Fortschr Neurol Psychiatr 2004; 72(8): 433-434
DOI: 10.1055/s-2004-830038
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wo bleiben die klinischen Diagnosen in der bildgebenden psychiatrischen Forschung?

Clinical Diagnoses in Brain Imaging Psychiatric Research - Still a Matter of Relevance?J.  Klosterkötter
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11 August 2004 (online)

Je weiter die technologische Entwicklung der bildgebenden Verfahren voranschreitet, umso ergiebiger wird sie für die Hirnforschung und damit auch für die Psychiatrie. Dass uns die Funktionen und Dysfunktionen des Gehirns interessieren müssen, wenn wir psychische Störungen erklären und behandeln wollen, kann man ganz gleich, welche Positionen zum traditionellen Leib-Seele-Problem eingenommen werden, nicht gut in Zweifel ziehen.

Natürlich galt es in der Psychiatrie zunächst, den jeweiligen Phänotyp einer psychischen Störung auf der Ebene des Erlebens und Verhaltens so subtil und präzise wie möglich zu beschreiben und hinsichtlich möglicher Zusammenhänge mit der Persönlichkeitsentwicklung und Umwelteinflüssen zu verstehen. Schon früh hatte die klinische Erfahrung aber auch Hinweise darauf erbracht, dass es für viele Störungen zugehörige Genotypen geben und deren Einfluss auf das Erleben und Verhalten über hirnstrukturelle und hirnfunktionelle Auswirkungen vermittelt sein müsste. Solange man nur wie noch Alois Alzheimer mit einfachen neurohistopathologischen Methoden Gehirne verstorbener Patienten untersuchen konnte, war eine Mehrebenenforschung zur Aufklärung der anzunehmenden Genotyp-Phänotyp-Beziehungen nicht realisierbar. Das ist heute anders geworden, seitdem uns ein ganzes Arsenal von modernen Techniken der morphologischen und funktionellen Bildgebung Einblicke in das lebende Gehirn eröffnet und insbesondere die metabolisch-molekulare Bildgebung auch einen Brückenschlag zu Mikroebene der biochemischen, zellbiologischen und genetischen Untersuchungsmöglichkeiten erlaubt.

Dementsprechend sind auch in dieser Zeitschrift in den vergangenen Jahren in zunehmender Anzahl Beiträge zu den Nutzungsmöglichkeiten der Hirnbildgebung etwa in der Schizophrenie-Forschung [1] [2], in der Psychopharmakologie [3] oder in Psychologie und Psychiatrie generell [4] erschienen. Sie alle sprechen für sich und bedürfen keiner nachträglichen Kommentare, so dass an dieser Stelle nur einmal auf eine durchgängige Problematik aufmerksam gemacht werden soll, die sich gewissermaßen stellvertretend für viele diesbezüglicher Arbeiten gut an dem Beitrag von Vollmert u. Mitarb. In diesem Heft [5] verdeutlichen lässt.

Die Autoren sprechen auffälligerweise immer nur generell von Depression und affektiven oder depressiven Störungen ohne nähere diagnostische Differenzierung. Ein aufmerksamer Leser könnte sich dementsprechend fragen, ob hier wohlmöglich reine Neuroradiologen am Werke waren, die auch im Begutachtungsprozess ihrer Arbeit nicht darauf hingewiesen wurden, dass der Depressionsbegriff doch eine Vielfalt von klinischen Phänotypen umfasst. Immerhin hat man nach den derzeit geltenden Diagnosesystemen Depressionen im Rahmen von unipolaren und bipolaren affektiven Erkrankungen, von Dysthymien und Zyklothymien, von organischen affektiven Erkrankungen sowie auch von Anpassungsstörungen, Belastungsreaktionen und Persönlichkeitsstörungen voneinander abzuheben. Auch die normalpsychologische Traurigkeit Gesunder taucht ja unter dem globalen Depressionsbegriff, der in der Arbeit Verwendung findet, als spontaner oder experimentell induzierter Gefühlszustand mit auf. Für diesbezügliche Bildgebungskorrelate, und im Übrigen auch für die der Depressivität bei Persönlichkeitsstörungen, Neurosen und Erlebnisreaktionen, hätte man sich früher gar nicht interessiert, weil solche affektiven Veränderungen aus der Sicht der Klinischen Psychopathologie lebensgeschichtlich und situativ zu verstehen, nicht aber durch Hirnforschung zu erklären waren. Seit wir aber über Methoden zur Identifikation des neuronalen Netzwerks verfügen, das die Verarbeitung von Emotionen vermittelt, und seit wir auch um die neuronalen Auswirkungen von Psychotherapie wissen, verliert der alte „biologisch-psychologische Dualismus” seine Plausibilität. Wenn zudem auf Abgrenzungsunschärfen der besprochenen Bildgebungsbefunde von denen bei Angst- oder posttraumatischen Belastungsstörungen verwiesen wird, erweitert sich der Kreis der eingeschlossenen Phänotypen noch einmal und läuft auf einen Großteil aller affektiven Veränderungen überhaupt hinaus.

