CC BY-NC-ND 4.0 · Dtsch Med Wochenschr 2023; 148(08): e37-e43
DOI: 10.1055/a-1996-3603
Originalarbeit

Diagnoseverzögernde Faktoren bei hepatischer alveolärer Echinokokkose

Diagnostic delaying factors in hepatic alveolar echinococcosis
Natalie Joos
1   Zentraler Ultraschall, Klinik für Innere Medizin I, Universitätsklinikum Ulm,
,
Julian Schmidberger
1   Zentraler Ultraschall, Klinik für Innere Medizin I, Universitätsklinikum Ulm,
,
Patrycja Schlingeloff
1   Zentraler Ultraschall, Klinik für Innere Medizin I, Universitätsklinikum Ulm,
,
Wolfgang Kratzer
1   Zentraler Ultraschall, Klinik für Innere Medizin I, Universitätsklinikum Ulm,
› Author Affiliations
Supported by: Deutsche Forschungsgemeinschaft KA 4356/3-1
Supported by: Deutsche Forschungsgemeinschaft KR 5204/1-2
Diese Arbeit wurde durch die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekte "Aufbau einer nationalen Datenbank für die alveoläre Echinokokkose" (Az. KA 4356/3-1) und "Implementierung von Schnittstellen zur Standardisierung nationaler Datenbanksysteme für die alveoläre Echinokokkose und ihre Transformationsprozesse" (Az. KR 5204/1-2) unterstützt. Es wurde außerdem von der Bayerischen Staatsregierung im Rahmen der Förderung der "Nationalen Echinokokkose-Datenbank Deutschland" (AZ: K1-2490-PF-2020-FBW) unterstützt.
 

Zusammenfassung

Einleitung Ziel der Studie war die Analyse des diagnostischen Workflows von Patienten mit alveolärer Echinokokkose (AE) und die Identifikation möglicher diagnoseverzögernder Faktoren.

Methoden Untersucht wurden die Anzahl und Art der diagnostischen Prozeduren von Patienten mit der Diagnose einer alveolären Echinokokkose. Die Erfassung der Krankheitsvorgeschichte erfolgte auf Fragebogen-Basis, den vorliegenden Befunden sowie Datenergänzungen aus dem Patienteninformationssystem (SAP). Die statistischen Analysen wurden mit der SAS-Version 9.4 und der Microsoft-Excel Version-16.43 durchgeführt. Das Studienkollektiv der Querschnittstudie umfasste n = 109 Patienten mit einer bestätigten alveolären Echinokokkose.

Ergebnisse Die definitive Diagnose ‚alveoläre Echinokokkose der Leber‘ wurde nach 26,5 ± 65,0 (Mittelwert ± Standardabweichung) Monaten (min – max: 0–344, Median = 3) gestellt. Die Mehrzahl der Patienten wurde wegen eines bildgebenden Zufallsbefundes der Leber diagnostisch abgeklärt (n = 74/109 (67,9%). Insgesamt n = 56/74 (75,7%) aller Zufallsbefunde wurden ambulant, in n = 15/74 (20,3%) der Fälle im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthaltes diagnostiziert. Im Mittel wurde für jeden Patienten 1,1 ± 1,2 (0–11, Median = 1) ionisierende Bildgebungsverfahren eingesetzt. Eine kontrastmittelgestützte Sonografie erhielten 0,3 ± 0,5 (0–2, Median = 0) Patienten. Fast alle Patienten (n = 104/109 (95,4%) wurden zeitweise mit mindestens einer malignen hepatischen oder extrahepatischen Verdachtsdiagnose konfrontiert. Ein Ausschluss des Malignomverdachts erfolgte im Mittel nach 4,1 ± 16,5 Monaten (0 –133,8, Median = 1).

