Suchttherapie 2019; 20(04): 209-211
DOI: 10.1055/a-1027-0446
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Aktuelles zur Diagnose Internetbezogene Störungen

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Publication Date:
07 November 2019 (online)

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Dr. Wölfling (Mainz) im Gespräch mit PD Dr. Rumpf, Leiter der Forschungsgruppe S:TEP (Substanzbezogene und verwandte Störungen: Therapie, Epidemiologie und Prävention) der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Lübeck

In den letzten Jahren wird in Fachkreisen und in der Öffentlichkeit das Suchtpotenzial von (Online-) Computerspielen und anderen Internetapplikationen als Suchterkrankung häufig diskutiert. Im Jahr 2013 wurde durch die American Psychiatric Association (APA) „Internet Gaming Disorder“ als Forschungsdiagnose im Diagnostic Statistical Manual (DSM-5) aufgenommen. Ende des Jahres 2018 wurde bekannt, dass die Implementierung der Internetbezogenen Störungen in das ICD-11 im Suchtkapitel als offizielle Diagnose durch die WHO geplant ist.

Im folgenden Interview klärt Herr PD Dr. Rumpf, einer der führenden Experten zum Thema Pathologisches Glücksspiel und internetbezogene Störungen, über den Stand der aktuellen Diskussion zum Störungsbild auf.

Herr Rumpf, sie waren in den vorbereitenden Gremien zur 72. Weltgesundheitsversammlung beteiligt. Können Sie uns die aus Ihrer Sicht relevanten Meilensteine des Entscheidungsfindungsprozesses auf dem Weg zur Anerkennung zu einer offiziellen Diagnose – Internetbezogene Störungen – nachzeichnen?

Die Expertengruppe der WHO hat sich erstmals 2014 in Tokio getroffen und setzt seitdem die jährlichen Konsultationen zum Thema Verhaltenssüchte fort. Ein wichtiger Meilenstein war bei dem ersten Treffen die Sichtung der Literatur, um zunächst einmal zu klären, ob internetbezogene Störungen aus Public Health Sicht von Bedeutung sind, was eindeutig bejaht wurde. Beim darauffolgenden Treffen in Seoul ging es um die Entscheidung, welche Internetanwendungen auf Basis der Evidenz für eine Diagnose in der ICD-11 infrage kommen. Es wurde diskutiert, ob eine übergeordnete Störungsgruppe zu internetbezogenen Störungen/Internetsucht durch die Forschungslage begründet werden kann. In der Diskussion entwickelte sich aber zunehmend die Sichtweise, dass lediglich für das Computerspielen (Gaming) genügend Evidenz vorliegt.

Ein weiterer Meilenstein war die Entscheidung unter der Federführung der WHO ein diagnostisches Interview sowie ein Screeningverfahren zu entwickeln. Dieses Projekt hat dieses Jahr gestartet. Damit werden notwendige Voraussetzungen für eine einheitliche Diagnostik, für ein Public Health Monitoring und die Fallfindung geschaffen werden.

War es aus Ihrer Sicht ein langer Weg?

Es war ein durchaus schwieriger Prozess, da es zu der Zeit der initialen Entscheidung der Arbeitsgruppe auch Bestrebungen anderer Forscher gab, sowohl die Glücksspielstörung als auch die Computerspielstörung in der ICD-11 den Impulskontrollstörungen zuzuordnen. Der Expertengruppe ist es dann gelungen einen wissenschaftlichen Diskurs hierüber anzustoßen, an dessen Ende die Aufnahme beider Störungen in die neu geschaffene Kategorie Verhaltenssüchte im Beta Draft von ICD-11 stand. Das war ein wichtiger Schritt. Später entstand eine weitere fachliche Diskussion, bei der eine Gruppe von Forschern sich gegen die Aufnahme der Gaming Disorder in die ICD-11 aussprach. Diese Überlegungen waren wenig durch klinische und Public Health Gesichtspunkte untermauert, sondern eher durch forschungstheoretische Überlegungen sowie die Befürchtung der Pathologisierung von Spielern vorangetrieben. Man warf der Entscheidung vor, diese sei im Rahmen einer moralischen Panik gefällt worden. Diese Argumente wurden dann von der Spieleindustrie nur allzu gern aufgegriffen, die massiv versuchte, auf den Prozess der Aufnahme der Diagnose in die ICD-11 einzuwirken. Es stand die Befürchtung im Raum, dass die Spieleindustrie durch ihre Lobbyarbeit einzelne Länder veranlassen könnte, ein Veto bei der World Health Assembly gegen die Aufnahme der Diagnose einzulegen. Die WHO-Gruppe hat in dieser Phase mit Unterstützung weiterer Forscher in mehreren Publikationen auf die vorhandene Evidenz hingewiesen und insbesondere die Aspekte der klinischen Notwendigkeit und der Public Health Perspektive in den Vordergrund gestellt. Es gab also durchaus einige Hürden und schwierige Prozesse.

