psychoneuro 2008; 34(5): 276-277
DOI: 10.1055/s-2008-1081029
Blickpunkt

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

3. ADHS-Gipfel 2008 - ADHS-Therapie: Individuell und patientenorientiert

Further Information

Publication History

Publication Date:
03 July 2008 (online)

 
Table of Contents

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist oft eine zeitlich unbegrenzte Entwicklungsstörung. Die Therapie sollte wirksam und verträglich sein, insbesondere dann, wenn eine Langzeitbehandlung angestrebt wird.

Methylphenidat wird seit mehr als 50 Jahren in Deutschland zur Behandlung der ADHS eingesetzt und zeichnet sich durch eine hohe Effektstärke (number needed to treat, NNT = ca. 3-4) und ein moderates Nebenwirkungsprofil (Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit, Magenbeschwerden) aus.

Dass die Therapie der ADHS mehr beinhaltet als die Reduktion der Kernsymptomatik (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität) und die Verbesserung des Funktionsniveaus, war ein Hauptaugenmerk auf dem diesjährigen ADHS-Gipfel in Hamburg.

#

Über- oder Unterversorgung in Deutschland?

Eine Vollerhebung von Abrechnungsdaten der gesetzlichen Krankenversicherungen aus Nordbaden aus 2003 mit ca. 2,2 Millionen Versicherten zeigt beispielhaft und repräsentativ die Versorgungssituation der von ADHS betroffenen Kinder in Deutschland [7]. Von 11 850 Patienten mit einem Altersgipfel von ca. 9 Jahren, bei denen nach ICD-10 eine hyperkinetische Störung diagnostiziert worden war, zeigten ca. 75% mindestens eine weitere koexistierende psychiatrische Auffälligkeit (aggressive Verhaltensstörungen, Störung des Sozialverhaltens, Depression, Angststörung, Zwangsstörung, Sucht). Diese seien, so der Gesundheitsökonom Prof. Michael Schlander, Mannheim, bei der realen gesundheitsökonomischen Betrachtung der Kosten-Nutzen-Effektivität künftig mit zu berücksichtigen.

Zudem ging Schlander auf die aktuelle Versorgungssituation in Deutschland ein [6]: Zwar sei für die letzten 15 Jahre ein 50-facher Anstieg der Verordnungszahlen von Methylphenidat zu verzeichnen, die individuelle Versorgung gestalte sich jedoch recht heterogen: Über ein Viertel der kleinen Patienten erhielt nach Analyse der Daten überhaupt keine Therapie. 40% der ADHS-Patienten bekommen zwar derzeit eine Methylphenidattherapie, allerdings dauere diese in mehr als 50% der Fälle nicht länger als ein Vierteljahr. "Die aktuelle Datenlage gibt keine Hinweise auf eine unangemessene Überversorgung mit Methylphenidat in Deutschland", so die Interpretation Schlanders, "im Gegenteil: Es ist ein weiterer Anstieg der Verordnungen zu erwarten, der die Unterversorgung der letzten Jahre korrigieren wird."

#

Kosteneffektiv therapieren

Vor dem Hintergrund aktueller gesundheitspolitischer Diskussionen gewinnen gesundheitsökonomische Analysen an Gewicht, vor allem dann, wenn mehrere Therapieoptionen zur Wahl stehen. Eine Analyse der MTA-Studie bezüglich der Wirksamkeit verschiedener Therapieansätze (individuell angepasste Medikation, Verhaltenstherapie, ihre Kombination sowie die übliche, unspezifische Standardversorgung) zeigt, dass die Ganztagestherapie mit Methylphenidat allen anderen Therapieoptionen bezüglich der Kosten-Nutzen-Effektivität deutlich überlegen ist [8]. Die Behandlungskosten einer intensiven medikamentösen Therapie liegen deutlich unter den Kosten für verhaltens- und psychotherpeutische Maßnahmen, erläuterte Schlander. Zudem führten langwirksame Retardpräparate (z.B. OROS®-MPH) zu einer nachweislich besseren Compliance und einer höheren klinischen Wirksamkeit. Auch habe sich gezeigt, dass die Gabe von Methylphenidat in der Langzeitbehandlung einen eher protektiven Effekt bezüglich des diskutierten Suchtrisikos hat [3], [4], [9], wie Prof. Michael Huss, Mainz, erklärte. Möglicherweise unterbricht die Therapie mit dem Präparat die in vielen Fällen drohende Abwärtsspirale durch einen psychologischen, aber auch einen direkten biologischen Schutzmechanismus.

#

Genauso wichtig: Lebensqualität

In den klinischen Studien spielen Patientenbedürfnisse bisher eine eher untergeordnete Rolle. "Diese sind aber gerade bei ADHS zu berücksichtigen", betonte Dr. Martin Gerwe, Fachbereichsleiter ZNS der Janssen-Cilag GmbH, Neuss, und verwies auf eine Studie, in der die Lebensqualität von Patienten mit einer unbehandelten ADHS sogar unter der von Patienten mit einem Asthma bronchiale rangierte [2].

