physioscience 2007; 3(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2007-962875
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vision und Wirklichkeit der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse im Behandlungsalltag

Eine kranke GeschichteD. Brötz1
  • 1TherapieZentrum, Zentrum für Neurologie, Universitätsklinik Tübingen
Further Information

Publication History

Publication Date:
23 February 2007 (online)

Zur Diagnostik und Behandlung unspezifischer Rückenschmerzen existieren zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen. Leitlinien der WHO [5] und die Europäische Leitlinie zur Behandlung akuter unspezifischer Kreuzschmerzen [1] geben Hinweise auf nützliche, fraglich nützliche und abzulehnende Therapieansätze. Für das spezifische Wirbelsäulenleiden Bandscheibenvorfall existieren nur wenige vergleichende Studien. Obwohl einige Erkenntnisse zur Verfügung stehen, verlaufen Diagnostik und Therapie für die Betroffenen oft unstrukturiert und kontraproduktiv. Die strukturierte Analyse des individuellen Problems eines bestimmten Patienten, die Auswahl einer spezifischen Therapiestrategie und die Kontrolle der Effekte finden häufig nicht statt. Die Patienten werden entsprechend mangelhaft informiert und während ihres Genesungsprozesses nicht begleitet.

Im Gesundheitswesen könnte eine Menge Geld gespart werden, wenn die Zeit zur sorgfältigen Untersuchung und Behandlung von Patienten genutzt würde. Dazu wäre eine angemessene Bezahlung Voraussetzung. Stattdessen werden bei den Ärzten im 3-Minutentakt und bei den Physiotherapeuten im 15-Minutentakt Kunden durch die Praxis geschleust. Am Ende sind der zeitliche und finanzielle Aufwand für alle Beteiligten höher als wenn strukturiert vorgegangen würde, der Patient von der Phase akuter Beschwerden bis zur Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben betreut und umgesetzt würde, was wissenschaftlich belegt ist. Die Aufgabe der wissenschaftlich arbeitenden und interessierten Physiotherapeuten ist es also nicht nur, Erkenntnisse zu gewinnen und zu publizieren, sondern auch deren Umsetzung in den Arbeitsalltag der Kollegen zu fördern und eine angemessene Bezahlung zu erkämpfen.

Die folgende Krankengeschichte ist beispielhaft für die Leiden zahlreicher Patienten, die ohne sorgfältige Untersuchung, schlecht informiert und auf sich gestellt eine chaotische Vielfalt von Maßnahmen ergreifen. Obwohl teilweise effektiv, ist die Summe unkoordiniert angewandter Maßnahmen kontraproduktiv.

„Sehr geehrte Frau Brötz,

ich wende mich an Sie, weil meine Frau einen Bandscheibenvorfall L5/S1 hat und nun mittlerweile nicht nur körperlich, sondern auch mental leider sehr am Ende ist und sie andererseits sehr angetan von Ihrem Buch war (ich hatte ihr nach widersprüchlichen Aussagen der behandelnden Ärzte zum Studium verschiedenste Bücher über Bandscheibenvorfälle im Lendenbereich geschenkt). Obwohl uns klar ist, dass Sie keine E-Mail-Ferndiagnose vornehmen werden können, bitten wir Sie dennoch um Ihren Rat, wie nun weiter verfahren werden könnte. Kurz möchte ich Ihnen vorab die Entwicklung und Behandlung des Bandscheibenvorfalls meiner Frau schildern.

Bei der letzten Sitzung bei einem Physiotherapeuten vor etwa 3 Jahren wegen leichten Rückenbeschwerden wurde eine Bewegung ausgeführt, die dazu führte, dass meine Frau anschließend weder gehen noch sitzen noch stehen konnte. Das Kernspinnbild zeigte damals einen klaren Prolaps bei L5/S1 und eine leichte Vorwölbung an der Bandscheibe darüber. Damals sind die Beschwerden erfreulicherweise durch 2 Wochen Liegen bereits fast verschwunden und waren nach einer 2-monatigen werktäglich durchgeführten EAP (Wärme, Gymnastik, Elektrostimulation und Krafttraining) völlig beseitigt. Meine Frau war die folgenden 3 Jahre uneingeschränkt und beschwerdefrei. Sie reduzierte vor 1 Jahr noch ihr Gewicht (- 10 kg) auf das Idealgewicht und fuhr mehr Fahrrad und begann 2-mal wöchentlich Kieser-Training zu absolvieren, um ihre Rumpfmuskulatur vorsichtig zu stärken.

