physioscience 2006; 2(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2005-858970
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Kraut und Rüben” in der Forschung zur Wirksamkeit von Physiotherapie

D. Brötz1
  • 1Therapiezentrum, Zentrum für Neurologie, Universität Tübingen
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Publication Date:
23 February 2006 (online)

Liebe Leserinnen und Leser,

sind Sie auch schon über Schlussfolgerungen in wissenschaftlichen Artikeln gestolpert, bei denen über die Wirksamkeit von Übungsbehandlungen oder Standardphysiotherapie berichtet wurde?

Was ist unter diesen Begriffen zu verstehen? Sie erwecken den Anschein, als ob in der Physiotherapie bereits eine standardisierte Vorgehensweise bei bestimmten Krankheitsbildern etabliert wäre und diese Standards durch Studien überprüft und optimiert würden. In Wirklichkeit bestehen in der Physiotherapie derzeit weder wissenschaftlich geprüfte noch ungeprüfte breit akzeptierte und angewandte Normen.

Institutionen entwickeln teilweise hauseigene Standards oder Leitlinien. Weit verbreitet ist die Anwendung physiotherapeutischer Maßnahmen nach individuellen Einschätzungen der Therapeuten. Die Entscheidung für eine bestimmte Therapie ist stark durch die Schwerpunkte der Schule, an der die Ausbildung gemacht wurde, eigene Vorlieben (z. B. zu aktiven oder passiven Maßnahmen) und von absolvierten Fortbildungen geprägt.

Den Gewinn nützlicher Informationen aus wissenschaftlichen Untersuchungen beeinflussen wesentlich 4 Gesichtspunkte. Um die Physiotherapie für unsere Patienten aufgrundlage von Studien zu optimieren, müssen alle Therapiemethoden nachvollziehbar beschrieben und korrekt benannt sein, die Schlussfolgerungen aus den gewonnenen Ergebnissen korrekt formuliert und Patienten mit einheitlichen Krankheitsbildern von speziell qualifizierten Therapeuten untersucht und behandelt werden. Im Folgenden wird auf die einzelnen Gesichtspunkte anhand von Beispielen näher eingegangen.

Darstellung der Therapieansätze

Als Standardphysiotherapie und Übungsbehandlung wird in wissenschaftlichen Studien entweder eine nicht näher definierte Mischung aus allen möglichen von verschiedenen Therapeuten angewendeten Maßnahmen (z. B. [2]) oder eine von den Autoren selbst definierte Therapie (z. B. [1] [3] [5]) bezeichnet.

Wenn eine wissenschaftliche Arbeit das Ziel hat, die breite Anwendung nützlicher Maßnahmen zu fördern und die Anwendung unnützer Maßnahmen zu minimieren, dann müssen alle therapeutischen Strategien genau beschrieben werden. Bei komplexen Behandlungsmethoden wie z. B. Bobath- oder McKenzie-Therapie muss ein Hinweis auf ein entsprechendes Buch die Diagnostik und Therapie nachvollziehbar machen. Andernfalls kann der Leser die in einer Studie gewonnenen Erkenntnisse nicht in sein tägliches Handeln umsetzen, und die dringend benötigten Standards können nicht entwickelt werden.

Formulierung der Schlussfolgerungen

Faas et al. [1] definierten in einer randomisierten, plazebokontrollierten Studie zur Wirksamkeit von Übungsbehandlung bei akuten Rückenschmerzen 8 Übungen, von denen 6 die Flexion der Wirbelsäule beinhalteten, als Exercise therapy. In ihrer Schlussfolgerung schreiben die Autoren ganz allgemein, dass Übungsbehandlung bei akuten Rückenschmerzen die Arbeitsunfähigkeit nicht reduziert.

Malmivaara et al. [3] definierten Übungen in Extension und Lateralneigung der Wirbelsäule als Exercise therapy und schlussfolgern in ihrer Arbeit, dass sich Patienten mit akuten Rückenschmerzen schneller erholen, wenn sie unter Berücksichtigung von Schmerzen alltägliche Aktivitäten fortführen, als wenn sie Bettruhe einhalten oder die Wirbelsäule mobilisierende Übungen ausführen.

Beide Schlussfolgerungen sind falsch formuliert. Sie müssten vielmehr lauten: stereotyp durchgeführte Übungen, in Beugung oder in Streckung der Wirbelsäule, sind weniger effektiv als […].

Da beide Studien alle Kriterien für gut durchgeführte randomisierte Studien erfüllen, werden sie in systematischen Reviews (z. B. [6]) einbezogen. Zusammen mit anderen ähnlich gestalteten Untersuchungen kommen van Tulder et al. [6] zu dem Ergebnis, dass starke Beweise für die Unwirksamkeit für Übungsbehandlung bei akuten Rückenschmerzen vorliegen.

Pohl et al. [5] definierten eine von 2 Therapeuten durchgeführte 30-minütige PNF-Therapie als Standardtherapie zur Verbesserung des Gehens bei Parkinsonpatienten. Eine solche Behandlung scheitert vermutlich schon an der Kondition der Therapeuten. Wer bietet diese Therapieform als Standard für Parkinsonpatienten an? Warum ist ein Therapeut mit den Patienten nicht einfach 30 Minuten lang gegangen? Diese Therapieform hätte einen alltagsnahen Vergleich zwischen der Wirksamkeit des Laufband- und eines Gehtrainings ohne Gerät ergeben.

Auch die Schlussfolgerung dieser Studie, dass die hauptsächlichen Störungen des Gehens bei Parkinsonpatienten nicht durch konventionelles Gehtraining verbessert werden können, ist unzulässig. Sie müsste vielmehr lauten: das geschwindigkeitsabhängige Laufbandtraining ist effektiver als ein PNF-Training mit 2 Therapeuten.

