Klin Monbl Augenheilkd 2008; 225(4): 304-307
DOI: 10.1055/s-2008-1027231
Offene Korrespondenz

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Leserbrief

H. Burggraf
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Publication Date:
04 July 2008 (online)

Zu dem Klimo-Refresher: F. Tost, C. Gass. Rechtliche Aspekte bei der ophthalmologischen Begutachtung, Teil 1. Klin Monatsbl Augenheilkd 2007; 224: R57–R76 seien einige Anmerkungen und Fragen zur besseren Transparenz erlaubt.

Die Autoren weisen zu Recht gleich zu Beginn darauf hin, dass der Gutachter das jeweilige zu bearbeitende Sachgebiet umfassend verstehen muss. Dazu gehören insbesondere eingehende Kenntnisse des jeweiligen Rechtsgebietes mit seinen Vorschriften und medizinischen Wertungs-Empfehlungen. Zu unterscheiden sind gutachterliche Ausarbeitungen auf den Gebieten des Strafrechtes, des Zivilrechts – hier ist wiederum zu differenzieren zwischen den Anforderungen im Haftpflichtwesen und der Privaten Unfallversicherung – und dem Sozialrechtsbereich: BG-Unfälle, Schwerbehindertenwesen, um die wesentlichsten zu nennen. Sie alle haben z. T. sehr differente Begutachtungsgrundlagen. So ist die erste aller Fragen für den Gutachter von eminenter Bedeutung: Welches Rechtsgebiet liegt vor? Begutachten1 ist ein Zuordnen festgestellter pathologischer – d. h. von der Norm abweichender – Körper- und Geisteszustände mit deren Funktionseinbußen zu vorgegebenen Richtlinien und Bestimmungen. Anmerkung: Die Ausfertigung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) ist eine sehr verantwortliche gutachterliche Tätigkeit – wenngleich zu einem Spottpreis (hier ist die ÄK in der Pflicht!). Diese Begutachtung sollte sehr gewissenhaft ausgeführt werden, da sich daraus zunehmend Regressansprüche gegen den Aussteller abzuzeichnen beginnen2. Arbeitsunfähigkeit liegt vor, wenn der Versicherte aufgrund von Krankheit seine zuletzt vor der AU ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen kann. Bei der Beurteilung ist darauf abzustellen, welche Bedingungen die bisherige Tätigkeit konkret geprägt 3 habe. AU liegt auch vor, wenn aufgrund eines bestimmten Krankheitszustandes, der für sich allein noch keine Arbeitsunfähigkeit bedingt, absehbar ist, dass aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder die Gesundung abträgliche Folgen erwachsen, die AU unmittelbar hervorrufen. (Bundesanzeiger Nr. 61 [S. 6501] vom 29. März 2004.) Zur Rekapitulation 3 Merkmale der AU: Da es auf die konkret zu verrichtende Tätigkeit und deren Beeinträchtigung durch die Krankheit ankommt, führt nicht jede Erkrankung notwendigerweise zur Arbeitsunfähigkeit. Eine AU erfordert die stets eigene Feststellung und darf nur in Ausnahmefällen höchstens bis zu 2 Tagen zurückdatiert werden. Untersuchungen als solche (um Krankheiten festzustellen, zur Begutachtung etc.) indizieren keine AU – selbst wenn z. B. eine Pupillenweitstellung erforderlich war. Es liegt keine Erkrankung vor. Die Begutachtung4 erfolgt nach objektiven Kriterien der Tatbestände ohne Rücksicht auf die sich daraus ergebenden materiellen Folgen5. Unter der medizinischen Diagnose unfallverursachter Schäden6 sind in der Tat alle(!) Einzelschäden des Augenorgans auszuweisen. Diese Dokumentation ist zur Einordnung evtl. später auftretender weiterer Augenschäden maßgeblich. Dann kann eindeutig festgestellt werden, ob diese Schäden noch dem Unfall anzulasten sind. (Empfehlung: Da die Bewertungskriterien in der Regel durchgehend funktionell ausgerichtet sind, ist bei vielen Einzeldiagnosen eine Unterteilung der Diagnosen in morphologisch und funktionell sinnvoll. So ist ein Überblick gewahrt und es können anschließend die ausgewiesenen einzelnen Funktionsminderungen diskutiert werden.) Zur Kausalität Bekanntlich wird zwischen anspruchsbegründender und ausfüllender7 Kausalität unterschieden: 4.1 Die Beurteilung der anspruchsbegründenden Kausalität ist eine mehrstufige Entscheidung der sich stellenden Fragen: Ist ein solches (Unfall8-)Ereignis generell adäquat, eine derartige Schädigung zu verursachen? Ist dieses spezielle Ereignis imstande, diese eingetretene Schädigung in ihrer Art und diesem Ausmaß