physioscience 2008; 4(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2008-1027182
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sachverständigenrat fordert neue Rolle für Gesundheitsberufe

Visionen eines unverbesserlichen OptimistenU. Wolf1
  • 1Philipps-Universität, Fachbereich Medizin Marburg
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Publication Date:
21 February 2008 (online)

Seit dem Erscheinen des Gutachtens des Sachverständigenrats für die Entwicklung im Gesundheitswesen im Juli 2007 [1] ließen die Vertreter der physiotherapeutischen Verbände keine Möglichkeit aus, dies als Bestätigung ihrer Politik zu preisen. Selbst wenn diese Politik in der Vergangenheit zeitweise nicht erkennbar war, ist es umso mehr zu begrüßen, dass jetzt offenbar die Sprecher der Physiotherapeuten und die der Bachelor und Master unseres Faches gemeinsame Ziele vor Augen haben.

Was ist so revolutionär an dem Gutachten und was bedeutet es für die Leser dieser Zeitschrift?

1. Die medizinischen Fakultäten sollen Ausbildungsverantwortung für alle zur Heilkunde gehörenden beruflichen Zweige sowie die Aufgabe einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der Gesundheitsberufe übernehmen. Die Universitäten sind aufgefordert, das Spektrum ihrer Professuren diesen Anforderungen anzupassen.

Bislang findet die akademische Ausbildung in Deutschland mit Ausnahme eines einzigen Bachelor- und Master-Studienganges ohne Anbindung an eine medizinische Fakultät statt. In logischer Konsequenz der Empfehlungen müssen die bestehenden Kooperationsmodelle überdacht und dahingehend erweitert werden, dass die Hochschulmedizin stärker zum Tragen kommt. Will man den organisatorischen und logistischen Aufwand für die Studierenden in Grenzen halten, wird sich das Studienangebot zwangsläufig um die Standorte der medizinischen Fakultäten konzentrieren müssen. Darüber hinaus bietet die obligatorische Modularisierung von Bachelor- und Master-Studiengängen die Möglichkeit, das Fehlen einer medizinischen Hochschule vor Ort durch extern organisierte Lehrveranstaltungen zu kompensieren.

Für eine erfolgreiche Verzahnung sind in der Medizin jedoch ein anderes Bewusstsein für die Bedeutung und Potenz der Gesundheitsberufe zu wecken und definierte Qualifikationen für Forschung und Lehre in diesen Bereichen zu schaffen. Die Lehrinhalte sind partnerschaftlich zwischen Physiotherapeuten und Ärzten zu definieren und zu vermitteln. Belegen Physiotherapiestudenten beispielsweise Veranstaltungen gemeinsam mit Medizinstudenten - was zu bestimmten Themengebieten durchaus sinnvoll ist -, sollte der Praxisbezug durch von Physiotherapeuten gestaltete Seminare sichergestellt werden. Mit einem abgespeckten Medizinstudium - gewissermaßen einer Medizin für Arme - lassen sich die gesteckten Ziele wohl kaum erreichen.

Die Professuren sind durch Personen zu besetzen, die ihre akademische Qualifikation tatsächlich in unserem Beruf erlangten. Nur so kann die erforderliche Weiterentwicklung des Berufsbildes des Physiotherapeuten stattfinden.

Eine stärkere Integration der Physiotherapie in die Medizin setzt aber in jedem Fall eine neue Definition der verbindlichen Partnerschaft zwischen Ärzten und Therapeuten bei gleichzeitiger Stärkung der Autonomie voraus. Eine Subsumierung der Physiotherapie unter der Physikalischen Therapie, wie sie die dort in leitenden Funktionen tätigen Fachärzte gerne sähen, ist absolut inakzeptabel. Die berufstätigen Physiotherapeuten sollten die Qualifikationsangebote der Hochschulen wahrnehmen, um den Anforderungen an diese anspruchsvolle Partnerschaft gerecht zu werden.

2. Der Akademisierung der Gesundheitsberufe wird eine große Bedeutung für die multiprofessionelle Arbeit zugeschrieben. So sollen ärztliche Aufgaben delegiert und als Poolkompetenzen von geeigneten Gesundheitsberufen übernommen werden. Es wird eine zielorientierte Arbeitsteilung angestrebt. Hierfür muss in der Aus- und Weiterbildung eine gezielte Qualifizierung stattfinden. Leitlinien und Berufsausweise sollen dies erleichtern.

Hier müssen von der Versorgungsrealität und den Erfordernisse im Gesundheitssystem ausgehend die Ausbildungsinhalte abgeleitet und als verbindliches Curriculum festgeschrieben werden. Die Lehrziele und -inhalte müssen permanent überprüft bzw. angepasst werden, wie dies z. B. eine Berufskammer tut. Die evidenzbasierte Sichtung der Maßnahmen und ihrer Indikationen muss weiter vorangetrieben werden, neben der biomedizinischen Forschung müssen qualitative Forschungsdesigns stärker zum Tragen kommen. Das Assessment ist weiterzuentwickeln und zu standardisieren. Aus dem therapeutischen Spektrum sind unklare Zuständigkeiten (z. B. Manipulation der Wirbelsäule, Akupunktur, Injektionen, Blutentnahme) neu zu bewerten und einer rechtssichern Klärung zuzuführen.