Anfang diesen Jahres bemerkte meine Frau wieder leichte Rückenbeschwerden, konnte aber ihre Bürotätigkeit trotzdem gut fortführen. Es war wohl ein Fehler, auch für ein paar Tage Ski zu fahren, weil meine Frau 2 Wochen später nach dem Laufen zum Flughafen mit leichtem Handgepäck wieder sehr starke Rückenschmerzen mit Ausstrahlung auf die rechte Pobacke, rechten Oberschenkel und rechte Wade hatte. Dies war etwa vor 7 bis 8 Wochen. Seither hat meine Frau Folgendes unternommen bzw. wurde wie folgt behandelt:

Zunächst hauptsächlich liegen in Stufenlagerung mit Schmerztabletten, die alle nicht halfen. Anfertigung eines CT und Injektionen unter CT-Kontrolle einer Kortison-/Anästhetikum-Mischung in die Nähe der betroffenen Bandscheibe durch einen Orthopäden. Nach der 2. Spritze trat eine deutliche Schmerzlinderung ein, nach der 8. Injektion konnte meine Frau zwar statt nur 2 Minuten etwa 3 oder 4 Minuten gehen und sitzen, dennoch erklärte sie der behandelnde Orthopäde für völlig geheilt und beendete die Therapie mit der Verschreibung von 10 Krankengymnastikstunden mit Schlingentisch bei einem Physiotherapeuten.

Parallel sprach meine Frau bei einem Neurochirurgen vor, der ein aktuelles MR-Bild anfertigen ließ.

Der Neurochirurg erkannte, dass keine dringende Indikation (keine neurologischen Ausfälle) für eine Operation besteht und empfahl den Heilungsfortschritt in den nächsten 4 - 6 Wochen abzuwarten.

Es wurde festgestellt, dass meine Frau einen engen Spinalkanal hat und der Prolaps etwa unverändert im Vergleich zum 3 Jahre älteren Bild aussieht.

Ein anderer Orthopäde empfahl meiner Frau 10-minütige Rumpfstreckungen, diese wurden alle 2 Tage in seiner Praxis in den nächsten 2 Wochen durchgeführt. Parallel dazu ging meine Frau alle 2 Tage schwimmen (etwa 2 km Rückenschwimmen), damit ihr Kreislauf in Schwung bleibt. Weiter parallel erhielt meine Frau keine Krankengymnastik (wegen der Schmerzen meinte der Physiotherapeut, dass das noch keinen Sinn macht), sondern eine Manuelle Therapie der Wirbel im Lendenbereich.

Es ging meiner Frau eigentlich unmittelbar weder nach der Mobilisierung noch nach dem Schwimmen noch nach dem Strecken besser, sondern eher schlechter, daher beendete sie dies alles nach etwa 2 Wochen und

begann, die McKenzie-Übungen (Bauchlage, Unterarmstütz, Handstütz) konsequent durchzuführen - insgesamt lässt sich dennoch zusammenfassen, dass es meiner Frau seit Ausbruch der Schmerzen bis dahin etwa alle 3 Tage etwas besser ging; sie konnte weiter gehen, länger schmerzfrei sitzen oder stehen.

Vor 10 Tagen wurde sie von dem Chefphysiotherapeuten und einem Sportorthopäden auch anhand der MR-Bilder untersucht. Beide stellten fest, dass bei meiner Frau das Iliosakralgelenk einseitig ausgerenkt sei und möglicherweise dies die Ursache der Schmerzen sei.

Daraufhin renkten sie das Gelenk mit einem lauten Krachen ein. Der Sportorthopäde verordnete meiner Frau die Einnahme von entzündungshemmenden Medikamenten.

Diese setzte meine Frau seit Montag ab, weil wir morgen eine Neurochirurgin aufsuchen wollen und sich diese Medikamente nicht mit einer Operation vertragen würden.

Seit dem Einrenken geht es meiner Frau dramatisch schlechter (sie kann auch nicht mehr nur ganz kurz schmerzfrei stehen, sitzen oder gehen).

Würden Sie eine Weiterbehandlung nach McKenzie empfehlen? Macht Physiotherapie bei so starken Schmerzen überhaupt noch Sinn? Könnte durch das Einrenken etwas beschädigt worden sein - wie ist das festzustellen?

Mit freundlichen Grüßen

N.N.

Wenig später wurde der Patientin ein großer Bandscheibenvorfall operativ entfernt. Nach dem Klinikaufenthalt wurde eine 3-wöchige Rehabilitation geplant.

Literatur

  • 1 Becker A, Stockfisch N, Tulder van M. et al . Evidenzbasierte Physiotherapie zur Behandlung akuter unspezifischer Kreuzschmerzen - auf der Europäischen Leitlinie basierender Bericht.  physioscience. 2006;  2 7-13
  • 2 Donelson R, Grant W, Kamps C. et al . Pain response to sagittal end-range spinal motion. A prospective, randomized, multicentered trial.  Spine. 1990;  16 206-211
  • 3 Koes B W, Tulder M W, Ostelo van R. et al . Clinical guidelines for the management of low back pain in primary care: an international comparison.  Spine. 2001;  26 2504-2513
  • 4 Leboeuf-Yde C. Body weight and low back pain. A systematic literature review of 56 journal articles reporting on 65 epidemiologic studies.  Spine. 2000;  25 226-237
  • 5 www.sbu.se/Filer/Content0/publikationer/1/back_neckpain_2000/backpainslut.pdf

Doris Brötz

TherapieZentrum

Zentrum für Neurologie

Universität Tübingen

Hoppe-Seyler-Straße 3

D-72076 Tübingen

Email: doris.broetz@med.uni-tuebingen.de

    >