Sprache · Stimme · Gehör 2006; 30(2): 82-84
DOI: 10.1055/s-2006-941533
Schwerpunktthema
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Resümee und Ausblick

EpilogueL. Fried1
  • 1Fachbereich 12, Institut für Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung und Pädagogik der frühen Kindheit, Universität Dortmund
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Publication Date:
22 June 2006 (online)

Abschließend ist festzustellen, dass es einen beachtlichen Vorrat an Spracherfassungsverfahren gibt. Keines darunter kann allerdings beanspruchen, alle derzeit vorgebrachten Anforderungen an ein solches Instrument zu erfüllen. Damit sehen sich Erzieherinnen und Lehrerinnen vor die Aufgabe gestellt, aus dem gegebenen Repertoire dasjenige Verfahren auszuwählen, das die ihm zugedachte Funktion am besten erfüllen kann.

Wenn es darum geht, den Sprachentwicklungsstand eines Kindes umfassend bzw. generell zu kennzeichnen, so kann man auf etliche Sprachtests zurückgreifen, deren Qualität sowohl in sprachtheoretischer, als auch in messmethodischer Hinsicht den formulierten (Minimal-)Standards zu genügen vermag. Darunter sind allerdings Verfahren, die ausschließlich für die Hand von ExpertInnen (PsychologInnen usw.) entwickelt worden sind, wie z. B. HSET, KISTE, PET. Demgegenüber ist bei jüngeren Verfahren ein Umdenken zu verzeichnen. Inzwischen werden Sprachtests vorgelegt, die so konstruiert worden sind, dass sie von Erzieherinnen und Lehrerinnen angewandt werden können. Das wird nicht zuletzt dadurch ermöglicht, dass sie ökonomisch eingesetzt werden können, wie z. B. SSV.

Die meisten Sprachtests messen allerdings nur ganz spezifische Sprachentwicklungsaspekte. Hier gilt es genau zu prüfen, ob und wieweit solch ein Verfahren prognostische Hinweise zu einem Entwicklungsbereich liefern kann, auf den es Erzieherinnen bzw. LehrerInnen besonders abgesehen haben. Wenn es z. B. darum geht, Informationen zu gewinnen, die sich insbesondere für die Literacy-Erziehung nützen lassen, so können die Verfahren hilfreich herangezogen werden, die auf Vorläuferfähigkeiten zum Schriftspracherwerb zielen, wie z. B. ARS, BISC, HASE, HSV. Wenn es dagegen eher darauf ankommt, Kinder aufzuspüren, deren Sprachentwicklung (in besonders kontextsensitiven Bereichen), im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern hinterherhinkt, dann können Sprachtests weiter helfen, die speziell auf die Sprachlaute oder den Wortschatz zielen, wie z. B. AWST-R, DP, KVS usw.

Solche Sprachtest bieten, gegenüber manchem der in den Bundesländern bzw. Stadtstaaten eingeführten Screeningverfahren, verschiedene Vorteile. Man kann sich bei diesen Instrumenten sicher sein, dass man damit die Sprachentwicklung (bzw. bestimmte Sprachentwicklungsaspekte) von Kindern einigermaßen zuverlässig und valide misst. Noch dazu lassen sie sich zum Teil ökonomischer (Zeit, Handhabung) und nützlicher (präzise Angaben, was genau man erfasst) anwenden, als manch eines, der angeblich so praxisgerechten Verfahren, die sehr aufwendig sind. Hier scheint es an der Zeit, dass einige ideologische Scheuklappen abgelegt bzw. unhaltbare Vorurteile überwunden werden.

Allerdings liegen noch längst nicht genügend Sprachtests vor, um damit alle wichtigen Sprachentwicklungsaspekte erfassen zu können. So benötigen wir dringend Verfahren, mit denen kommunikative, narrative und semantische Fähigkeiten noch näher charakterisiert werden können usw. Bis es aber soweit ist, müssen wir uns mit suboptimalen Lösungen begnügen. So kann es z. B. notwendig sein, mehrere Verfahren zu kombinieren, um einen umfassenden Blick auf die Sprachentwicklung von Kindern zu gewinnen. Wieweit das (z. B. im Rahmen von Kooperationen mit Sozial- und Fachdiensten bzw. über Aufgabenaufteilung) Erzieherinnen und Lehrerinnen letztlich möglich ist, muss ausgelotet werden. Außerdem müssen bestehende Ansätze, sofern es vertretbar scheint, weiter entwickelt werden. Denn die Konstruktion eines Spracherfassungsverfahrens verschlingt so viel Ressourcen, dass es sich verbietet, Dinge vorschnell zu verwerfen. So schiene es vernünftig genau zu prüfen, ob und wieweit die Verfahren, die in den Bundesländern bzw. Stadtstaaten derzeit eingesetzt werden, weiterentwickelt werden könnten und müssten. Hier böten z. B. die Verfahren, mit denen Spontansprache evoziert werden soll, wie z. B. SFD, Fit in Deutsch, Kenntnisse in Deutsch erfassen, durchaus Ansatzpunkte. Allerdings müssten diese Ansätze, vor allem hinsichtlich der Auswertung, unbedingt weiterentwickelt und dann unter Qualitätsgesichtspunkten genau geprüft werden. Dass dies nicht so geschieht, wie es angesichts der vorhandenen Daten möglich wäre, ist nicht nachvollziehbar. Hier ist Grimm (z. B. 2003) zuzustimmen, die anmerkt, dass keine Spracherfassung immer noch besser ist, als eine schlechte (diffuse, unzutreffende usw.), weil man dadurch in die Irre geführt wird.

