Dtsch Med Wochenschr 2024; 149(14): 846-853
DOI: 10.1055/a-2302-8919
Standpunkt

Ethik der künstlichen Intelligenz in der Medizin

Ethics of AI in medicine
Giovanni Maio

Zusammenfassung

Die künstliche Intelligenz (KI) hält zunehmend Einzug in die Medizin, und es ist noch nicht absehbar, wie sie die Praxis der Medizin und auch das Selbstverständnis der Ärztinnen und Ärzte verändern wird. In dem Beitrag werden die ethischen Grenzen der KI erarbeitet, indem (1.) der in der KI schon enthaltende Reduktionismus des Zugangs auf die Welt erörtert wird, (2.) die problematischen Implikationen einer Algorithmisierung herausgearbeitet werden und (3.) die mangelnde menschliche Kontrolle als ethische Grenze markiert wird. Als Schlussfolgerung ergibt sich daraus, dass die KI zwar ein nützliches Werkzeug zur Unterstützung ärztlicher Beurteilung darstellt, dass sie aber unabdingbar auf menschliche Entscheidungshoheit angewiesen ist, um sich tatsächlich als segensreich für die Medizin zu erweisen.

Die Künstliche Intelligenz (KI) hält zunehmend Einzug in die Medizin – noch ist es nicht absehbar, wie sie die Praxis der Medizin und auch das Selbstverständnis der Ärztinnen und Ärzte verändern wird. Dieser Beitrag erarbeitet die ethischen Grenzen der KI und erörtert, warum KI zwar die ärztliche Beurteilung unterstützen kann, eine gute Medizin aber unabdingbar auf die menschliche Entscheidungshoheit angewiesen ist.

Abstract

Artificial intelligence (AI) is increasingly finding its way into medicine, and it is not yet clear how it will change the practice of medicine and the way doctors see themselves. This article explores the ethical limits of AI by (1) discussing the reductionistic elements inherent in AI, (2) working out the problematic implications of algorithmisation and (3) highlighting the lack of human control as an ethical problem of AI. The conclusion is that although AI is a useful tool to support medical judgement, it is absolutely dependent on human decision-making authority in order to actually prove beneficial for medicine.

Kernaussagen
  • Mit KI wird die Vorstellung verbunden, dass man zur Lösung von Problemen einfach nur mehr Daten und ein ausgeklügeltes Berechnungssystem bräuchte. So könnten alle Aufgaben des Lebens auf berechnendem Wege bewältigt werden.

  • Der Glaube daran, dass die KI alle Probleme lösen könne, ist verknüpft mit einem reduktionistischen Verständnis von Wissen. Dabei wird Wissen illegitimerweise auf das Anhäufen von Informationen reduziert.

  • Bei der Anwendung von KI wird übersehen, dass die erhobenen Daten zwangsläufig etwas Ausschnitthaftes haben und man daher mehr braucht als Daten, um die Wirklichkeit zu erfassen.

  • Dem Algorithmus blind zu folgen, wäre eine Missachtung der ärztlichen Verantwortung. Denn erst die ärztliche Plausibilitätsprüfung macht aus der Rechenleistung des Computers eine dem Patienten dienliche Leistung, indem der Arzt eine Überblicksverantwortung übernimmt.

  • Die KI kann Ärztinnen und Ärzten bestimmte Dinge abnehmen und Teilfunktionen dadurch übernehmen, dass sie eine Entscheidungsstütze bietet. Die ärztliche Entscheidung selbst erfordert aber mehr als KI: Sie erfordert ärztliches Beurteilungsvermögen, das durch die KI nicht obsolet, sondern wichtiger denn je wird.



Publication History

Article published online:
01 July 2024

© 2024. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
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