Diskussion Der diagnostische Abklärungsprozess von AE-Patienten ist langwierig und belastend. Die psychische Belastung bei fraglicher maligner Diagnose ist erheblich. Der frühe Einsatz einer kontrastverstärkten Sonografie und gegebenenfalls die Punktion unklarer hepatischer Raumforderungen hilft, den schwierigen Diagnoseprozess zu verkürzen.


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Abstract

Purpose The purpose of this study was to analyze the diagnostic workflow of patients with alveolar echinococcosis (AE) and to identify possible diagnosis-delaying factors.

Methods The number and type of diagnostic procedures of patients diagnosed with alveolar echinococcosis were investigated. The disease history was recorded on the basis of questionnaires, the available findings, and data supplements from the hospital information system (SAP). Statistical analyses were performed using SAS version 9.4 and Microsoft Excel version 16.43. The study population of the cross-sectional study included n = 109 patients with confirmed alveolar echinococcosis.

Results The definitive diagnosis of alveolar echinococcosis of the liver was made at 26.5 ± 65.0 (mean ± standard deviation) months (min – max: 0 – 344, median = 3). The majority of patients were diagnosed because of incidental imaging findings of the liver (n = 74/109 (67.9%)). A total of n = 56/74 (75.7%) of all incidental findings were diagnosed in an outpatient setting, while n = 15/74 (20.3%) of cases were diagnosed during inpatient hospitalization. On average, 1.1 ± 1.2 (0–11, median = 1) ionizing imaging modalities were used for each patient. Contrast-enhanced sonography was received by 0.3 ± 0.5 (0–2, median = 0) patients. Almost all patients (n = 104/109 (95.4%) had at least one suspected hepatic or extrahepatic malignancy at some time. Exclusion of suspected malignancy occurred at a mean of 4.1 ± 16.5 months (0 –133.8, median = 1).

Conclusions The diagnostic clarification process of AE patients is lengthy and stressful. The psychological burden of a questionable malignant diagnosis is considerable. Early use of contrast-enhanced sonography and, if necessary, puncture of unclear hepatic masses helps to shorten the difficult diagnostic process.


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Einleitung

Die alveoläre Echinokokkose ist eine seltene, potenziell tödliche Zoonose [1]. Süddeutschland zählt zu den Hochendemiegebieten in Deutschland [2] [3]. Seit einigen Jahren beobachtet man die geographisch-parasitäre Expansion des Hauptvektors Rotfuchs (Vulpes vulpes) in Deutschland, wie auch den zeitlich versetzten Anstieg humaner Manifestationsfälle [4]. Insbesondere der Risikofaktor Hundehaltung scheint für die Übertragung auf den Menschen zunehmend an Bedeutung zu gewinnen [5]. Mit einer langen asymptomatischen Latenz von 5–20 Jahren manifestiert sich die alveoläre Echinokokkose (AE) in humanen Fehlzwischenwirten meist als hepatischer Tumor, mit unterschiedlichen Manifestationsformen und hohem differenzialdiagnostischem Verwechslungspotential [6] [7] [8]. Bei frühzeitiger Diagnose stellt die chirurgische Resektion der Leberläsionen die Methode der Wahl dar, in fortgeschrittenen, nicht operablen Stadien wird dem weiteren Wachstum der parasitären hepatischen Läsionen mit Benzimidazolen entgegengewirkt [1]. Derzeit sind Benzimidazole (BMZ) die einzigen verfügbaren Medikamente zur Behandlung einer AE. Es bleibt zu berücksichtigen, dass Benzimidazole lediglich eine parasitostatische Wirkung haben [1] [9].