Heterogene Patientengruppen

Ein weiteres Problem vieler Studien zur Physiotherapie sind heterogene Patientengruppen. Erhalten Patienten mit unterschiedlichen Problemen dieselbe Behandlung, so sind keine guten Ergebnisse zu erwarten. Bei Patienten mit unspezifischen akuten oder chronischen Rückenschmerzen ist es notwendig, z. B. mithilfe von Testbewegungen der Wirbelsäule eine Hypothese über die Ursachen der Beschwerden aufzustellen und eine symptomorientierte genau definierte Therapie durchzuführen [4].

Bei Patienten mit Hemiparese nach Schlaganfall sollten je nach Schweregrad der Lähmung und unter Berücksichtigung neuropsychologischer Störungen (z. B. Neglekt, Pusher-Symptomatik) spezifische Therapiemaßnahmen miteinander verglichen werden. Spezifische Therapiemethoden sind bezüglich ihrer Wirksamkeit bei spezifischen Krankheitsbildern zu untersuchen [4] [7] [8]. Die Ausführung stereotyper Übungen bei nicht näher spezifizierten Krankheitsbildern lässt keine herausragenden, über den Plazeboeffekt hinaus reichenden Ergebnisse erwarten und kann sogar kontraproduktiv sein [1] [3] [9] [10].

Therapeuten

Häufig bleibt die Qualifikation der Therapeuten offen. Sowohl die einheitliche Nutzung von Messinstrumenten als auch die Behandlung der Patienten mit einer spezifischen Therapie bedarf einer Schulung. Ausbildung und Übung der Therapeuten tragen vermutlich wesentlich zur Wirksamkeit einer Behandlungsmaßnahme bei. Nur Therapeuten, die eine Ausbildung für eine bestimmte Behandlungsmaßnahme durchlaufen und durch Übung Können erworben haben, sollten Patienten im Rahmen von Studien behandeln.

Gütekriterien für wissenschaftliche Studien zur Physiotherapie

Die Skalen zur Analyse der Güte von Studien sollten um folgende 4 Aspekte ergänzt werden:

  • Die Patienten wurden in Untergruppen eingeteilt, die Entscheidungsfindung für die Einteilung in eine bestimmte Gruppe ist beschrieben.

  • Die Therapie wird im Artikel beschrieben und ist gegebenenfalls in einer ausführlichen Beschreibung nachzulesen.

  • Die Qualifikation der Therapeuten zur Ausführung einer bestimmten Therapie wird im Artikel beschrieben.

  • Die Schlussfolgerung ist korrekt formuliert und lässt sich aus den in der Studie gewonnenen Daten ziehen.

Schlussbemerkung

Die Physiotherapie ist dabei, ein wissenschaftliches Profil zu entwickeln. Physiotherapeuten lesen und interpretieren Studien und passen ihre Behandlungen an neue Erkenntnisse an. Aufgrund der oben beschriebenen Mängel ist dies bisher allerdings nur sehr begrenzt möglich.

Zwar werden Physiotherapeuten zunehmend in die Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen einbezogen, sie entwickeln jedoch selten Studiendesigns und planen aus eigener Initiative die Untersuchung der Wirksamkeit ihrer Arbeit. Dieser Aspekt bietet noch viel Potenzial zur Optimierung der Physiotherapieforschung. Gemeinsam mit den Ärzten sollten wir der Frage nachgehen, welche Therapie welchem Patienten in welcher Phase seiner Erkrankung am besten hilft.

Literatur

  • 1 Faas A, van Eijk J TM, Chavannes A W. et al . A randomized trial of exercise therapy in patients with acute low back pain. Efficacy on sickness absence.  Spine. 1995;  941-947
  • 2 Frost H, Lamb S E, Doll H A. et al . Randomized controlled trial of Physiotherapy compared to advice for low back pain.  British Medical Journal. 2004;  708-714
  • 3 Malmivaara A, Häkkinen U, Aro T. The treatment of acute low back pain - bed rest, exercises, or ordinary activity?.  The New England Journal of Medicine. 1995;  351-355
  • 4 McKenzie R, May S. The Lumbar Spine. Mechanical Diagnosis and Therapy. Waikane, New Zealand; Spinal Publications 2003
  • 5 Pohl M, Rockstroh G, Rückriem S. et al . Immediate effects of speed-dependant treadmill training on gait parameters in early Parkinson’s Disease.  Archives of Physical Medicine and Rehabilitation. 2003;  1760-1766
  • 6 van Tulder M W, Koes B W, Bouter L M. Conservative treatment of acute and chronic nonspecific low back pain. A systematic review of randomized controlled trials of the most common interventions.  Spine. 1997;  2128-2156
  • 7 Whitall J. Stroke rehabilitation research: Time to answer more specific questions?.  Neurorehabil Neural Repair. 2004;  3-8
  • 8 Zietz D. Forschungsagenda für Schlaganfallrehabilitation.  physioscience. 2005;  48-51
  • 9 Deane K H O, Jones D, Playford E D. et al .Physiotherapy versus placebo or no intervention in Parkinsons disease (Cochrane Review). The Cochrane Library Oxford; Issue3 2003
  • 10 Luke C, Dodd KJ, Brock K. Outcomes of the Bobath concept on upper limo recovery following stroke.  Clinical Rehabilitation. 2004;  888-898

Doris Brötz, PT

Therapiezentrum, Zentrum für Neurologie, Universität Tübingen

Hoppe-Seyler-Str. 3

72076 Tübingen

Email: doris.broetz@med.uni-tuebingen.de

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