Sie kann verhindern, dass eine Verfügung zu einer Gefahr für den Patienten wird und trägt zur Passgenauigkeit der Verfügung bei – gerade bei absehbaren Krankheitsverläufen. Auch wenn die ärztliche Beratungspflicht nicht gesetztlich festgeschrieben wurde, sollten wir sie als eine originär ärztliche Aufgabe ernst nehmen. Nach einer Untersuchung erwarten zwei Drittel der befragten Patienten in Deutschland, dass ihr Arzt das Thema Patientenverfügungen aufgreift. Die Mehrheit der Ärzte war jedoch bereit, diese Aufgabe an Angehörige, Sozialdienst oder Seelsorge zu delegieren [3]. Idealerweise sollte die ärztliche Beratung schon in der hausärztlichen Versorgung ansetzen. Dafür muss die Beratung im Leistungskatalog abbildbar sein. Wenn sich der behandelnde Arzt der Passgenauigkeit der Patientenverfügung nicht sicher ist, sieht das Gesetz vor, dass er mit dem Stellvertreter des Patienten und den „nahen Angehörigen und sonstiger Vertrauenspersonen des Betreuten” den Patientenwillen ermittelt. Dieser § 1901b ist eingefügt worden, um sicherzustellen, dass in uneindeutigen Entscheidungssituationen alle wesentlichen Informationen zum Patientenwillen zusammengetragen werden. Marckmann et al. stellen hier ein abgestuftes Vorgehen vor, das bei der Ermittlung des Patientenwillens hilfreich ist. Das Gesetz und Marckmann et al. geben wenig Orientierung für den Umgang mit Angehörigen. Deren Rolle wird bei der Ermittlung und Auslegung des Patientenwillens und in der Rolle des Vorsorgebevollmächtigten an Bedeutung gewinnen. Bislang gebrauchen nur 10 % der Menschen in Deutschland eine Patientenverfügung, 52 % sprechen sich dagegen aus, so dass die Vorsorgevollmacht eine sinnvolle Alternative ist [2]. Das ist einerseits sehr begrüßenswert, da sich die meisten Patienten bei Entscheidungsunfähigkeit wünscht, dass ihre Angehörigen und die Ärzte gemeinsam über die Behandlung entscheiden [3]. Andererseits zeigen erste Studienergebnisse, dass dies Angehörige nachhaltig traumatisieren kann und wir noch wenig darüber wissen, wie dieser Prozess optimal gestaltet werden kann [1].

Eine Neuerung im Gesetz ist, dass die medizinische Indikation der Ermittlung des Patientenwillens zumindest numerisch vorangestellt ist. Medizinisch indiziert ist eine Behandlung, wenn sie dem Patienten nutzt und er ihr zustimmt. Die Unterscheidung zwischen Nutzen und Wirksamkeit einer medizinischen Maßnahme von Marckmann et al. ist wichtig und wird in der Praxis häufig nicht unternommen: Ob eine Maßnahme im Hinblick auf ein Behandlungsziel wirksam ist, kann der Arzt beurteilen. Ob das Behandlungsziel für den Patienten einen Nutzen hat, bedarf einer Bewertung, die der Arzt nicht ohne die Wertmaßstäbe des Patienten vornehmen kann. Hier greifen Indikationsstellung und Patientenwille ineinander: Nur bei wirkungslosen Maßnahmen werden wir ohne Kenntnis des Patientenwillens sicher sagen können, dass sie nicht indiziert sind. Will man angesichts der nun geklärten Rechtslage eine gute Balance zwischen Selbstbestimmung und Lebensschutz erreichen, sind eine ärztliche Beratung, Gütekriterien für das Abfassen von Verfügungen und eine professionelle Kommunikation über Fragen der Therapiebegrenzung zwischen Arzt, Patient und Angehörigen vordringlich.

Literatur

  • 1 Azoulay E. et al . Am J Respir Crit Care Med. 2005;  171 987-994
  • 2 Lang F R, Wagner G G. Dtsch Med Wochenschr. 2007;  132 2558-2562
  • 3 Sahm S, Will R, Hommel G. Support Care Cancer. 2005;  13 206-214

Dr. Eva Winkler

Medizinische Klinik und Poliklinik III
Arbeitsgruppe „Klinische Ethik”
Ludwig-Maximilian-Universität, Campus Großhadern

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81377 München

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