In den letzten Jahren hat die bildgebende Diagnostik zunehmend gegenüber der serologischen Diagnostik bei AE an Bedeutung gewonnen [7] [10] [11]. Im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen oder Oberbauchsonografien wegen anderen Beschwerden werden vermehrt Leberraumforderungen als Zufallsbefund detektiert. Diese bleiben eine differenzialdiagnostische Herausforderung und initiieren oft eine weitere umfangreiche Diagnostik [7] [12] [13]. Aufgrund der schwierigen und verzögerten Diagnosestellung einer AE können Patienten von Krankheitsprogression, inoperablen Erkrankungsstadien, verzögerter Therapieeinleitung, sowie Auftreten von Komplikationen und vermehrter Strahlenbelastung betroffen sein [8]. Neben den somatischen Befunden stellen die Diagnose AE und der diagnostische Abklärungsprozess für die Patienten eine erhebliche psychische Belastung dar [8] [14] [15]

Ziel dieser Querschnittsstudie war die Analyse des diagnostischen Workflows von Patienten mit Verdacht auf eine alveoläre Echinokokkose bzw. Patienten mit bestätigter alveolärer Echinokokkose sowie die Identifikation möglicher diagnoseverzögernder Faktoren.


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Patienten und Methoden

Einschluss- und Ausschlusskriterien

Patienten mit den von Brunetti et al. definierten WHO-Falldefinitionen „probable“ (AE-kompatible Bildgebung und positive Serologie) oder „confirmed“ (AE-kompatible Bildgebung und positive Serologie und pathologischer oder mikrobiologischer parasitärer Direktnachweis anhand entnommenem Gewebematerial) wurden eingeschlossen [16]. Patienten mit der Falldefinition „possible“ (positive Serologie oder AE-kompatible Bildgebung) wurden ebenso wie Patienten mit nicht rekonstruierbarer Datenabdeckung des Studienzeitraums ausgeschlossen. Die Datenerhebung fand von Juni 2019 bis Juli 2019 statt.


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Selektion der Studienkohorte

Die vorliegende Querschnittstudie setzt sich aus einem Patientenkollektiv der Nationalen Echinokokkose-Datenbank für Fuchsbandwurmerkrankung zusammen (1992–2018, n = 622) [3]. Das nationale Erkrankungsregister wurde im Rahmen eines durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes etabliert [3]. Die Aufnahme der Patienten in das Erkrankungsregister erfolgte auf freiwilliger Basis. Nach Ausschluss ungeeigneter Patientenfälle umfasste die vorläufige Studienkohorte n = 223 Patienten. Die Rücklaufquote des an diese Patienten versandten Fragebogens betrug 51,1% (n = 114). Insgesamt n = 5 Fragebögen wurden aufgrund der hohen Anzahl analyselimitierender fehlender Werte von der Studie ausgeschlossen. Somit umfasste die Studienkohorte final n = 109 Studienteilnehmer.


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Ethische Aspekte

Von der örtlichen Ethikkommission der Universität Ulm liegt für die vorliegende Studie im Rahmen von Registerstudien der Nationalen Echinokokkose-Datenbank für Fuchsbandwurmerkrankung ein positives Votum entsprechend der Deklaration von Helsinki vor (Ref. Nr. 440/15). Die Aufnahme der Daten in das nationale Erkrankungsregister erfolgte auf freiwilliger Basis, alle Studienteilnehmer gaben ihre schriftliche Einwilligung.


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Fragebogen

Der Fragebogen wurde im interdisziplinären Team nach Erfahrungswerten und derzeit gegebener wissenschaftlicher Evidenzlage von Mitgliedern der Arbeitsgruppe für Echinokokkose entwickelt. Der hieraus entwickelte Fragebogen wurde initial an gesunden Probanden im Hinblick auf orthographische Schwierigkeiten und Verständnisprobleme getestet. Der pseudonymisierte Fragebogen setzt sich dabei aus 9 übergeordneten Kategorien mit weiterer Unterteilung in jeweils untergeordnete Kategorien zusammen. Diese decken detailliert verschiedene Aspekte des diagnostischen Abklärungszeitraumes vor Diagnosestellung ab. Antworten konnten entweder als single oder multiple choice, als Freitext oder als Kombination aus beidem getätigt werden. Nach umfangreicher Datenextraktion und Datenergänzung aus der klinikinternen Patientenakte wurde jedem patientenspezifischen Daten-Item eine Zahl zugeordnet („Codierung“). Anschließend erfolgte die tabellarische, kategoriegestützte Systematisierung dieser Daten-Items in Anlehnung an die thematische Struktur des Fragebogens. Für die statistische Auswertung der Daten im Rahmen der Studie wurde der Datensatz entsprechend anonymisiert.