Im sogenannten Discrete-Choice-Experiment müssen sich die Teilnehmer aus mehreren, nach dem Zufallsprinzip zusammengestellten Kombinationen an positiven und negativen Therapieeigenschaften für eine entscheiden. Es simuliert die Therapieentscheidung aus Sicht der Betroffenen auf der Basis ihrer bisherigen Therapieerfahrungen und liefert valide und robuste Daten als Basis für eine zielgerichtete Optimierung von Therapieangeboten. "Die Patienten haben eine klare Vorstellung, was eine Therapie leisten soll und erhoffen sich vor allem eine Stabilisierung ihrer emotionalen und sozialen Lage (Abb. [1])."

Zoom Image

Abb. 1 Relative Beweggründe für eine Therapieentscheidung

In zwei prospektiven, nichtinterventionellen Studien wurden die Patienten nach einer Umstellung von einem kurz wirksamen Methylphenidat [5] bzw. einem lang wirksamen Methylphenidat oder Atomoxetin [10] auf die neue Galenik (OROS®-MPH) bezüglich Symptomatik, Funktionsniveau, Verträglichkeit und Lebenqualität (gemessen nach dem Inventar zur Erfassung der Lebensqualität, ILK) untersucht. Die individuelle Therapieentscheidung lag allein beim behandelnden Arzt. Die Umstellungsgründe waren eine mangelnde Effizienz der Vorbehandlung oder eine Kombination aus mangelnder Effizienz und dem Auftreten von Nebenwirkungen. Die Studiendauer war auf je drei Monate angelegt.

Nach der Umstellung von einem kurz wirksamen Methylphenidat auf die neue Galenik (n = 598, mittleres Alter 10,4 ± 2,6 Jahre) kam es zu einer signifikanten Reduktion der Symptomatik und zu einer deutlichen Verbesserung des Funktionsniveaus [5]. Ebenso führte die Umstellung von einem lang wirksamen Methylphenidat bzw. Atomoxetin (n = 180 bzw. 42, mittleres Alter 10,9 ± 2,4 Jahre) zu einer signifikanten Verbesserung der Effektivität, vor allem am Nachmittag und am frühen Abend [10]. Insgesamt stuften die Patienten bei Erreichen des Studienendes die gewonnene Lebensqualität fast wieder auf Normalniveau ein (Abb. [2]).

Zoom Image

Abb. 2 Verbesserung der Lebensqualität nach Umstellung von kurz wirksamen Methylphenidat (MPH), einem anderen lang wirksamen Methylphenidat (ER-MPH) und Atomoxetin (ATX) auf OROS®-MPH gemäß dem ILK (Kinder-/Jugendlichen-Fragebogen)

#

Bei der Therapieentscheidung: Auf die Bedürfnisse achten

Ob und wie man eine Aufmerksamkeitsstörung behandelt, wird individuell gelöst. Neben den medikamentösen Therapieformen eröffnet der multimodale Ansatz weitere Behandlungsoptionen. Die Therapieentscheidung sei abhängig von der Belastung im Alltag und der individuellen Entwicklungssituation des Patienten zu treffen, so Prof. Jörg Fegert, Ulm.

"Wir sind gefordert alle nonformalen Möglichkeiten aus dem "wahren" Leben (Rolle und Belastungen des Kindes im familiären, schulischen und sozialen Umfeld, Ausdauersport, Suchtrisiko etc.) systematisch und gewinnbringend für die Kinder einzusetzen", schloss Prof. Michael Huss, Mainz.

Vor diesem Hintergrund wird in Zukunft eine Ganztagestherapie zur Behandlung der ADHS im Fokus stehen. Methylphenidat ist in der medikamentösen Therapie der ADHS das Mittel der 1. Wahl. In der retardierten Form mit der OROS®-Technologie wirkt Methylphenidat durch die kontinuierliche Wirkstofffreisetzung bis zu 12 Stunden lang und deckt damit auch die Nachmittage und frühen Abendstunden ab (Fachinformation, Stand: Dezember 2006). Die tägliche Einmalgabe hilft, die Compliance zu verbessern und eine Stigmatisierung zu vermeiden.

