Klin Monbl Augenheilkd 2009; 226(1): R1-R12
DOI: 10.1055/s-2008-1039275
KliMo-Refresher

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Anwendungen von Botulinumtoxin in der Augenheilkunde

I. Lanzl1 , R.-L. Merté1 , P. Roggenkämper2
  • 1Augenklinik der TU München am Klinikum rechts der Isar, München
  • 2Universitätsaugenklinik Bonn, Bonn
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
27. Januar 2009 (online)

Grundlagen

Historie

Schon

Symptome bei akzidentellem Genuss reichen von Akkommodationslähmung über Atemlähmung bis zum Tod.

die Römer wussten um die Lebensmittelvergiftung, die wir als Botulismus bezeichnen. 1817 beobachtete und beschrieb der Arzt und Dichter Justinus Kerner den Zusammenhang zwischen dem Verzehr von Würsten und den typischen Symptomen [1]. Er beobachtete Bauern, die nach dem Verzehr ihrer Wurstkonserven starben. Die Symptome nach akzidentellem Genuss betreffen zuerst die Augen mit Akkommodationslähmung (Verschwommensehen), Augenmuskelstörungen (Doppeltsehen), zufallenden Lidern und Mydriasis. Im weiteren Krankheitsverlauf sind Lippen-, Zungen-, Gaumen- und Kehlkopfmuskel betroffen, es kommt zu Mundtrockenheit, Sprach- und Schluckstörungen. Der Betroffene bekommt typischerweise kein Fieber. In schweren Fällen breitet sich die Lähmung vom Kopf absteigend auf die Muskulatur der inneren Organe aus, es kommt zu Erbrechen, Durchfall, später Verstopfung und Bauchkrämpfen, schließlich durch Lähmung der Herz- und Atemmuskulatur zum Tod durch Ersticken oder Herzstillstand.

Ausgelöst

Die Sporen von Clostridium botulinum finden sich ubiquitär, keimen unter anaeroben Bedingungen aus und setzen Botulinumtoxin frei.

werden die Symptome durch ein unter anaeroben Bedingungen gebildetes Toxin des Bakteriums Clostridium botulinum. Clostridium botulinum bzw. seine Sporen sind in der Umwelt weit verbreitet und äußerst widerstandsfähig gegen Hitze, Frost und Austrocknen. Im Boden können sie sehr lange überdauern. Unter anaeroben Bedingungen keimen sie aus und setzen das Gift Botulinumtoxin frei, eines der gefährlichsten biologischen Gifte. Streng genommen ist Botulinumtoxin eine Sammelbezeichnung, denn es werden acht Subtypen von Botulinumtoxin unterschieden, die teilweise wirtsspezifisch und unterschiedlich stark giftig sind. Clostridium botulinum vermehrt sich rasch in Tierkadavern, selten auch in eiweißhaltigem Pflanzenmaterial.

In

Die orale Aufnahme der Bakteriensporen führt nur sehr selten zur Infektion bzw. Vergiftung.

der Lebensmittelherstellung wird das Wachstum des Bakteriums durch Pökeln verhindert. Verdorbene Lebensmittel stammen meist aus Konserven, in denen sich das anaerobe Botulinumbakterium vermehrt und Botulinumtoxin produziert hat. Auch heute noch führt in vereinzelten Fällen der Genuss von eiweißhaltigen Konserven mit nur schwach saurem oder neutralem Milieu (pH > 4,5), wie z. B. Bohnen oder Wurstwaren (lat: botulus = Wurst), zu unterschiedlich stark ausgeprägten Lähmungserscheinungen. Die Konserven sind dann in der Regel aufgebläht (Bombage). Bekannt sind jedoch auch Fälle, in denen vor allem Säuglinge mit Honig Sporen des Botulinumbakteriums aufgenommen haben, die erst im Darm aktiviert wurden, sich dort vermehrten und dadurch zu einer Vergiftung führten [2]. Die orale Aufnahme der in der Natur z. B. in Honig vorkommenden Bakteriensporen führt jedoch nur äußerst selten bei empfindlichen Menschen und Säuglingen zu einer Infektion mit anschließenden Vergiftungssymptomen. Botulismus und der Verdacht auf Botulismus sind meldepflichtig.

Justinus Kerner

A. Scott setzte Botulinumtoxin erstmals medizinisch ein, zur Behandlung von Schielpatienten.

war der erste, der einen potenziell therapeutischen Nutzen bei muskulärer Überaktivität wie der Chorea minor in Erwägung zog [3]. Erst in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde dieser Gedanke erneut aufgegriffen. Dies geschah durch den Augenarzt A. B. Scott aus San Francisco, der eine nichtoperative Muskelverlängerung bei Schielpatienten suchte. Die gewünschte chemische Substanz durfte keine systemische Toxizität und keine andauernde lokale Veränderung hervorrufen. In Tierversuchen konnten diese Eigenschaften für Botulinumtoxin Typ A nachgewiesen werden [4]. Die ersten Schielpatienten konnten Ende der 1970er-Jahre erfolgreich behandelt werden [5].

Unter der Anleitung von A. B. Scott wurden auch die ersten Patienten mit Blepharospasmus im Smith Kettlewell Institute in San Francisco behandelt [6]. Die Augenheilkunde war damit der Vorreiter in der Behandlung von Muskeln betreffenden Erkrankungen durch chemische Denervierung. Die Anwendung von Botulinumtoxin verbreitete sich anschließend mit großem Erfolg für die Patienten insbesondere in der Neurologie zur Behandlung von Dystonien [7].