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Statistische Analyse

Die statistische Auswertung erfolgte mit der SAS-Version 9.4, die grafische Darstellung mit der Microsoft-Excel-Version 16.43. Berechnet wurden, neben absoluten und relativen Häufigkeiten, Mittelwerte, der Median sowie Minimal- und Maximalwerte. Patientinnen und Patienten mit einer hohen Anzahl analyselimitierender fehlender Werte im Fragebogen wurden entsprechend den Ein- und Ausschlusskriterien komplett aus der Analyse ausgeschlossen.


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Ergebnisse

Charakterisierung der Studienkohorte

An der Studie nahmen n = 69/109 (63,3%) Frauen und n = 40/109 (36,7%) Männer teil. Das mittlere, geschlechterunabhängige Alter bei Erstdiagnose einer AE betrug 56,5 ± 16,7 Jahre (Mittelwert ± Standardabweichung). N = 40/109 (36,7%) Patienten wiesen bei Studieneinschluss die WHO-Falldiagnose „probable“, n = 69/109 (63,3%) die Falldiagnose „confirmed“ auf. Mit n = 74/109 (67,9%) war der Hauptteil zu Beginn mit einem Zufallsbefund konfrontiert, n = 37/109 (33,9%) wiesen neu aufgetretene, körperliche Symptome auf.


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Der initiale Zufallsbefund (ZB)

N = 56/74 (75,7%) aller initialen ZB wurden im ambulanten ärztlichen Rahmen erhoben, der Hauptteil davon bei Hausärzten (n = 40/56, 71,4%). Bei n = 15/74 (20,3%) Studienteilnehmern fand die Entdeckung eines ZB im klinischen Umfeld eines Krankenhauses statt (Ambulanz, Station), ([Abb. 1]a). Ein ZB wurde am häufigsten in der Bildgebung (n = 44/74, 59,5%) erhoben, hierbei dominierte der sonografische Anteil mit n = 31/44 (70,5%). N = 10/44 (22,7%) fielen erstmals CT-grafisch und n = 3/44 (6,8%) initial MR-grafisch auf.

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Abb. 1 (a) Ärztlicher Rahmen bei Erhebung eines Zufallsbefundes (n ges = 74); (b) Spektrum und Häufigkeit der diagnostischen Modalitäten bei Erhebung eines Zufallsbefundes.

Der zweithäufigste ZB zeigte sich bei laborchemischer Analyse in Form veränderter Blutwerte (n = 24/74, 32,4%), wobei pro Patient teilweise Abweichungen mehrerer laborchemischer Teilbereiche gleichzeitig vorlagen: Insgesamt 22 Patienten zeigten erhöhte Leberwerte, davon n = 2 (9,1%) eine Transaminasen-Erhöhung, n = 9 (40,1%) eine GGT-Erhöhung (davon lag bei n= 1 eine gleichzeitige AP-Erhöhung vor), beim überwiegenden Anteil von n = 13 Studienteilnehmern (59,1%) konnten bei der retrospektiven Datenerhebung jedoch die von der Norm abweichenden Leberwerte nicht genauer präzisiert werden. Eine Person (4,2%) wies zusätzlich zu erhöhten Leberwerten eine gleichzeitige CRP-Erhöhung auf. Bei n = 2 Patienten lag allerdings eine laborchemische Abweichung als initialer ZB vor.

Anderweitige Zufallsbefunde spielten zahlenmäßig keine Rolle – so konnte bei operativer Einsicht in den Situs mit anderweitig zugrunde liegender Indikation (n = 3/74, 4,1%), bei einer Gastroskopie (n = 1/74, 1,4%) sowie der körperlichen Untersuchung (n = 1/74, 1,4%) ein ZB gestellt werden ([Abb. 1]b).