Dr. Sabine Vogel, Heidelberg

Quelle: ADHS-Gipfel 2008 - Perspektiven der ADHS-Behandlung - Von problemzentrierten zum entwicklungsorientierten Ansatz am 5. und 6. April 2008 in Hamburg

Mit freundlicher Unterstützung der Janssen-Cilag GmbH, Neuss

#

Spezifische Wirksamkeit von Methylphenidat

Methylphenidat blockiert die Wiederaufnahme von Noradrenalin und Dopamin in das präsynaptische Neuron und erhöht deren Verfügbarkeit im synaptischen Spalt. Bildgebende Untersuchungen der extrazellulären Dopaminkonzentration zeigten eine starke Korrelation zwischen Response auf Methylphenidat und der Dichte dopaminerger Transporter (DAT). So war eine positive Response auf den Wirkstoff mit einer erhöhten DAT-Dichte assoziiert, genauso korrelierte eine ausbleibende Response mit einer reduzierten DAT-Dichte (bezogen auf den Mittelwert vor der Behandlung). Aufnahmen mit der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) in einem kognitiven Lernmodell zeigten zudem eine deutliche Zunahme der Aktivierung bestimmter Hirnregionen bei ADHS-Patienten unter der Gabe von langwirksamen Methylphenidat [1]. Diese korrelierte ebenso mit einer Therapieresponse. Offensichtlich deckt sich der dopaminerge Effekt des Wirkstoffes mit einer spezifischen therapeutischen Wirkung, so die Interpretation von Prof. Walter E. Müller, Frankfurt.

#

Literatur

  • 01 Bush G . et al . Arch Gen Psychiatry. 2008;  65 (1) 102-114
  • 02 Escobar R . et al . Pediatrics. 2005;  116 (3) e364-369
  • 03 Huss M . Lehmkuhl U . J Atten Disord. 2002;  6 (Suppl 1) 65-71
  • 04 Huss M . et al . J Neural Transm. 2008;  115 (2) 335-339
  • 05 Franke F et al. Changes in Quality of Life and Daily Functioning in Patients with ADHD treated with Extended Release Methylphenidate (OROS®-MPH). Results from an Open Label Naturalistic Study. Poster präsentiert auf der 34. Jahrestagung der Gesellschaft für Neuropädiatrie vom 3. bis 6. April 2008 in Jena. 
  • 06 Schlander M . Eur Child Adolesc Psychiatry. 2007;  1 (1) 13
  • 07 Schlander M . et al . Eur Child Adolesc Psychiatry. 2007;  16 (7) 430-438
  • 08 The MTA Cooperative Group. . Arch Gen Psychiatry. 1999;  56 (12) 1073-1086
  • 09 Wilens TE . et al . Am Acad Child Adolesc Psychiatry. 2003;  42 (4) 424-433
  • 10 Wolff C et al. Effektivität und Verträglichkeit von OROS® Methylphenidat (OROS-MPH) bei Patienten, die zuvor mit Atomoxetin oder retardiertem MPH (Medikinet retard®) behandelt wurden - Ergebinsse einer offenen naturalistischen Studie. Poster präsentiert auf der 34. Jahrestagung der Gesellschaft für Neuropädiatrie vom 3. bis 6. April 2008 in Jena. 
#

Literatur

  • 01 Bush G . et al . Arch Gen Psychiatry. 2008;  65 (1) 102-114
  • 02 Escobar R . et al . Pediatrics. 2005;  116 (3) e364-369
  • 03 Huss M . Lehmkuhl U . J Atten Disord. 2002;  6 (Suppl 1) 65-71
  • 04 Huss M . et al . J Neural Transm. 2008;  115 (2) 335-339
  • 05 Franke F et al. Changes in Quality of Life and Daily Functioning in Patients with ADHD treated with Extended Release Methylphenidate (OROS®-MPH). Results from an Open Label Naturalistic Study. Poster präsentiert auf der 34. Jahrestagung der Gesellschaft für Neuropädiatrie vom 3. bis 6. April 2008 in Jena. 
  • 06 Schlander M . Eur Child Adolesc Psychiatry. 2007;  1 (1) 13
  • 07 Schlander M . et al . Eur Child Adolesc Psychiatry. 2007;  16 (7) 430-438
  • 08 The MTA Cooperative Group. . Arch Gen Psychiatry. 1999;  56 (12) 1073-1086
  • 09 Wilens TE . et al . Am Acad Child Adolesc Psychiatry. 2003;  42 (4) 424-433
  • 10 Wolff C et al. Effektivität und Verträglichkeit von OROS® Methylphenidat (OROS-MPH) bei Patienten, die zuvor mit Atomoxetin oder retardiertem MPH (Medikinet retard®) behandelt wurden - Ergebinsse einer offenen naturalistischen Studie. Poster präsentiert auf der 34. Jahrestagung der Gesellschaft für Neuropädiatrie vom 3. bis 6. April 2008 in Jena. 
 
Zoom Image

Abb. 1 Relative Beweggründe für eine Therapieentscheidung

Zoom Image

Abb. 2 Verbesserung der Lebensqualität nach Umstellung von kurz wirksamen Methylphenidat (MPH), einem anderen lang wirksamen Methylphenidat (ER-MPH) und Atomoxetin (ATX) auf OROS®-MPH gemäß dem ILK (Kinder-/Jugendlichen-Fragebogen)