hervorzurufen, wenn beide Fragen bejaht werden? Ist die eingetretene Schädigung alleinige Folge des Ereignisses oder ist sie in Kombination mit weiteren unfallfremden Komponenten in dieser Art entstanden – oder gar erst denkbar? Die Entscheidungen sind nach den jeweiligen Rechtsnormen des betreffenden Gebietes zu treffen (hier ist auch bestimmt, wie in Fällen einer Gleichrangigkeit mehrerer Beteiligungsfaktoren oder der Unmöglichkeit, eine erforderliche substanzielle Aussage zu treffen, weiter zu verfahren ist). Erst wenn diese Punkte geklärt sind stellt sich die Begutachtung der 4.2 ausfüllenden Kausalität: es werden Umfang, Ausmaß der funktionellen Beeinträchtigungen gewertet, mitwirkende Faktoren (Vorschaden, anderweitige Gesundheitsprozesse) sind zu erfassen und zuzuordnen, es sind Risikofaktoren (und deren Wahrscheinlichkeit einer Verwirklichung) aufzuzeigen – und ggf. (z. B. in der PUV) einzustufen. Es ergibt sich somit folgendes Bild (Abb. 1). Abb. 1 Die Kausalitäts-3er-Kette. 4.3 Aus diesen Voraussetzungen ergeben sich zwangsläufig für ein und denselben Sachverhalt auf den verschiedenen Rechtsgebieten differente Bewertungen. So ist z. B. die durch ein Freizeitereignis bei einem Flugzeugkapitän verursachte Sehschärfenminderung eines Auges auf 0,4 als BG-Unfall zu verneinen, als Berufsunfähigkeit anzuerkennen, die MdE lediglich mit 5 % einzustufen, in der privaten Unfallversicherung eine Gebrmdrg von 6 / 25 = 12 % Invalidität (der Versicherungssumme) fällig. Die Sondermaßnahme der „besonderen beruflichen Betroffenheit” ist ausschließlich nur im Bereich des BVG (§ 30 Abs. 2 BVG) zu beachten, sie gilt mithin nicht für die BG-Begutachtung. Falls es sich um eine Begutachtung oder einen Antrag zur Feststellung einer Berufskrankheit handelt, ist es wichtig zu wissen, dass diese Liste abschließend ist, d. h. ähnliche oder Parallelfälle dazu können nicht anerkannt werden. Soweit mir bekannt, ist nirgendwo eine Vorschrift zur Gestaltung der Gutachtenform9 existent. Es wird lediglich auf einen Minimalrand hingewiesen. Gewisse Rückschlüsse lassen sich aus der Schreibgebühr ziehen: GOÄ 95: € 3,50 pro Seite à 1000 Zeichen, bei Gerichten: € 0,75 für 1000 Zeichen. Anmerkung zu Gebühren: Gerichte weisen 3 Gruppen von Gutachter-Stundensätze für die Ausarbeitung von Gutachten aus (die Untersuchung ist nach GOÄ-einfach anzusetzen, die Untersuchungszeit ist damit abgegolten): JVEG § 8 Grundsatz der Vergütung: (4) ... (1) Der Sachverständige erhält für jede Stunde ein Honorar in der Höhe von Honorargruppe M_1 € 50,– → Beschreibende (Ist-Zustands-)Begutachtung nach standardisiertem Schema ohne Erörterung spezieller Kausalzusammenhänge mit einfacher medizinischer Verlaufsprognose und mit durchschnittlichem Schwierigkeitsgrad, z. B. MdE-Bestimmung bei einer Monoverletzung. M_2 € 60,– → Gutachten in Verfahren nach dem SGB IX: zur Minderung der Erwerbsfähigkeit und zur Invalidität. M_3 € 85,– → Begutachtungen spezieller Kausalzusammenhänge und/oder differenzialdiagnostischer Probleme und/oder strittiger Kausalitätsfragen, zum Kausalzusammenhang bei problematischen Verletzungsfolgen, zu ärztlichen Behandlungsfehlern, zu Berufskrankheiten und zur Minderung der Erwerbsfähigkeit bei besonderen Schwierigkeiten. Zum Aktenstudium: Nach Gerichtsurteilen werden pro Stunde 70 – 100 Seiten mit „medizinisch durchsetztem Material” veranschlagt. Der Autor setzt für die Durcharbeitung von 30 – 40 Seiten rein medizinischer Schriftstücke (z. B. differenzialdiagnostischer Gutachten, Befundauswertungen) 1 Std. Arbeitszeit an, die sich zur Erstellung eventueller Auszüge entsprechend erhöht. Abschließend sei darauf aufmerksam gemacht, dass eine in der Klinik gestellte Diagnose nicht unreflektiert als Beweis in ein Gutachten übernommen werden darf. Die klinische Primärdiagnose dient der Erfassung der pathologischen/pathophysiologischen Befunde und ist als Grundlage für die weitere Vorgehensweise gedacht. Häufig bleiben solche Diagnose bestehen, obwohl sie anfangs nur als Verdacht geäußert wurden, sich dann aber nicht bestätigt haben. Wenn dann anamnestisch auch noch ein Trauma angegeben wurde, so entsteht voreilig die Angabe „traumatische ... ”.