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Die diagnostische Abklärungsphase

Am häufigsten wurden im Mittel 4,4 ± 3,9 Blutprobenanalysen pro Patient (p. P.) (min–max: 0–23, Median = 3) durchgeführt. Das zweithäufigste Diagnostikum umfasste durchschnittlich 2,1 ± 2,3 sonografische Abklärungen p. P. (min–max: 0–15, Median = 2). Bildgebend fand ein CT im Durchschnitt 0,9 ± 0,9-mal p. P. (min–max: 0–5, Median = 1) statt, eine kontrastmittelgestützte Sonografie (CEUS) hingegen 0,3 ± 0,5-mal p. P. (min–max: 0–2, Median = 0) und ein MRT wurde durchschnittlich 0,5 ± 0,8-mal p. P. (min-max: 0–4, Median = 0) zur weiteren Abklärung durchgeführt. An dritthäufigster Stelle erhielten unsere Studienteilnehmer durchschnittlich 1,2 ± 1,1 körperliche Untersuchungen (min–max: 0–6, Median = 1). Die restlichen Diagnostiken sind hinsichtlich ihrer durchschnittlichen Häufigkeit in [Tab. 1] aufgeführt.

Tab. 1 Durchschnittliche Anzahl durchgeführter Untersuchungsmodalitäten mit Standardabweichungen (SD), Median, Minimal- und Maximalwert (min–max).

Untersuchungsmodalität

Mittelwert ± SD

Median (min–max)

MRT: Magnetresonanztomografie; CT: Computertomografie; CEUS: Contrast-Enhanced-Ultrasonography; FDG-PET-CT: F-18-Fluorodesoxyglukose-Positronen-Emissions-Tomografie

Körperliche Untersuchung

1,2 ± 1,1

1 (0–6)

Sonografie

2,1 ± 2,3

2 (0–15)

MRT

0,5 ± 0,8

0 (0–4)

CT

0,9 ± 0,9

1 (0–5)

Endoskopie

0,5 ± 0,7

0 (0–4)

Bronchoskopie

0,0 ± 0,2

0 (0–1)

Laparoskopie

0,1 ± 0,3

0 (0–1)

Labor

4,4 ± 4,0

3 (0–23)

Liquorpunktion

0,0 ± 0,1

0 (0–1)

Biopsie

0,6 ± 1,0

0 (0–7)

CEUS

0,3 ± 0,5

0 (0–2)

Mammografie

0,1 ± 0,2

0 (0–1)

Röntgen

0,3 ± 0,7

0 (0–6)

Hepatobiliäre Sequenz-Szintigrafie

0,0 ± 0,1

0 (0–1)

Endosonografie

0,0 ± 0,3

0 (0–2)

FDG-PET-CT

0,1 ± 0,2

0 (0–1)

Im Durchschnitt durchlief jeder Studienteilnehmer modalitätsübergreifend eine absolute Anzahl von 11,3 ± 8,2 (min–max: 0–56, Median = 10) diagnostische Prozeduren im gesamten Zeitraum der Abklärungsphase bis zur finalen Diagnose einer AE. Hierbei sah sich jeder Patient mit durchschnittlich 1,1 ± 1,2 (min–max: 0–11, Median = 1) strahlenemittierender bildgebender Diagnostik (CT, FDG-PET-CT, Röntgen, Mammografie) konfrontiert.

Im Folgenden wurden Untersuchungen, die während der diagnostischen Abklärungsphase eher weniger herangezogen wurden, weiter betrachtet: [Abb. 2] beschreibt die absoluten und relativen Häufigkeiten in der Studienkohorte, mit der ein CT, MRT, CEUS und eine Biopsie unklarer Läsionen zur weiteren Abklärung eingesetzt wurden, speziell, wie häufig die bildgebende Untersuchung nicht, einmal oder häufiger als einmal eingesetzt wurde. Dabei ergab sich für risikoarme und strahlenfreie Bildgebungen wie MRT und CEUS lediglich eine geringe Inanspruchnahme.