Bisher findet man in den Veröffentlichungen der WHO 3 Cluster von diagnostischen Kriterien, die mit Kontrollverlust, Interessensverlust und der Fortführung des Konsums trotz negativer Konsequenzen über einen Zeitraum von 12 Monaten beschrieben sind. Vermissen Sie Kriterien, auch im Vergleich zu der etwas ausführlicheren Listung von Kriterien der Forschungsdiagnose Internet Gaming Disorder im DSM-5?

Es gab in den Studien zum DSM-5 durchaus Befunde, die das Gesamtkonzept empirisch untermauerten. Gleichzeitig zeigte sich, dass es einerseits „schwache“ und andererseits „schwierige“ Kriterien gab. Erstere unterschieden nicht so gut zwischen Spielleidenschaft und pathologischem Spielern; hierzu zählten die Merkmale gedankliche Vereinnahmung und Emotionskontrolle. Zu den schwierig zu messenden Kriterien zählten Toleranzentwicklung und Entzugserscheinungen. Daher ist der Verzicht auf diese und andere Merkmale (wie Täuschung anderer über das Ausmaß des Spielens) ein Fortschritt. Die 3 Merkmale in der ICD-11 beinhalten die wesentlichen Kennzeichen süchtigen Verhaltens, was vermutlich die Rate falsch positiver Diagnosen reduzieren wird, da auf periphere Merkmale verzichtet wird. Ich vermisse also kein DSM-5 Kriterium. Allerdings sind das bislang vorwiegend theoretische Überlegungen. Es existieren derzeit kaum Daten dazu, sodass ich gespannt auf die zukünftigen Befunde bin.

Die diagnostischen Kriterien stehen aktuell gleichrangig nebeneinander. Sehen Sie eine Hierarchie? Welche dieser diagnostischen Kriterien würden Sie aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit heraus als besonders bedeutend beschreiben und warum?

Durch die Reduktion auf die zentralen Charakteristika von Sucht sehe ich eher eine Gleichwertigkeit der Merkmale. Neben diesen 3 Hauptmerkmalen gibt es allerdings auch noch das notwendige Zusatzkriterium, nachdem das Verhalten zu bedeutsamen Beeinträchtigungen in der funktionellen Lebensbewältigung geführt haben muss, um eine Diagnose zu stellen. Hier findet sich ein weiterer Unterschied zum DSM-5, bei dem die Erfüllung der Kriterien die Beeinträchtigung belegen soll. Wenn man von einer Hierarchie sprechen will, so ist das Zusatzmerkmal der funktionellen Beeinträchtigung in der ICD-11 das zentrale Kriterium, welches maßgeblich unterscheidet, ob ein Krankheitswert vorliegt oder nicht.