Tab. 1 Berufsgenossenschaften rechnen nach der UV-GOÄ ab. Wesentliche Gebühren GOÄ-UV Ziff. € 147 erstes Rentengutachten1 Augen 67,13 149 zweites Rentengutachten 58,82 151 Nachprüfung der MdE (Vordruck A 4 512) 58,82 160 freies GA ohne Fragestellung zum ursächlichen Zusammenhang 67 – 154 161 dito mit Fragestellung zum ursächlichen Zusammenhang 84 – 236 165 eingehend wissenschaftl. begründetes GA (durch wissenschaftl. Erwägungen und Auswertungen erläuternde Ausarbeitung) 100 – 317 § 59 die Höchstsätze der Ziff. 160,161, 165 können mit Begründung und Einwilligung des UV-Trägers überschritten werden. 190 Schreibgebühr (nicht für Ziff. 147, 149, 151) 3,50 191 je verlangte Kopie 0,17 1Wenn es sich um eine umfangreichere oder komplizierte Verletzung handelt, ist – nach vorheriger Information der BG! – ein freies Gutachten nach Ziff. 161, ggf. 165 indiziert.

Dr. med. Harald Burggraf
61 462 Königstein/T

1 1Eigene Definition. Im Übrigen: Da es auf die konkret zu verrichtende Tätigkeit und deren Beeinträchtigung durch die Krankheit ankommt, führt nicht jede Erkrankung notwendigerweise zur Arbeitsunfähigkeit.

2 2Eine sehr problematische Anforderung, die es unbedingt zu klären gibt, denn wie sollte der behandelnde Arzt um die Arbeits-Gegebenheiten vor Ort und die verweisbaren Tätigkeiten wissen? Hier ist die ÄK zur Klärung gefordert!

3 3So gibt es immer wieder beschämenderweise GA in Schriftengrößen, die für hochgradig Sehbehinderte vorgesehen sind oder großzügig gestaltete GA von 20 Seiten, die auf 8 Seiten übersichtlicher lesbar wären.

5 4Gramberg-Danielsen B. Rechtliche Grundlagen der augenärztlichen Tätigkeit 2008. Enke, Stuttgart, 23. Ergänzungslieferung.

Prof. Frank Tost

Itd. Oberarzt, Augenklinik am Universitätsklinikum der Ernst-Moritz-Arndt, Universität Greifswald

Ferdinand-Sauerbruch-Str.

17475 Greifswald

Email: tost@uni-qreifswald.de

URL: http://www.teleaugendienst.de

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