Wo bleiben also die klinischen Diagnosen in der bildgebenden psychiatrischen Forschung? Haben wir es hier nur mit einer populistischen Vereinfachung zu tun, der die Autoren erlegen wären, so wie ja auch der Volksmund global von Depressionen spricht? Die Antwort lautet nein und sie ist so auch für viele andere psychische Störungen zu geben, die unsere heutige Diagnostik wie beispielsweise die Psychosen in zahlreiche unterschiedliche Krankheitsbilder unterteilt. Überall stößt man bei den Versuchen, sich die Ätiologie und Pathogenese psychischer Störungen bis hinunter auf die Mikroebene der zellbiologischen Befunde mit den modernen bildgebenden, molekularbiologischen und genetischen Methoden durchsichtig zu machen, auf dasselbe Problem. Die neurobiologische Forschung geht zwar immer wieder von den psychopathologisch begründeten Phänotypen aus, die ihr unsere Diagnosesysteme vorgeben und hat mit dieser diagnoseorientierten Strategie auch einige wichtige Erfolge wie beispielsweise die Identifizierung einzelner Dispositionsgene bei der Schizophrenie erzielt. Je weiter man sich aber in einem Mehrebenenansatz methodologisch in die Richtung des mutmaßlichen Genotyps bewegt, umso mehr verlieren die Befunde an diagnostischer Spezifität. Das Problem ist seit langem bekannt und hat zu unterschiedlichen, aber allesamt „Nosologie-übergreifenden” Lösungsvorschlägen geführt. Vollmert u. Mitarb. folgen also nur der neurobiologischen Logik, wenn sie in der enormen klinischen Bandbreite affektiver Störungen eher ein Forschungshemmnis sehen, das von ihnen entwickelte Netzwerkmodell vorerst nur auf Depression generell beziehen und im Übrigen die Aufdeckung von Subtypen oder Subgruppen, die tatsächlich durch unterschiedliche neurofunktionelle Normabweichungen validiert wären, zu einer Zukunftsaufgabe erklären. Eine allzu große „pathofunktionelle Euphorie” ist allerdings nicht wirklich angebracht, weil sich dabei wahrscheinlich auch die von den Autoren noch unterstellte Abgrenzungsmöglichkeit der affektiven Störungen von anderen psychischen Erkrankungen als unhaltbar erweisen wird.

Die aktuellste Variante „Nosologie-übergreifender” Forschungsstrategien läuft heute darauf hinaus, die klinischen Diagnosen durch so genannte Endophänotypen zu ersetzen oder zumindest doch zu ergänzen [6]. Damit sind quantitative neuropsychologische, neurophysiologische oder auch durch Hirnbildgebung definierbare Befundaggregate gemeint, die mit dem jeweiligen klinischen Phänotyp genetische Ursachenfaktoren teilen. Sie sollten also auch schon in den Prodromalstadien der Erkrankung und bei den biologischen Angehörigen der Erkrankten nachweisbar sein und böten zudem den Vorteil, dass sie sich teilweise auch tierexperimentell untersuchen lassen. Besonders weitsichtig hat sich beispielsweise schon Gerd Huber [7] in diese Richtung bewegt, als er „substratnahe”, mit hirnstrukturellen Bildgebungsbefunden sowie neuropsychologischen, neurophysiologischen und neurobiochemischen Normabweichungen korrelierte Basisstörungen beschrieb und sie im Sinne eines Suchfokus in der Schizophrenieforschung für wichtiger als die klinischen Diagnosen hielt.

Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun aus dem derzeitigen Forschungsstand ziehen? Dass die Diagnosen in der Psychiatrie auch heute noch weit davon entfernt sind, ätiologisch und pathogenetisch aufgeklärte und durch diese Ätiopathogenese medizinisch von einander abgrenzbare Krankheiten zu repräsentieren, ist jedem Kliniker bestens bekannt. Nicht von ungefähr befindet sich ja die psychiatrische Diagnostik seit rund 150 Jahren in einem andauernden Revisionsprozess, dessen Ende sich noch keineswegs absehen lässt [8]. Ob die Forschung eines Tages die durchgängige Annahme einer neurofunktionellen Heterogenität nicht nur der affektiven, sondern auch vieler anderer psychischer Störungen belegen und uns mit zahlreichen neuen, heute noch unbekannten Diagnosen konfrontieren wird, bleibt abzuwarten. Das Ausmaß, in dem auch die Psychiatrie von dem tatsächlich rasanten methodologischen Fortschritt der Neurowissenschaften profitiert, stimmt optimistisch, sollte jedoch nicht zu einer vorschnellen Entwertung der klinischen Diagnosen führen. Depression global lässt sich nicht adäquat behandeln, wir benötigen weiterhin die klinisch-psychopathologische Differenzierung, auch wenn sie uns nicht mehr als eine vorläufige Orientierungshilfe bieten kann. Endophänotypen mögen derzeit der aussichtsreichste Bezugspunkt für Genotyp-Phänotyp-Analysen sein, man muss aber von der Forschung dann auch noch verlangen, dass sie von hier aus die Brücke zu für Diagnostik und Therapie geeigneten Phänotypen schlägt.

Literatur

  • 1 Braus D F. Wahrnehmen zeitlicher Relationen, neuronale Synchronisation und die Schizophrenien.  Fortschr Neurol Psychiat. 2002;  70 591-600
  • 2 Schmitt A, Weber-Fahr W, Jatzko A, Tost H, Henn F A, Braus D F. Aktueller Überblick über strukturelle Magnetresonanztomographie bei Schizophrenie.  Fortschr Neurol Psychiat. 2001;  69 105-115
  • 3 Braus D F, Brassen S, Weimer E, Tost H. Funktionelle Kernspintomographie (fMRT) und Psychopharmakeffekte: eine Standortbestimmung.  Fortschr Neurol Psychiat. 2003;  71 72-83
  • 4 Habel U, Posse S, Schneider F. Funktionelle Kernspintomographie in der klinischen Psychologie und Psychiatrie.  Fortschr Neurol Psychiat. 2002;  70 61-70
  • 5 Vollmert C, Tost H, Brassen S, Jatzko A, Braus D F. Depression und moderne Bildgebung. Eine Übersicht des aktuellen Forschungsstandes zur Anwendung bildgebender Verfahren bei depressiven Störungen.  Fortschr Neurol Psychiat. 2003;  71 1-11
  • 6 Kennedy J L, Farrer L A, Andreasen N C, Mayeux R, St George-Hyslop P. The genetics of adult-onset neuropsychiatric disease: complexities and conundra?.  Science. 2003;  302 822-826
  • 7 Huber G. Psychiatrische Aspekte des Basisstörungskonzepts. In Süllwold L, Huber G (eds.). Schizophrene Basisstörungen. Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1986: 39-143
  • 8 Klosterkötter J. Diagnose und Prognose in der Psychiatrie.  Fortschr Neurol Psychiat. 2004;  72 67-69

Univ.-Prof. Dr. 
Joachim Klosterkötter

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie · Universität zu Köln

Joseph-Stelzmann-Str. 9

50924 Köln

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