Wirkmechanismus

Der

Wirkmechanismus: Blockade der Freisetzung von Azetylcholin an der neuromuskulären Endplatte und an peripheren cholinergen Synapsen.

Wirkmechanismus des Botulinumtoxins beruht auf der Blockade der Freisetzung von Azetylcholin an der neuromuskulären Endplatte und an peripheren cholinergen Synapsen. Botulinumtoxin hemmt die Erregungsübertragung von den Nervenzellen zum Muskel oder zur apokrinen Drüse. Je nach Dosierung wird die Kontraktion des Muskels schwächer oder fällt ganz aus. In gleicher Weise werden apokrine Drüsen beeinflusst. Botulinumtoxin besteht aus 2 Proteinketten (A und B). Die A-Kette ist verantwortlich für die Spezifität. Mit ihrer Hilfe dockt das Botulinumtoxin gezielt am präsynaptischen Teil der neuromuskulären Endplatte an. Durch Endozytose wird die Substanz in die synaptische Endigung aufgenommen und die Kette B spaltet sich ab. Diese Untereinheit ist in der Lage, verschiedene Proteine des Vesikelfusions-Apparats zu spalten und damit die Exozytose der Vesikel zu verhindern. Die synaptischen Vesikel können nicht mehr mit der Membran fusionieren und ihren Transmitter Azetylcholin nicht mehr in den synaptischen Spalt ausschütten. Dadurch kommt es zu einer Lähmung des Muskels oder Funktionshemmung von Drüsen. Letzteres wurde erstmals anhand der Inhibition von Schweißdrüsen im Zusammenhang mit dem Frey-Syndrom demonstriert [8].

Botulinumtoxin

Botulinumtoxin ist instabil gegenüber pH-Änderungen, Hitze und mechanischen Belastungen.

ist relativ instabil gegenüber pH-Änderungen, Hitze und mechanischen Belastungen. Deswegen ist Vorsicht bei der Lagerung und Zubereitung der Substanz geboten. Zur Behandlung muss es lokal an den gewünschten Wirkort durch Einspritzen gebracht werden.

Nach

Nach Injektion von Botulinumtoxin ist die lokale Wirkung temporär, aber während der Wirkdauer irreversibel.

einer therapeutischen Injektion baut sich die Wirkung langsam auf und erreicht nach etwa zehn Tagen ihren Höhepunkt. Neben den betroffenen Nervenenden kommt es zu einer Neuaussprossung innerhalb von etwa 3 Monaten, sodass dann langsam zunehmend die Muskeln wieder aktiviert werden können. Botulinumantitoxin würde nur in den ersten Stunden nach Injektion wirken können, sodass die Wirkung der einmal stattgehabten Injektion durch keine Gegenmaßnahmen reversibel zu machen ist. Es sollte daher eine profunde Kenntnis der anatomischen Gegebenheiten in Zielgebiet bestehen. Die Injektion kann auch bei gleichzeitiger Ableitung eines Elektromyogramms (EMG) im Muskel gesteuert oder ultraschallgesteuert erfolgen.

Beim

Manche Patienten entwickeln neutralisierende Antikörper gegen Subtyp A.

Gebrauch höherer Dosen insbesondere in der Neurologie, gibt es Patienten, die neutralisierende Antikörper gegen den Subtyp A bilden. Die Wirksamkeit der Medikamente nimmt dadurch ab oder geht ganz verloren [9]. Andere Subtypen spielen zurzeit im medizinischen Alltag nur eine geringere Rolle, kommerziell erhältlich ist nur der Typ B (Neurobloc®), der allerdings eine kürzere Wirkungsdauer hat.

Indikationen

Seit

Indikationen zur Botulinumtoxinbehandlung sind Dystonien, Hyperhidrose und Falten.

Anfang der 80er-Jahre wurde Botulinumtoxin auch in Deutschland als Arzneimittel zugelassen. Indikationen sind hauptsächlich die Behandlung von Dystonien. Im Apothekenverkauf erhältliche Präparate sind: Botox®, Dysport®, Xeomin® und Neurobloc®. Es bestehen Zulassungen für die Behandlung des Blepharospasmus für Botox®, Dysport® und Xeomin®. Für den Augenarzt weniger wichtig ist die Zulassung als Arzneimittel zur Behandlung übermäßigen Schwitzens (Hyperhidrosis axillaris [Botox®]).

In der kosmetischen Medizin besteht seit 2006 die Zulassung zur Behandlung mimisch bedingter Falten (nur der Falten der Glabella) für Vistabel®.

Die Anwendung von Botulinumtoxin gegen Falten ist inzwischen so weit verbreitet und durch Massenmedien bekannt gemacht worden, dass sich der Begriff „Botoxbehandlung“ unabhängig von der genauen Bezeichnung des verwendeten Medikamentes als Begriff für das Therapieverfahren durchgesetzt hat.

Eine Indikation, für die bisher keine offizielle Zulassung besteht, ist die Anwendung bei Spannungskopfschmerz und Schmerzzuständen der Muskulatur [10].

Literatur

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Prof. Dr. Ines Lanzl

Augenklinik der TU München

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