Welche Optionen ins Auge gefasst werden müssen, um hier weiter zu kommen, kann am ehesten anhand der vereinzelten Spracherfassungsverfahren abgelesen werden, die Kindern mit Migrationshintergrund gerecht zu werden versuchen, wie z. B. CITO, HAVAS, SISMIK. Hier wird einerseits deutlich, dass man Wege finden kann, andererseits aber auch sichtbar, welch enorme Anstrengungen das erfordert. Denn wenn das Ziel einer Sprachdiagnose darin besteht, Hinweise zu erhalten, ob bzw. wieweit die Sprachentwicklung eines Kindes mit nichtdeutscher Muttersprache zufriedenstellend verläuft oder als risikobehaftet einzuschätzen ist, müssen Verfahren eingesetzt werden, die dem aktuellen Stand der Forschung zum Zweit- bzw. Mehrspracherwerb entsprechen. Demnach braucht man zum einen Verfahren, die den Entwicklungsstand beider Sprachen (Erst- und Zweitsprache), also die multilingualen Sprachentwicklungsressourcen eines Kindes erfassen können; denn internationale Forschungen bergen durchaus Hinweise dafür, dass die Förderung der deutschen Zweitsprache(n) von Kindern am ehesten Erfolg hat, wenn sie deren Erstsprache mit einbezieht (vgl. z. B. [1]). Somit muss eine Sprachstandserhebung bei Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache auf deren gesamtes Sprachvermögen zielen. Zum anderen benötigt man Verfahren, die darüber hinaus gehen, indem das Verhältnis zwischen Erst- und Zweitsprache berücksichtigt wird, weil darin wichtige Hinweise liegen, inwiefern die Sprachentwicklung eines Kindes besondere Maßnahmen erfordert.

Bislang mangelt es jedoch „an standardisierten, komparativ ausgerichteten Instrumenten zur Erfassung des Sprachentwicklungsstandes von Bi- und/oder Multilingualen, die über den Status von ad hoc-Entwürfen als Forschungsinstrumente hinausgehen” [2]. Was nicht zuletzt darin begründet sein dürfte, dass es bedeutsame individuelle Unterschiede gibt, wie sich der Erwerb der Erst- und Zweitsprache(n) (einschließlich „mixed-language”, „language-crossing” usw. im Sinne von (sprech-)strategischer Nutzung des multilingualen Sprachrepertoites) gestaltet. So macht es z. B. einen Unterschied, welche Sprache als erstes erlernt wird, in welchem Alter der Erwerb der zweiten bzw. dritten Sprache anfängt, wie das sprachliche Umfeld beschaffen ist usw. Insofern werden noch mehr Verfahren benötigt, die präzise Messungen zulassen, differenzierte Standardisierungen/Normierungen beinhalten und bei all dem einen flexiblen Einsatz ermöglichen. Dies wird von den Ansätzen zur Sprachmessung bei Kindern mit Migrationshintergrund bislang noch am weitest gehenden eingelöst.

Um hier weiter zu kommen, muss man sich zunächst der gegebenen Ressourcen versichern und diese gezielt anreichern. Die hier vorgelegte Bestandsaufnahme versteht sich als ein Anfang. Es bedarf aber weiterer Schritte. So gilt es Erzieherinnen und Lehrerinnen mit diesen Ressourcen vertraut zu machen sowie ihre Bewusstheit für unterschiedliche Funktionen und daraus resultierende unterschiedliche Anforderungen von Spracherfassungsverfahren zu schärfen. Denn das kann bislang nicht vorausgesetzt werden. Luchtenberg [3] sieht deshalb die Notwendigkeit, Erzieherinnen und Lehrkräfte diagnostisch zu qualifizieren, so dass sie in der Lage sind, gegebene Verfahren angemessen einzuschätzen und damit auch gewinnbringend einzusetzen. Denn Sprachstandserhebungsverfahren können nur dann zur Verbesserung der Praxis beitragen, wenn sie professionell angewendet werden. Die entscheidende Frage lautet deshalb nicht: Welches sind - grundsätzlich - die besten, richtigen Verfahren; sondern: Welches sind die entscheidenden sprachdiagnostischen Kompetenzen, über die Praktiker verfügen müssen, um Entwicklungs- und Lernprozesse bei Kindern fruchtbringend erfassen zu können.

Literatur

  • 1 Pufahl I, Rhodes N C, Christian D. What can we learn from foreign language teaching in other countries, ERIC Digest (EDO-FL-01 - 05). Washington; ERIC Clearinghouse on Languages and Linguistics 2001
  • 2 Krampen G, Blatz H, Brendel M, Freilinger J, Medernach J. Komparative Befunde zur Wortschatzentwicklung und Sprachförderdiagnostik bei multilingualen Primarschulkindern.  Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie. 2002;  34 (4) 194-200
  • 3 Luchtenberg S. Überlegungen zur Sprachstandsdiagnostik. In: Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung (Hrsg.) Kenntnisse in Deutsch als Zweitsprache erfassen. Screening-Modell für Schulanfänger (S. 73 - 92). München; Autor 2002

Prof. Dr. Lilian Fried

Universität Dortmund - Fachbereich 12

Institut für Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung und Pädagogik der frühen Kindheit

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Emil-Figge-Straße 50

44221 Dortmund

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