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Abb. 2 Absolute [n] und relative Häufigkeiten [%] durchgeführter diagnostischer Untersuchungen während der Abklärungsphase (n ges = 109).

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Differential-, Verdachts- und Fehldiagnosen

N = 105/109 (96,3%) der Patienten erhielten mindestens eine benigne hepatische Differenzialdiagnose und n = 104/109 (95,4%) mindestens eine maligne hepatische Differential- und/oder maligne extrahepatische Verdachts- bzw. Fehldiagnose. [Abb. 3]a und 3b geben einen Überblick über die häufigsten benignen und malignen Verdachtsdiagnosen. Die überwiegende Mehrheit von n = 104/109 Patienten (95,4%) sah sich während des diagnostischen Abklärungsprozesses mit mindestens n = 1 hepatischen und/oder extrahepatischen malignen Differenzial-, Verdachts- oder Fehldiagnose konfrontiert. Der Zeitraum in Ungewissheit einer solchen möglichen malignen Erkrankung bis zur korrekten Diagnose einer AE umfasste im Mittel 4,1 ± 16,5 Monate (min–max: 0 –133,8 Monate p. P., Median = 1).

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Abb. 3 (a) Spektrum und Häufigkeit benigner Differenzialdiagnosen während der diagnostischen Abklärungsphase; (b) Spektrum und Häufigkeit maligner Differenzial-, Verdachts- und Fehldiagnosen während der Abklärungsphase.

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Die finale Diagnose einer alveolären Echinokokkose

Die Dauer zwischen dem Zufallsbefund bzw. dem Auftreten neuer, körperlicher Symptome bis zur finalen Diagnose einer AE betrug durchschnittlich 26,5 ± 65,0 Monate (min–max: 0–344 Monate p. P., Median = 3).


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Diskussion

Die alveoläre Echinokokkose birgt trotz wachsendem Erkenntnisgewinn der letzten Jahrzehnte fortwährend umfassende diagnostische Herausforderungen [1] [8]. Allgemeinhin wird ein Wandel hin zu einer Mehrheit asymptomatischer Zufallsbefunde bei AE-Patienten, übereinstimmend mit denen unserer Studie beobachtet [17].

