Z Geburtshilfe Neonatol 2007; 211(3): 108-109
DOI: 10.1055/s-2007-960744
Kommentar zum Heft

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Perinatalmedizin 2007 in Deutschland - Zielanomie[] trotz Evidenz?

Perinatal Medicine 2007 in Germany - Anomie Despite Evidence?K. Vetter1
  • 1Klinik für Geburtsmedizin, Vivantes Klinikum Neukölln, Berlin
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Publication Date:
01 June 2007 (online)

Die Auffrischung knapper Kassen, die Erfüllung individueller oder kollektiver Wünsche ganzer Kliniken, der vermeintliche Gewinn an Prestige, die Möglichkeit unlimitierter Werbung - all dies sind Perspektiven, die sich durch hochpreisige DRGs anzubieten scheinen. DRGs stellen die Verbindung zwischen Krankheit, medizinischer Leistung und Finanzierung her. Die Erfüllung spezifischer direkter Leistungen bzw. die Bereitstellung während 24 Stunden sind die Rechenbasis für die DRGs im Hochrisikobereich der Perinatalmedizin, sowohl auf der geburtshilflichen wie auch auf der neonatologischen Seite.

Der Gemeinsame Bundesausschuss hatte sich die Aufgabe gestellt, die Qualität perinatalmedizinischer und insbesondere neonatologischer Leistungen nach Intensitätsstufen der Perinatalmedizin einzelnen Leistungserbringern zuzuordnen. Er ging dabei von der Vernunft der Handelnden aus, und legte z. B. fest,

dass in einem Perinatalzentrum Level I nicht nur Medizin am Rand der Lebensfähigkeit möglich sein solle, nicht nur schwer kranke Neugeborene jeden Alters interdisziplinär behandelt werden sollen, und nicht nur eine hoch qualifizierte personelle Präsenz während 24 Stunden gewährleistet sein muss, sondern auch die Weiterbildung in den Schwerpunkten „Spezielle Geburtshilfe und Perinatalmedizin” sowie „Neonatologie” gesichert stattfinden soll.

All dies kostet nicht nur am Patienten, sondern auch als Strukturleistung eine Menge Geld.

Angesichts allgemein beklagter knapper Kassen war es erstaunlich zu sehen, wie in den letzten Monaten die Ansprüche, ein Perinatalzentrum der obersten Stufe zu führen, zahlenmäßig ausuferten - auch wenn bekannt ist, dass ein Perinatalzentrum einen Einzugsbereich von ca. 10 000 Geburten benötigt. Dem Kenner standen die Haare zu Berge angesichts der Tatsache, dass qualifizierte Kräfte, die all dies überhaupt bewerkstelligen könnten, Mangelware sind. Nicht nur das. Auch das Geld, das es bräuchte, um die Vorbedingungen eines Perinatalzentrums Level 1 zu gewährleisten, ist flächendeckend nicht vorhanden. D. h. Anspruch und Realität solcher Vorstellungen sind inkompatibel: die erwünschte, ja geforderte Versorgungs-Qualität lässt sich so nicht überall erreichen. Es ist deshalb zu hoffen, dass dieses Ansinnen bald ein historisches gewesen sein wird, denn im vorliegenden Heft werden neue Daten aus Deutschland vorgestellt, die eindeutig darauf hinweisen, dass es sehr wohl darauf ankommt, an welchem Ort, in welcher Klinik, in welche interdisziplinäre Situation hinein ein Kind mit hohen Risiken geboren wird.

Seit der hessischen Studie von Heller [1] könnten wir wissen, dass unter bestimmten Randbedingungen nicht nur die kritisch kleinen Kinder, sondern auch die normal großen, reifen um den errechneten Termin, ohne Besonderheiten in Anamnese und Befund geborenen Kinder, abhängig von der Klinikform und -größe entweder profitieren oder aber ihr Leben riskieren, wenn sie am falschen Ort geboren wurden. Es war deshalb nicht zu erwarten, dass in der Hochrisiko-Geburtshilfe und -Neonatologie dieses Phänomen eines Geburtsort-abhängigen Risikos, das aus dem Ausland längst bekannt ist, nicht auftreten sollte: nämlich, dass die Menge behandelter Menschen mit einem spezifischen Risiko ein Indikator für Qualität ist. Dieser Zusammenhang wurde im Einzelfall gerne bezweifelt, da deutsche Daten nicht in ausreichendem Maße vorhanden waren, und man z. T. glaubte, den Sonderfall für sich in Anspruch nehmen zu können, dass Mindestmengen in Deutschland im 21. Jahrhundert keine Rolle spielen. Es gibt aber keinen Sonderfall Deutschland.