Derzeit wird davon ausgegangen, dass alle drei Merkmale und zusätzlich die funktionelle Beeinträchtigung für die Diagnosestellung vorliegen müssen. Allerdings fehlen dazu noch aussagekräftige Daten. Erste Befunde deuten allerdings darauf hin, dass möglicherweise auch 2 Merkmale plus Beeinträchtigung genügen und zu realistischeren Prävalenzschätzungen führen könnten. Aber hier bedarf es – wie fast immer – weiterer Forschung. Aus einer anderen Sicht könnte man als besonders bedeutsam das Kriterium des Kontrollverlusts (Merkmal 1) herausgreifen, da es sich möglicherweise als erstes entwickelt und das Verhalten daraufhin zur Priorität im Leben wird (Merkmal 2) und es schließlich auch dann fortgesetzt wird, wenn bedeutsame negative Konsequenzen auftreten (Merkmal 3).

Die von Ihnen federführend durchgeführte PINTA-Studie hat 2011 erstmals Prävalenzen der Internetbezogenen Störungen repräsentativ für Deutschland berichtet. Nun ist etwas Zeit vergangen. Was wäre Ihre Erwartung bzgl. der Entwicklung der Prävalenzzahlen im zeitlichen Verlauf – von 2011 bis heute? Sehen sie eine Zunahme der Problematik der Internetbezogenen Störungen?

Leider sind ja gute epidemiologische Studien ein teures Vergnügen, sodass wir darüber keine gesicherten Erkenntnisse haben, da es eine PINTA-II-Studie bislang nicht gab. Allerdings gibt es eine Reihe von Hinweisen, dass die Prävalenz steigen könnte. Dazu zählen die Befunde der Drogenaffinitätsstudie, bei welcher insbesondere bei jungen Altersgruppen eine deutliche Zunahme zwischen den Jahren 2011 und 2015 beobachtet wurde. Auch in anderen Ländern wie z. B. Japan weisen epidemiologische Studien auf ein Ansteigen hin.

Wir können jedoch nicht ausschließen, dass sich nicht das wirkliche Vorkommen von internetbezogenen Störungen geändert hat, sondern lediglich die Beantwortungsmuster im Rahmen der allgemeinen Digitalisierung und den geänderten Verhaltensweisen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Durch den digitalen Wandel sind bestimmte Merkmale unter Umständen zu normalem Verhalten geworden, welche früher als auffällig galten und für das Vorliegen einer Pathologie gewertet wurden. Ein solches Merkmal könnte z. B. die Emotionsregulation durch Internetnutzung sein.

Sind bestimmte Altersgruppen aus Ihrer Sicht besonders vulnerabel, eine Internetbezogene Störung zu entwickeln?

Es sind insbesondere junge Menschen, die besonders empfänglich für riskantes Verhalten sind, da ihre Handlungssteuerung noch nicht genügend entwickelt ist. Das hängt einerseits mit der erst langsam im Verlauf der Entwicklung stattfindenden Reifung frontaler Hirnstrukturen zusammen, andererseits auch mit Probierverhalten, mangelnder Erfahrung und dem Einfluss Gleichaltriger. Das gilt für die substanzbezogenen Süchte, aber auch für internetbezogenen Störungen. Es kommt hinzu, dass jetzt eine Generation heranwächst, die z.T. schon im Alter von wenigen Jahren das Tablet oder das Smartphone als Mittel der Emotionsregulation erfahren hat. Eine solche auf Dauer eher dysfunktionale Bewältigungsstrategie könnte prägend sein und die Weichen für eine spätere Suchtentwicklung stellen.

Sie waren in die Expertendiskussionen um die Aufnahme der Internetbezogenen Störungen in das ICD 11 eng eingebunden: Wir sind neugierig, können Sie uns etwas zu den Argumenten der Befürworter – aber auch der Gegner der Aufnahme dieser Diagnose berichten?

Tatsächlich gab es innerhalb der Expertengruppe bei der WHO keinen sehr großen Dissens. Die Erkenntnis, dass internetbezogene Störungen Public Health Relevanz aufweisen fand ein breites Echo. Hinsichtlich der Frage, welche Applikationen als Störung aufgenommen werden sollten, gab es zunächst auch Stimmen, die mehr als nur die Gaming Disorder als störungsrelevant erachteten. Argumente hierfür waren Ähnlichkeiten in Phänomenologie, Neurobiologie und funktionaler Beeinträchtigung bei anderen Internetanwendungen wie das Nutzen sozialer Netzwerke oder das extensive Konsumieren von Online-Pornografie. Das Hauptargument nur die Computerspielstörung aufzunehmen bestand darin, dass die Evidenz bei den anderen Störungen noch zu schwach ist. Allerdings gibt es in der ICD-11 die Möglichkeit andere internetbezogenen Störungen unter „other specified behavioral addictions“ zu klassifizieren.