Hepatische Zufallsbefunde bei asymptomatischen Patienten sind zu über 95% benigne, was jedoch im starken Gegensatz zum großen Anteil vermuteter maligner Diagnosen bei Patienten unserer Studie steht [18]. Kaltenbach et al. wiesen in einer breit angelegten retrospektiven Studie nach, dass in absteigender Reihenfolge die fokale Minderverfettung (6,3%), hepatische Zysten (5,8%) sowie Hämangiome (3,3%), gefolgt von fokal nodulären Hyperplasien (FNH) (0,2%) sowie Adenomen (0,04%) die häufigsten dieser benignen Läsionen darstellen [12]. Hepatische AE-Herde präsentieren sich bildmorphologisch sehr verschiedenartig und können in Form eines neu aufgefallenen Inzidentaloms anderen, z.B. den oben genannten, weitaus häufigeren fokalen Leberläsionen (FLL), bis hin zur fehlenden Unterscheidbarkeit, stark ähneln und somit zu Fehldiagnosen führen [8] [19]. Dieser Umstand wurde anhand einer ultraschallbasierten Klassifikation (EMUC-US) systematisch aufgearbeitet und ist inzwischen etablierter Beurteilungsstandard bei der Zuordnung hepatischer Echinokokkus-multilocularis-Läsionen nach ihrer B-Bild-morphologischen Ähnlichkeit [6]. Ein hämangiomartiges sowie pseudozystisches Erscheinungsbild ist neben dem metastasenartigen Muster u.a. Teil der Klassifikation, und kann, wie aktuelle Studien zeigen, ohne die kontrastverstärkte Sonografie nicht sicher von echten Hämangiomen oder Metastasen differenziert werden [20] [21]. Es ist zudem bereits vielfach beschrieben worden, dass AE-Läsionen aufgrund des infiltrativen Wachstumsverhaltens augenscheinlich einen malignen Prozess imitieren [8] [22]. Gerade aus diesem Grund sollte eine maligne hepatische Verdachtsdiagnose bei asymptomatischen Patienten, insbesondere ohne zusätzlich zugrunde liegende Risikofaktoren (z.B. „HCC“ ohne Leberzirrhose, Hepatitis-B-/Hepatitis-C-Infektion oder ohne übermäßigen Alkoholkonsum, „hepatische Filiae“ ohne B-Symptome) stets kritisch hinterfragt und differenzialdiagnostisch reevaluiert werden. Maligne Verdachtsdiagnosen haben nicht nur therapeutische Konsequenzen, sondern insbesondere einen ausgeprägten Einfluss auf das mentale Empfinden und die Lebensqualität betroffener AE-Patienten [23]. Es ist anzunehmen, dass die psychische Belastung unserer Patienten zusätzlich durch den langen Zeitraum in Ungewissheit aggraviert wird und sich zur mentalen Herausforderung einer zum Diagnosezeitpunkt meist nicht mehr kurativ angehbaren Parasitose hinzu addiert [15]. An dieser Stelle sind jedoch weitere Studien nötig.

Während des diagnostischen Abklärungszeitraums fiel innerhalb unserer Studienkohorte auf, dass strahlenstarke Bildgebungsmodalitäten häufig und bei einem Teil der Patienten sogar wiederholt ohne Mehrgewinn eines anschließend eindeutigen Befundes eingesetzt wurden. Im Vergleich fand die kontrastmittelverstärkte Sonografie (CEUS) als flächendeckend verfügbare und nebenwirkungsarme Alternative deutlich seltener Verwendung. Aus Sicht des Strahlenschutzes macht jede Möglichkeit zur Reduktion der medizinischen Strahlenbelastung nach Abwägung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses Sinn: Die effektive Dosis [Sv] der jährlich einwirkenden natürlichen Hintergrundstrahlung beträgt im Durchschnitt 2,1 mSv pro Person (Schwankungsbreite zwischen 1–10 mSv) [24] [25]. Dem gegenüberstehend stammt die Strahlenbelastung durch sogenannten künstliche Strahlenquellen (durchschnittlich 1,8 mSv/Jahr/Person) zu knapp 95% aus ionisierenden und radioaktiven Strahlenquellen im medizinischen Sektor (durchschnittlich 1,7 mSv/Jahr/Person). Insbesondere die Röntgenstrahlung trägt hierbei mit durchschnittlich 1,7 Röntgenuntersuchungen pro Jahr und Einwohner zur medizinisch angesiedelten Strahlenbelastung in Deutschland bei [24] [25]. Zum Vergleich zur mittleren natürlichen Hintergrundstrahlung: Die effektive Dosis einer einzelnen computertomografischen Aufnahme des Abdomens, welche bei der Mehrheit unserer Patienten mit (mindestens) einer abklärenden CT-Bildgebung durchgeführt wurde, beläuft sich auf 8–20 mSv. Folglich wollen wir den Stellenwert primär der kontrastverstärkten Sonografie (CEUS) sowie alternativ des MRT mit leberspezifischem Kontrastmittel und dessen frühestmöglichem Einsatz als potente Modalitäten zur genaueren ätiologischen Differenzierung bestärken [20] [21] [22] [26].

