Sprache · Stimme · Gehör 2012; 36(04): 196
DOI: 10.1055/s-0032-1333202
Interview
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Hörtherapie in der täglichen Praxis des Hörgeräteakustikers

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Publication Date:
27 December 2012 (online)

? Herr Becker, was sagen Sie einem Patienten, der zum ersten Mal ein Hörgerät bekommen soll, also unerfahren ist?

Bei Schwerhörigen, die zum ersten Mal mit Hörgeräten versorgt werden, ist zu- nächst zu beachten, dass in der Regel eine Schwerhörigkeit bereits länger vorliegt. Dies führt zu der sog. "Hörentwöhnung": man hat gewisse Schallanteile schon längere Zeit nicht mehr wahrgenommen und das Gehör hat sich an das veränderte Klangbild gewöhnt. Im Rahmen der Hörgeräteanpassung wird das durch die "gleitende" Anpassung berücksichtigt, bei der z. B. im Hochtonbereich zunächst nicht die volle Verstärkung realisiert wird. Damit wird dem Hörgeräte-Träger die Möglichkeit gegeben, sich an das Tragen der Hörgeräte und das Klangbild zu gewöhnen. Im Laufe der Anpassung wird die Verstärkung dann an die Zielkurve herangeführt. In dieser Phase wird der Hörgeräte-Träger aktiv vom Akustiker begleitet und dazu angeregt, sich bewusst verschiedenen Hörsituationen auszusetzen.

Die Anpassung der Hörgeräteparameter an ganz verschiedene Situationen können wir ermöglichen, in dem über mehrere Lautsprecher verschiedenste Hörsituationen wie Versammlungen, Verkehrslärm, Gespräche, Musik simuliert werden und dabei dem Betroffenen nahegebracht werden können.

Sehr wichtig ist auch – gerade bei der Erstanpassung – eine genaue Aufklärung, wie Hören funktioniert und vor allem, was ein Hörgerät leisten kann, aber auch, was es nicht kann.

? Das sind ja alles Elemente der Hörtherapie – ist denn Hörtherapie überhaupt ein Thema für Sie? Weisen HNO-Ärzte vielleicht darauf hin?

Im Prinzip kann man diese Art der Anpassung als eine Art von Hörtherapie sehen. Sie ist Bestandteil einer fachgerechten Hörgeräteanpassung, Umfang und die Übungen werden individuell auf den Patienten abgestimmt. Eine systematische Ausbildung dazu findet nur in gewissem Maß im Rahmen der Ausbildung zum Hörgeräte-Akustiker statt. Bei der Diagnose einer Schwerhörigkeit durch den HNO-Arzt sollte eine Analyse der Kommunikationsbedürfnisse und -wünsche des Betroffenen neben der Audiometrie eine zentrale Rolle spielen – genau so wie die Hörgeräte-Versorgung sich nicht nur auf den reinen Ausgleich der Hörkurve durch geeignete Verstärkung reduzieren darf.

? Was halten sie von der Anpassungsstrategie, vor der eigent-lichen Versorgung bereits ein Hörtraining durchzuführen?

In einer Hörtherapie geht es doch auch darum, die Geräusche, die lange nicht gehört worden sind, denen sich der Patient entwöhnt hat, wieder zu erfahren, sich daran zu gewöhnen. Dies gilt besonders auch für die eigene Stimme, die vielen erstmaligen Hörgeräteträgern zunächst anders und fremd vorkommt. Die Durchführung eines Hörtrainings schon vor einer Hörgeräteversorgung erscheint uns daher weniger sinnvoll, da das Hörtraining ja dann nur das unversorgte Gehör trainieren würde und nicht den bestmöglichen Nutzen aus der vom Hörgerät gelieferten Informationen ziehen würde. Das geht natürlich erst, nachdem der Hörverlust durch die Geräte soweit als möglich ausgeglichen ist.

? Sehen Sie in der Hörtherapie besonders Ansätze für ältere Patienten?

Prinzipiell gibt es keine Altersgrenze, aber gerade bei älteren Patienten ist die behutsame und sorgfältige Aufklärung sehr wichtig. Sie müssen besonders an das Tragen von Hörgeräten herangeführt werden, da sie häufig schon lange nicht mehr richtig gehört haben und der Hörverlust sich ja im Alter in der Regel schleichend einstellt.

Dabei spielt das Hören von Musik eine wichtige Rolle. Wir erleben dann oft, dass bei den Menschen starke Erinnerungen geweckt werden und sie dann sehr emotional reagieren, häufig fließen sogar Tränen.

? Werden Sie in Ihrer Ausbildung hörtherapeutisch ausgebildet?

Kernpunkt der Ausbildung zum Hörgeräte-Akustiker ist die duale Ausbildung. Während die Hörtherapie im theoretischen Unterricht keinen großen Stellenwert hat, spielt sie in der praktischen Ausbildung direkt am Patienten natürlich eine Rolle. Dieses Vorgehen ist zwar nicht standardisiert und damit auch sicher sehr unterschiedlich von Ausbilder zu Ausbilder, aber sie ist ein fester Bestandteil der Ausbildung zum Hörgeräte-Akustiker.

Eine stärkere systematische Einbindung wäre sicherlich sinnvoll.

? Ganz allgemein, meinen Sie, dass eine Hörtherapie hilfreich ist?

Leider wird die Hörtherapie häufig vernachlässigt, wohl auch, weil hier finanziell zu wenig Anreize geboten werden oder die Hörtherapie nicht als fester Bestandteil der Anpassung verstanden und damit auch finanziert wird.

Ich persönlich glaube, dass eine Hörtherapie sogar entscheidend für eine gute Versorgung ist, sie ist die Grundlage erfolgreicher Hörgeräteanpassung.

Herr Becker, herzlichen Dank für dieses Gespräch!

Das Interview führte Prof. Dr. Gerhard Hesse, Bad Arolsen.