Die im Kompetenzgerangel vergeudete Energie ließe sich konstruktiv für die Entwicklung einer neuen Identität unseres Berufes und eines berufsübergreifenden Vorsorgungskonzeptes nutzen. Ferner gilt es, grundlegendes Wissen über alle Gesundheitsberufe an alle darin Beschäftigten zu vermitteln. Die Aufgaben in der Krankenversorgung, Forschung und Lehre können nicht länger anhand der Gebührenkataloge oder des Status des Leistungserbringers zugewiesen werden. Hier muss künftig primär die Qualifikation entscheidend sein, die es gezielt in der Physiotherapie zu entwickeln gilt.

Die Weiterbildungen müssen deutlicher wissenschaftlich evaluierte Inhalte anbieten und das multiprofessionelle Assessment in den Vordergrund stellen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit müsste sich aber auch für alle Beteiligten spürbar lohnen. Vielleicht würden dann ja einige der hoch qualifizierten, frustriert ins Lager der Privatversorger und Heilpraktiker übergewechselten Kollegen wieder ihren Platz in der Physiotherapie finden.

3. Gefordert wird eine Vereinheitlichung der heterogen angelegten Studiengänge. Die Ausbildungen sollen gestuft und aufeinander abgestimmt sein.

Es ist zu klären, wie die Primärqualifikation der Physiotherapeuten vermittelt werden soll: als Berufsfachschulausbildung, als Studium an der Fachhochschule oder an der Universität? Die Kooperation der Fachhochschulen (insbesondere für sozial- und geisteswissenschaftliche sowie betriebswirtschaftliche Fächer) mit Berufsfachschulen hat sich prinzipiell bewährt. Sie stellt sicher, dass die gute praktische Ausbildung als Wettbewerbsvorteil deutscher Physiotherapeuten auf den europäischen Arbeitsmarkt erhalten bleibt. Daher sind die dualen Modelle unbedingt beizubehalten, müssten aber auf die neue Zielgruppe (Student ohne Physiotherapieausbildung) ausgerichtet und um die Kooperation mit Medizinfakultäten erweitert werden. Zumindest eine Vereinheitlichung der Qualifikationsziele für die verschiedenen Studienangebote ist hier dringend erforderlich. Nach bayerischem Vorbild die Inhalte der Physiotherapieausbildung so festzuschreiben, dass den ausbildenden Institutionen die Möglichkeit genommen wird, individuelle Schwerpunkte einzubringen, erscheint wenig sinnvoll.

Schließlich wäre zu klären, welche Master-Studiengänge nötig sind und welche Qualifikation sie vermitteln sollen. Bislang gibt es in Deutschland nur forschungsorientierte Master-Studiengänge, wohingegen die Möglichkeit einer Spezialisierung für bestimmte therapeutische Schwerpunkte (z. B. Neurologie) fehlt. Hier sollte unbedingt die Heterogenität erhalten und eher noch verstärkt werden.

Und dann wäre da noch die heikle Frage, wo die Studiengänge anzusiedeln sind. Der Wissenschaftsrat hat 2005 bei der Begutachtung der Universität Witten-Herdecke die Notwendigkeit der Ansiedelung der Studiengänge Musiktherapie und Pflegewissenschaften an die medizinische Fakultät infrage gestellt [3]. Er verweist darin auf seine Empfehlungen zur Entwicklung der Fachhochschulen aus dem Jahre 2002 [2], in dem er den Fachhochschulen rät, ihr Fächerangebot mit Studiengängen für nicht ärztliche Gesundheitsberufe zu ergänzen. Andererseits betont er darin aber auch: „[…] gleichwohl kann die Integration […] in eine Universität […] sinnvoll sein, wenn die Ausrichtung des Faches der Institution entspricht” [2]. Dies ist in jedem Falle gegeben, wenn den Empfehlungen des Sachverständigenrates Rechnung getragen wird. Ich halte daher die Anbindung des Bachelor-Studienganges an einer Universität (mit FH-Kooperation) für sinnvoll. Für die Master-Studiengänge müsste dies in Abhängigkeit vom jeweiligen Ausbildungsziel geklärt werden.

Ich fordere alle Physiotherapeuten und Studiengangsleiter auf, dieses Gutachten als Chance für unseren Beruf zu sehen und sich entsprechend offen und konstruktiv den neuen Herausforderungen zu stellen. Die Verbände mögen sich ins Einvernehmen setzen und ihre Rollen im multiprofessionellen Team aufeinander abstimmen. Die Politik muss für Verbindlichkeit und Anreize sorgen: Frau Schmitt, lassen Sie den Vorschlägen Ihrer Berater Taten folgen!

Literatur

  • 1 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen .Gutachten des Rates 2007: Kooperation und Verantwortung. Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung.  www.svr-gesundheit.de/Startseite/Startseite.htm
  • 2 Wissenschaftsrat .Empfehlungen zur Entwicklung der Fachhochschule. 18.1.2002.  www.wissen schaftsrat.de/texte/ 5102 - 02.pdf
  • 3 Wissenschaftsrat .Stellungnahme zur Akkreditierung der Privaten Universität Witten/Herdecke gGmbH. 15.7.2005.  www.wissenschaftsrat.de/texte/ 6768 - 05.pdf

Udo Wolf,
M.Sc. Phys.

Email: udowolf@med.uni-marburg.de

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