Die definitive Diagnose einer AE erhielten unsere Patienten durchschnittlich nach über 2 Jahren. Unsere Analyse konnte zeigen, dass die von uns untersuchten Patienten von einer frühzeitigen kontrastverstärkten Sonografie, einer möglichen Punktion sowie der Zuweisung an ein spezialisiertes Zentrum für Echinokokkose-Erkrankungen profitieren können. Im Falle einer Biopsie der unklaren Läsion ist das Risiko für Blutungen sowie das Risiko einer Impfmetastase oder weiteren Aussaat zu vernachlässigen.

Limitationen der Fragenbogenstudie begründen sich in der retrospektiven Datenerhebung aufgrund einem möglichen Erinnerungsbias, wodurch Schwierigkeiten der vollständigen chronologischen Rekonstruktion der medizinischen Ereignisse ggf. nicht ausgeschlossen werden können. Weitere Verzerrungen bzw. eine Über- oder Unterschätzung ist aufgrund des Charakters der vorliegenden Studie nicht auszuschließen. Dennoch stellen retrospektive Untersuchungen weiterhin ein wichtiges Tool zur Identifizierung von entscheidenden Einflüssen und Zusammenhängen bei der Erforschung seltener Erkrankungen dar. Des Weiteren muss die geringe Fallzahl als eine weitere, wichtige Limitation angesehen werden. Weitere multizentrische Studien mit höheren Fallzahlen sind notwendig, um die vorliegenden Studienergebnisse zu bestätigen. Aufgrund unterschiedlicher Gesundheitssysteme und Ansätze beim Management und der Versorgung von Patienten mit alveolärer Echinokokkose können die vorliegenden Ergebnisse nicht auf andere Länder übertragen werden. Für die Situation in Deutschland sind die Ergebnisse aufgrund der Rücklaufquote und aufgrund der Äquivalenz zu den Meldezahlen im Rahmen des Infektionsschutzgesetztes (IfSG) als repräsentativ anzusehen.

Kernaussagen
  • Epidemiologische Daten zeigen einen Anstieg der humanen alveolären Echinokokkose (AE) in Deutschland – ein weiterer Anstieg in den nächsten Jahren ist wahrscheinlich.

  • Hausärzte spielen eine entscheidende Rolle bei der Detektion sonografischer hepatischer Zufallsbefunde.

  • Bei einer unbekannten und unklaren hepatischen Raumforderung sollte frühzeitig und primär ein CEUS, alternativ ein leberspezifisches MRT, durchgeführt werden.

  • Bei einer bis dahin unbekannten, unklaren, aber malignitätsverdächtigen hepatischen Raumforderung – insbesondere bei asymptomatischen Patienten – muss frühzeitig die Differenzialdiagnose einer AE mit einbezogen werden.

  • Bei anhaltender Unklarheit trotz CEUS und MRT empfehlen wir eine Biopsie der unklaren Läsion; das Risiko einer Impfmetastase oder weiteren Aussaat bei einer Leberbiopsie ist zu vernachlässigen.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Danksagung

Wir danken allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Klinik für Innere Medizin III am Universitätsklinikum Ulm für die Patientenbetreuung sowie allen Patientinnen und Patienten für die Mitwirkung an der Studie.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Wolfgang Kratzer
Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Innere Medizin I, Zentraler Ultraschall
Albert-Einstein-Allee 21
89081 Ulm

Publication History

Article published online:
23 January 2023

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Abb. 1 (a) Ärztlicher Rahmen bei Erhebung eines Zufallsbefundes (n ges = 74); (b) Spektrum und Häufigkeit der diagnostischen Modalitäten bei Erhebung eines Zufallsbefundes.
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Abb. 2 Absolute [n] und relative Häufigkeiten [%] durchgeführter diagnostischer Untersuchungen während der Abklärungsphase (n ges = 109).
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Abb. 3 (a) Spektrum und Häufigkeit benigner Differenzialdiagnosen während der diagnostischen Abklärungsphase; (b) Spektrum und Häufigkeit maligner Differenzial-, Verdachts- und Fehldiagnosen während der Abklärungsphase.