Die vorgelegten Studien zeigen - eine wie die andere - ob sie nun einmal flächendeckend durch die Bundesrepublik erhoben wurden, wie dies mit den Daten der AOK geschehen ist [2], oder in Nordrhein-Westfalen als Vollerhebung [3]; es kommt statistisch gesehen immer dasselbe heraus: Im Einzelfall profitiert ein zu früh geborenes Kind genauso wie ein krankes Neugeborenes davon, dass es am richtigen Ort geboren und versorgt wird. Die erwünschten Resultate wurden nachweislich in neonatologischen Intensiveinheiten erreicht, die im Jahr wenigstens 40, besser 50 kritische Kinder behandeln [4].

Die Literaturzusammenstellung über Mindestmengen in der Versorgung sehr untergewichtiger Frühgeborener [5] bildet sozusagen den Hintergrund, auf dem sich die Daten nicht nur verstehen lassen, sondern auf dem sie zeigen, dass ein Sonderfall nicht existiert, und dass es weltweit in gleicher Weise nicht darauf ankommt eine Hochrisikoversorgung wohnortnahe zu etablieren, sondern im Einzelfall konzentriert auch in erheblicher Distanz vom Wohnort. Das machen uns Flächenländer mit zentralisierter Versorgung wie Norwegen oder Schweden seit langem mit deutlich nachweisbarem Erfolg vor. Man könnte einwerfen, dass die Disziplin in den nordischen Ländern eine besondere sei, die dazu führt, dass man Kinder im Mutterleib rechtzeitig verlegt, wenn denn eine Frühgeburt ansteht. Entsprechend wäre es argumentativ aber peinlich zu sehen, dass nur aufgrund fehlender Argumente dem etwas entgegen gehalten würde, was den eigenen hier publizierten Daten widerspricht.

Ich bin den Herausgebern dieses Heftes sehr dankbar dafür, dass sie sich dieses brennenden Themas angenommen haben. Im Hinblick auf die Versorgungssituation in der Bundesrepublik Deutschland kann man unter Qualitätsgesichtspunkten, die der Gemeinsame Bundesausschuss vertritt, nur wünschen, dass er diese Arbeit nicht nur wahrnimmt, sondern auch die Konsequenzen daraus zieht, indem er Entscheidungsträger aus misslichen Situationen befreit, in die sie durch zu viel Nähe zu kommen drohen. Auf Basis von Evidenz im eigenen Land, aber auch international und der Fürsorge für unseren kritischen Nachwuchs aber auch auf Basis schlechter Erfahrungen mit DRG und fehlenden zugeordneten Zahlen bezüglich Ergebnisqualität und Effizienz sowohl in den USA als auch bei uns scheint es sinnvoll, für den Hochrisikobereich Zuordnungen zu treffen, die auf Behandlungs-Mindestmengen beruhen. Dies hat sich in anderen Fachgebieten in diversen Bereichen bewährt, auch wenn die Evidenz dort deutlich geringer war, als sie in diesem Fall bei den kleinen Frühgeborenen ist, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben. Eine therapieabhängig unterschiedliche Lebensqualität darf weder eingeplant noch riskiert werden.

In der Hoffnung, dass sich die Zielanomie (Norm- / Zielverlust) auflöse und die Evidenz national und international Folgen haben möge, sehe ich den Umstrukturierungen unter knappen Bedingungen erwartungsvoll entgegen.

1 Norm- / Zielverlust

Literatur

  • 1 Heller G, Richardson D K, Schnell R, Misselwitz B, Künzel W, Schmidt S. Are we regionalized enough? Early-neonatal deaths in low-risk births by the size of delivery units in Hesse, Germany 1990-1999.  Int J Epidemiol. 2002;  31 1061
  • 2 Heller G, Günster C, Misselwitz B, Feller A, Schmidt S. Jährliche Fallzahl und Überlebensrate sehr untergewichtiger Frühgeborener (VLBW) in Deutschland, Eine bundesweite Analyse mit Routinedaten.  Z Geburtsh Neonatol. 2007;  211 123-131
  • 3 Teig N, Wolf H -G, Bücker-Nott H-J. Mortalität bei Frühgeborenen < 32 Schwangerschaftswochen in Abhängigkeit von Versorgungsstufe und Patientenvolumen in Nordrhein-Westfalen.  Z Geburtsh Neonatol. 2007;  211 118-122
  • 4 Bartels D B, Wypij D, Wenzlaff P, Dammann O, Poets C F. Hospital volume and neonatal mortality among very low birth weight infants.  Pediatrics. 2006;  117 2206-2214
  • 5 Obladen M. Mindestmengen in der Versorgung sehr untergewichtiger Frühgeborener: Eine Literaturübersicht.  Z Geburtsh Neonatol. 2007;  211 110-117

1 Norm- / Zielverlust

Prof. Dr. K. Vetter

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