physioscience 2007; 3(2): 46-47
DOI: 10.1055/s-2007-963153
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gasteditorial

E. O. Huber1, 2 , G. Stucki3, 4
  • 1UniversitätsSpital Zürich, CH-Zürich
  • 2Schweizer Physiotherapie Verband, CH-Sursee
  • 3ICF Research Branch, WHO FIC Collaboration Center (DIMDI), Institute for Health and Rehabilitation Sciences, Ludwig-Maximilians-University, München
  • 4Dept. für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Ludwig-Maximilians-Universität, München
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Publication Date:
21 May 2007 (online)

Die Funktionsfähigkeit steht im Zentrum des physiotherapeutischen und des rehabilitativen Handelns. Der Begriff Funktionsfähigkeit umfasst alle Aspekte der funktionalen Gesundheit. Eine Person ist funktional gesund, wenn - vor dem Hintergrund ihrer Kontextfaktoren - a) ihre körperlichen Funktionen und Körperstrukturen denen eines gesunden Menschen entsprechen, b) sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsprobleme erwartet werden kann, und c) sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigungen erwartet wird.

Kontextfaktoren stellen den gesamten Lebenshintergrund eines Menschen dar und umfassen die Komponenten Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren. Das Ziel der Physiotherapie ist es, dazu beizutragen, Menschen, die eine Einschränkung ihrer Funktionsfähigkeit erfahren oder mit hoher Wahrscheinlichkeit erfahren werden, dazu zu befähigen, eine optimale Funktionsfähigkeit in der Interaktion mit ihrer unmittelbaren Umwelt zu erreichen und zu erhalten [5]. Die Bedeutung der Funktionsfähigkeit für die menschliche Gesellschaft und die Notwendigkeit, durch geeignete rehabilitative Maßnahmen die Funktionsfähigkeit der Bevölkerung zu verbessern und zu erhalten, wurde durch die 2005 einstimmig verabschiedete WHO-Resolution Nr. R114 Behinderung, einschließlich Prävention, Management und Rehabilitation deutlich gemacht. Die Mitgliedstaaten der WHO, die bei der WHO akkreditierten Nichtregierungsorganisationen sowie die wissenschaftlichen und professionellen Organisationen wurden aufgefordert, durch Forschung und bessere Leistungserbringung zur Optimierung der Funktionsfähigkeit von Menschen mit Gesundheitsproblemen beizutragen.

Eine entscheidende Voraussetzung, um diese Ziele zu erreichen, ist ein disziplinenübergreifendes und international akzeptiertes Konzept der Funktionsfähigkeit und Behinderung sowie eine darauf basierende Sprache und Klassifikation. Mit der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF; [6]), die im Jahr 2001 durch die Mitgliedsstaaten der WHO ebenfalls einstimmig verabschiedet wurde, steht nun erstmals eine solche Konzeption und Klassifikation zur Verfügung.

Die ICF ist in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Soziales und Arbeit anwendbar. Damit sie im Gesundheitssektor und durch die verschiedenen Gesundheitsberufe sinnvoll angewendet werden kann, gilt es, ICF-basierte praktische Instrumente zu entwickeln. Dabei ist es entscheidend, dass die Entwicklung dieser Instrumente entsprechend des Anspruchs der ICF, eine Universalsprache darzustellen, in einem internationalen Kontext und unter Einbezug aller relevanten Anwendergruppen erfolgt.

In der ICF Research Branch des WHO Kooperationszentrums für die Familie der Internationalen Klassifikationen (DIMDI), Deutschland, am Institut für Gesundheits- und Rehabilitationswissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München werden deshalb seit einigen Jahren im Rahmen eines internationalen Forschungsprogramms sogenannte ICF-Core-Sets für den Akutkontext, für die Rehabilitation und für den Langzeitkontext entwickelt [2] [3] [4]. ICF-Core-Sets stellen Zusammenfassungen der häufigsten Patientenprobleme und darauf bezogener kontextueller Einflussfaktoren für bestimmte Gesundheitsprobleme anhand von ICF-Kategorien dar.

Die Kurzen ICF-Core-Sets können als Standard für die Planung und das Berichtswesen in der Forschung fungieren, z. B. bei Forschungsanträgen sowie Peer Reviews internationaler Publikationen. Die Umfassenden ICF-Core-Sets bilden demgegenüber die Basis für die Erhebung eines patientenbezogenen Funktionsstatus durch ein multiprofessionelles Team, z. B. im Rahmen eines Eingangs-Assessment für eine Rehabilitation oder eine Patientenbegutachtung. Sie stellen dementsprechend auch die Basis für den patientenorientierten Rehabilitationsprozess dar.

Die ersten Versionen der ICF-Core-Sets werden zurzeit in breit angelegten internationalen Validierungsstudien getestet. Die Resultate und Erfahrungen aus dieser in Kooperation mit einer Reihe von wissenschaftlichen Gesellschaften durchgeführten Testreihe in derzeit 51 Ländern und mehr als 300 Zentren sollen in die Entwicklung der 2., im Jahre 2008 offiziell zu verabschiedenden Version der ICF-Core-Sets eingehen.

