Rofo 2002; 174(9): 1079-1080
DOI: 10.1055/s-2002-33934
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Nach der Wahl ist vor der Wahl . . .
Und nach der Reform ist vor der Reform . . .

The day after elections is the first day of the next campaign, and the day after reforms is the start of the next debate for reformF. U. Montgomery
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Publication Date:
09 September 2002 (online)

Die Parteien haben ihre Programme zur Bundestagswahl vorgelegt. Allen Programmen ist eins gemein: Sie sind bis ins Unerträgliche unverbindlich und allgemein. Und alle zeichnen sich nach wie vor dadurch aus, dass sie panische Angst vor wirklichen Strukturreformen haben. Natürlich sollen die Budgets aufhören - in Wahrheit sollen sie nur durch andere Folterinstrumente ersetzt werden. Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität wird nicht angetastet. Die einen wollen mehr Macht für die Krankenkassen durch Direktverträge, die anderen scheinbar mehr Macht für die Versicherten durch mehr Wahlfreiheit. Alle wollen den Risikostrukturausgleich reformieren. Nur jeder will eine andere Reform!

Egal wie die Bundestagswahl nun ausgeht: Große Veränderungen stehen gleichwohl ins Haus. Unsere Krankenversicherung ist in den Grundfesten erschüttert. Mit den alten Rezepten wird man sich nicht in die Zukunft retten können. Der Generationenvertrag steht auf dem Prüfstand. Ist das Umlageverfahren wirklich geeignet, den jungen Menschen von heute Vertrauen in die Finanzierung ihrer Krankenversicherung in der Zukunft zu geben? Ist es wirklich gerecht, nur die Löhne und Gehälter für die Berechnung der Krankenversicherungsbeiträge heranzuziehen? Und schließlich: Wird der Umfang des heutigen Leistungskatalogs zu halten sein? Fragen, die von der Politik beantwortet und gelöst werden müssen - bei denen wir Ärzte aber mitreden müssen. Wir haben den Sachverstand und die Expertise. Von uns müssen die Konzepte kommen: An die Idee, ein wirklich neues und intelligentes, zukunftsfähiges, europaweit portables und auch die Demographie und den medizinischen Fortschritt berücksichtigendes Krankenversicherungssystem zu konzipieren, traut sich sonst niemand. Ideen- und Konzeptionslosigkeit regieren, statt Perspektive und Vision. Es ist schon beschämend, wie wenig Raum die langfristige Zukunft der GKV in den Wahlprogrammen im Verhältnis zu anderen Themen einnimmt, wenn man zugleich bedenkt, dass der Gesundheitshaushalt etwa genauso groß ist wie der Bundeshaushalt. Dabei herrscht auch Einigkeit, dass die Krise des deutschen Gesundheitswesens in erster Linie keine Krise der Leistungen oder der Qualität ist - sie ist vor allem eine Finanzierungskrise - wir brauchen eine Neubestimmung der Finanzierungsgrundlagen unseres sozialen Sicherungssystems gegen Krankheit. Ein neues System der Mittelaufbringung in der Krankenversicherung muss dabei nicht nur die Auswirkungen der Demographie berücksichtigen und den Generationenkonflikt verhindern, der zur Auflösung unserer gesellschaftlichen Strukturen führen wird, es muss auch den Kranken die Teilhabe am Fortschritt weiter ermöglichen.

Unser heutiges Finanzierungssystem baut auf Sozialpartnerschaft in einer Gesellschaft der „angestellten Vollbeschäftigung”. Anhaltende Massenarbeitslosigkeit und Modernisierung von Beschäftigungsverhältnissen wie bei „Scheinselbständigkeit” und in einer „Dienstleistungsgesellschaft” stellen die besondere Rolle der Arbeitgeber und ihrer Organisationen im Sozialversicherungsbereich infrage. Erst eine Abkopplung der Beiträge von Beschäftigungsverhältnis und Grundlohn würde die wirtschaftliche Flexibilität, Wettbewerb und Eigenverantwortung bringen, die Voraussetzungen der Zukunftsentwicklung sind.

1 Reformkommission Soziale Marktwirtschaft: Effiziente Krankenversicherung als Voraussetzung für ein hohes Leistungsniveau im Gesundheitswesen (Gütersloh 1999).

Dr. med. Frank Ulrich Montgomery

Arzt für Radiologie
Vorsitzender des Marburger Bundes, Präsident der Ärztekammer Hamburg

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