Dtsch Med Wochenschr 2025; 150(09): 463-464
DOI: 10.1055/a-2360-2794
Editorial

Multimorbidität – nur gemeinsam lösbar

Multimorbidity – only solvable together
Maria Cristina Polidori
,
Michael Denkinger

Multimorbidität, definiert als das gleichzeitige Vorhandensein von 2 oder mehr chronischen Erkrankungen, nimmt mit steigendem Lebensalter deutlich zu. Bereits zwischen dem 65. und 74. Lebensjahr sind je nach Studie über 60% der Menschen von mindestens 2 chronischen Krankheiten betroffen; bei den über 85-Jährigen liegt die Rate bei über 80% [1]. Bei Hochbetagten (≥80 Jahre) ist Multimorbidität sogar häufiger als jede einzelne Erkrankung für sich genommen [2]. Multimorbide Patient*innen verursachen höhere Behandlungskosten und eine intensivere Nutzung der Systeme. So nimmt etwa die jährliche Hospitalisierungsrate mit jeder zusätzlichen Erkrankung exponentiell zu – von nur ~4% bei Personen ohne oder mit nur einer chronischen Erkrankung bis über 60% bei Patient*innen mit 6 oder mehr Erkrankungen [3]. Besonders hohe Behandlungskosten zeigen dabei Kombinationen schwerwiegender Erkrankungen (z.B. Krebs zusammen mit psychischen Erkrankungen) [4].

Ein zentrales Problem bei bestehender Multimorbidität ist die Polypharmazie. Diese ist dadurch bedingt, dass klinische Leitlinien krankheitsspezifisch ausgerichtet sind und bei strikter Anwendung bei einem Patienten mit mehreren Erkrankungen zwangsläufig eine Vielzahl von Medikamenten verordnet wird. Dies erhöht das Risiko für Arzneimittel-Wechselwirkungen und Nebenwirkungen, welche gerade bei gebrechlichen oder kognitiv eingeschränkten Älteren besonders ausgeprägt sein können [3]. Die meisten evidenzbasierten Therapie-Empfehlungen stammen aus Studien, die multimorbide Hochaltrige ausgeschlossen haben, sodass ihre Übertragbarkeit auf diese Patientengruppe begrenzt ist, wie Affeldt et al. für die Nephrologie beispielhaft aufzeigen [5].

Auch nicht geriatrische Multimorbiditätssituationen verdeutlichen die Herausforderungen für die Behandlung: Ein Beispiel ist das Polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS) bei jüngeren Frauen, das durch komplexe endokrinologische Dysfunktionen gekennzeichnet ist und die geriatrischen Herausforderungen bereits in das mittlere Lebensalter transformiert, wie Arjune et al. darlegen [6]. PCOS kann hier als Beispiel-Erkrankung für das Verständnis der komplexen pathophysiologischen Zusammenhänge zwischen den beteiligten Systemen dienen.

Um dem Verständnis von Multimorbidität gerecht zu werden, ist ein umfassendes geriatrisches Assessment notwendig, welches neben den Erkrankungen auch deren Auswirkungen auf körperliche, kognitive und psychosoziale Funktionen in ihrer Gesamtheit berücksichtigt, um eine ganzheitliche und effektive Therapie zu erreichen [7]. Dieses patientenzentrierte Vorgehen rückt die Behandlungsziele des einzelnen Patienten in den Vordergrund: Was ist dem älteren Menschen am wichtigsten – Lebensverlängerung, Erhalt der Selbständigkeit, Schmerzfreiheit, Mobilität? Während die Vorgehensweise organspezifischer Fachgebiete mehr auf lebensrettende und technologiegestützte Verfahren fokussiert, arbeitet die Geriatrie eher symptombezogen, rehabilitativ und multidisziplinär. So weisen etwa die S3-Leitlinie Multimorbidität oder die Leitlinie des NICE-Instituts (National Institute for Health and Care Excellence, Großbritannien) darauf hin, dass bestimmten, komplex oder vulnerabel erkrankten älteren Personen ein maßgeschneiderter Behandlungsplan angeboten werden soll, der ihre multiple Krankheitslage explizit berücksichtigt [8] [9].

Um bei der Erforschung der Auswirkungen, Prognosen und Behandlungsoptionen bei Multimorbidität voranzukommen, wird in den letzten Jahren insbesondere die systematische Untersuchung häufiger Krankheitskombinationen (Cluster) und deren Verläufe empfohlen [10] [11]. Trotz unterschiedlicher Disziplinkulturen zeigen die 3 diesbezüglichen Artikel in diesem Heft deutlich, dass eine interdisziplinäre Zusammenarbeit – mit Integration der Kardiologie, Nephrologie, Endokrinologie und Geriatrie – große Chancen bietet, um älteren Patient*innen mit unterschiedlichen Erkrankungskombinationen gemeinsam gerecht zu werden.



Publication History

Article published online:
08 April 2025

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  • Literatur

  • 1 Salive ME. Multimorbidity in Older Adults. Epidemiologic Reviews 2013; 35 (01) 75-83
  • 2 Gosch M, Pauschinger M, Deneke T. Kardiovaskuläre Erkrankungen und Multimorbidität. Dtsch Med Wochenschr 2025; 150 (10)
  • 3 Yarnall AJ, Sayer AA, Clegg A. et al. New horizons in multimorbidity in older adults. Age and Ageing 2017; 46 (06) 882-888
  • 4 Tran PB, Kazibwe J, Nikolaidis GF. et al. Costs of multimorbidity: a systematic review and meta-analyses. BMC Med 2022; 20: 234
  • 5 Affeldt AM, Pickert L, Benzing T. et al. Multimorbidität und Niere. Dtsch Med Wochenschr 2025; 150 (10)
  • 6 Arjune S, Bollheimer C, Hanßen R. Multimorbidität bei endokrinologischen Erkrankungen: Klinische Implikationen des PCOS. Dtsch Med Wochenschr 2025; 150 (10)
  • 7 Deutsche Gesellschaft für Geriatrie e.V. (DGG). S3-Leitlinie „Umfassendes Geriatrisches Assessment (Comprehensive Geriatric Assessment, CGA) bei hospitalisierten Patientinnen und Patienten“. Langversion 1.1, 2024. AWMF-Registernummer: 084–003. Accessed March 07, 2025 at: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/084–003
  • 8 Scherer M, Wagner HO, Lühmann D. et al. S3-Leitlinie Multimorbidität. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM). 2024
  • 9 Kernick D, Chew-Graham CA, O’Flynn N. Clinical assessment and management of multimorbidity: NICE guideline. Br J Gen Pract 2017; 67 (658) 235-236
  • 10 NIHR Evidence; Multiple long-term conditions (multimorbidity): making sense of the evidence. 2021
  • 11 Kumlehn B, Ragazzoni L, Denkinger M. Multimorbidität im Versorgungsalltag – Definitionen, Strategien und Grenzen. Dtsch Med Wochenschr 2022; 147 (22) 1443-1449