Ein entscheidender Aspekt bei der Validierung der ICF-Core-Sets ist die Berücksichtigung der Perspektive verschiedener am Rehabilitationsprozess beteiligter Berufsgruppen. Deshalb werden die ICF-Core-Sets im Rahmen von internationalen Delphi-Verfahren aus der Perspektive von verschiedenen Berufsgruppen (z. B. Physiotherapie, Ergotherapie oder Psychologie) getestet. Hierzu hat der Schweizer Physiotherapie Verband in Zusammenarbeit mit dem UniversitätsSpital Zürich und in Kooperation mit der ICF Research Branch in München ein zweiteiliges Forschungsprojekt aufgestellt. Im 1. Forschungsprojekt wurde mittels einer Delphi-Befragung und einer Konsensuskonferenz eine für die Physiotherapie relevante Auswahl von ICF-Kategorien für den Akut-, Rehabilitations- und Langzeitkontext sowie für die muskuloskelettalen, internistischen und neurologischen Gesundheitsstörungen getroffen [1]. Im Folgenden wird beim Bezug auf diese Auswahl von ICF-Kategorien der Einfachheit halber von ersten Versionen von Interventionskategorien für die Physiotherapie gesprochen.

In dieser Ausgabe von physioscience werden die Resultate des 2. Forschungsprojekts vorgestellt.

Das 1. Projektziel ist die Validierung der ersten Versionen der Interventionskategorien für die Physiotherapie. Erfreulicherweise zeigte sich, dass die meisten aus der Sicht der Physiotherapie relevanten Interventionskategorien in der 1. Version der entsprechenden ICF-Core-Sets abgebildet sind. Die wenigen zurzeit nicht in den ICF-Core-Sets abgebildeten und für die Physiotherapie relevanten Interventionskategorien werden als Kandidatenkategorien bei Erarbeitung der 2. Version der ICF-Core-Sets im Jahre 2008 mitberücksichtigt werden.

Das 2. Projektziel ist die ICF in einen direkten Bezug zum Physiotherapiekernprozess zu bringen. Für diesen direkt relevant sind diejenigen Interventionskategorien, die von Physiotherapeuten behandelte Aspekte darstellen. Die Interventionskategorien, die anhand einer Matrix der verschiedenen Kontexte und Gesundheitsstörungen erarbeitet wurden, dienen als praktischer Bezugspunkt für die Implementierung der ICF in den klinischen Alltag. Es können wichtige Informationen über den funktionalen Gesundheitszustand eines Patienten gewonnen werden. Weitere Implementierungsmöglichkeiten sehen wir in Curricula für die Aus- und Weiterbildung, in der Koordination und Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams sowie in klinischen Richtlinien sowie der Leistungserfassung und Statistiken.

Das nächste Ziel des Forschungsprojekts besteht darin, in der Zusammenarbeit mit den bisherigen Partnern sowie unter Einbeziehung international relevanter wissenschaftlicher Gesellschaften und des etablierten Netzwerks der ICF Research Branch die Interventionskategorien für die Physiotherapie für die verschiedenen Kontexte und Gesundheitsstörungen international zu validieren.

Die Initiative aus der Perspektive der Physiotherapie zur Implementierung der ICF in die klinische Praxis, Forschung und Statistik ist beispielhaft und kann als Modell für ähnliche Projekte anderer Berufsgruppen dienen. Entscheidend ist schließlich, dass alle Berufsgruppen ihre spezifische und partikuläre Perspektive in die auf dem integrativen Modell der Funktionsfähigkeit basierende umfassende Perspektive der ICF einbringen und dort wiederfinden. Auf diese Art und Weise tragen die Interventionskategorien für die Physiotherapie - wie sie in dieser Ausgabe der physioscience vorgestellt werden - als Teilperspektive zu der umfassenden Perspektive der ICF-Core-Sets bei.

Literatur

  • 1 Finger M E, Cieza A, Stoll J. et al . Identification of intervention categories for physical therapy, based on the international classification of functioning, disability and health: a Delphi exercise.  Phys Ther. 2006;  86 1203-1220
  • 2 Stucki G, Grimby G. Foreword: Applying the ICF in medicine.  J Rehabil Med. 2004;  Suppl 44 5-6
  • 3 Stucki G. International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) - A Promising Framework and Classification for Rehabilitation Medicine.  Am J Phys Med Rehabil. 2005;  84 773-740
  • 4 Stucki G, Üstün T B, Melvin J. Applying the ICF for the acute hospital and early post-acute rehabilitation facilities.  Disabil Rehabil. 2005;  27 349-352
  • 5 Stucki G, Cieza A, Melvin J. The International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF): a unifying model for the conceptual description of the rehabilitation strategy.  J Rehabil Med. 2007 (in press); 
  • 6 World Health Organization (WHO) .International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). Geneva; WHO 2001

E. Omega Huber

Rheumaklinik und Institut für Physikalische Medizin, UniversitätsSpital Zürich

Gloriastr. 25

CH-8091 Zürich

Email: erika.huber@usz.ch

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