Diese Frage richtet sich an Sie, so wie ich Sie als Befürworter der Aufnahme der Diagnose kennen lernen konnte: Welche Implikationen für die Zukunft im Suchthilfesystem Deutschlands sehen Sie?

Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser Schritt ganz entscheidend war, um zukünftig wirksame Prävention und Therapie insbesondere für die Computerspielstörung bereit zu stellen. Die Bedenken, welche im Rahmen der Aufnahme der Störung in die ICD-11 geäußert wurden, sind ein Beleg dafür, dass derzeit noch ein fehlendes Selbstverständnis hinsichtlich dieser Erkrankung vorliegt. Das ist letztlich gut verstehbar, zumal es sich um ein relativ neues Phänomen handelt. Die offizielle Diagnose wird zu einem weiteren Verständnis, einer Zunahme von Forschung und Weiterbildung und der Entwicklung, Verbesserung und Evaluation von Behandlungs- und Vorbeugungskonzepten führen. Später wird man sich vielleicht einmal wundern, warum der Weg in die ICD-11 so steinig war.

Und die letzte Frage: Wird die Anerkennung der Diagnose der Internetbezogenen Störungen dazu führen, dass Betroffene einfachen Zugang zu ambulanten oder stationären Therapieangeboten erhalten? Wie schätzen Sie das ein?

Man darf an dieser Stelle nicht vergessen, dass bereits eine ganze Reihe von Einrichtungen hervorragende Angebote bereithalten. Die Anerkennung der Diagnose ist aber eine zentrale Notwendigkeit für die weitere Entwicklung. Hierdurch entsteht die Verpflichtung, ambulante und stationäre Therapieangebote flächendeckend bereit zu stellen und zu finanzieren. Hilfreich für den weiteren Prozess wäre weiterhin die Entwicklung von Behandlungsleitlinien.

Um nicht nur die Spitze des Eisbergs zu versorgen, gilt es allerdings auch neben den Therapieangeboten Maßnahmen der Frühintervention zu entwickeln und zu implementieren. Gleiches gilt für evidenzbasierte Konzepte der Prävention. Leider haben wir hier einen Wildwuchs zu verzeichnen, der nicht immer durch eine State oft the Art Evaluation belegt ist. Das birgt die Gefahr, dass einerseits Geld in unwirksame Programme fließt und andererseits den Betroffenen nicht adäquat geholfen werden kann. Dieser Umstand, dass Maßnahmen in Therapie, Frühintervention und Prävention in die Versorgung übernommen werden, ohne dass eine wissenschaftliche Überprüfung vorliegt, macht mir Sorgen. Gleichzeitig freue ich mich über hervorragende Meilensteine wie die STICA-Studie, welche weltweit die beste Evidenz für die Wirksamkeit von therapeutischen Interventionen bei internetbezogenen Störungen bereitstellen konnte. Ich wünsche mir, dass wir diesen Weg weiter beschreiten – auch im Hinblick auf Frühintervention und Prävention. Gleichzeitig wünsche ich mir einen intensiven Austausch mit den jeweiligen Akteuren der Versorgung, um gemeinsam mit der Forschung für die betroffen Individuen die wirksamsten Maßnahmen anzubieten. Das Ziel sollte sein, den Betroffenen Wege aus der Erkrankung zu ermöglichen, sei es mit intensiver Unterstützung oder auch ohne formelle Hilfe durch frühe Maßnahmen und Prozesse der Selbstregulation und Stärkung des Selbst.

Herr PD Dr. Rumpf: Haben Sie herzlichen Dank für dieses Interview!