Rehabilitation (Stuttg) 2005; 44(3): 152-156
DOI: 10.1055/s-2005-866856
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Selbstkompetenz als Voraussetzung für Selbstbestimmung behinderter Frauen und Mädchen im Rehabilitationsrechtsverhältnis

Self-Competence as a Condition for Self-Determination of Disabled Women and Girls in Legal Relations in RehabilitationT.  Degener1
  • 1Evangelische Fachhochschule RWL (Bochum), Fachbereich Heilpädagogik
Geringfügig bearbeitete Fassung des Plenarvortrags anlässlich des 13. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquiums am 9. März 2004 in Düsseldorf
Further Information

Publication History

Publication Date:
03 June 2005 (online)

Zusammenfassung

Selbstkompetenz ist ein Schlüsselbegriff moderner Reformgesetzgebung in der Gesundheits- und Sozialpolitik im Allgemeinen und im Behindertenrecht im Besonderen. Der Beitrag nimmt eine Begriffsbestimmung aus verfassungsrechtlicher Sicht vor und stellt die neuen Vorschriften für behinderte Frauen und Mädchen im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) dar. Sie sind eine Reaktion auf neuere wissenschaftliche Erkenntnisse über die spezifische Situation behinderter Frauen und Mädchen, die geprägt ist durch Mehrfachdiskriminierung und Bedrohung durch sexualisierte Gewalt. Selbstkompetenz behinderter Frauen bedeutet in diesem Kontext zunächst die Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Eine solche Interpretation steht im Einklang mit der Reform des Behindertenrechts insgesamt, die sich insbesondere durch die Verabschiedung zahlreicher Antidiskriminierungsvorschriften auszeichnet. Mit ihr verfolgt die Legislative einen Paradigmenwechsel vom medizinischen zum sozialen Modell von Behinderung. Ein solcher Paradigmenwechsel erfordert die Beschreitung neuer Wege in der Rehabilitation. Den Leistungsträgern in der Rehabilitation obliegen entsprechende Schutz- und Förderungspflichten.

Abstract

Self-competence is a keyword of modern reform legislation in public health and social policy in general and in disability law more specifically. The article defines self-competence from the perspective of constitutional law and describes the new provisions of Book 9 of the Social Code, SGB IX with relation to disabled women and girls. These new provisions are a response to new scientific analyses of the status of disabled women and girls. Their status is determined by multiple discrimination and by threat of sexual violence. Within this context self-competence means capacity for self-determination. Such an interpretation is in line with reforms in disability law, i. e. the adoption of anti-discrimination law. With this reform legislators pursue a shift in paradigm from the medical to the social model of disability. Such a paradigm shift demands new paths to be treaded in rehabilitation. Rehabilitation agencies have corresponding duties to protect and to promote.

Literatur

  • 1 Barnes C, Mercer G (eds). Implementing the Social Model of Disability: Theory and Research. Leeds, UK; The Disability Press 2004
  • 2 Bieritz-Harder R. „Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins” - eine neue Leistung in der Rehabilitation.  NDV. 2002;  82 (6) 213-219
  • 3 Boll S, Degener T. et al (Hrsg) .Geschlecht: behindert, besonderes Merkmal: Frau: ein Buch von behinderten Frauen. 5. Aufl. München; Reinhardt 1996
  • 4 Degener T. Behinderte Frauen in der beruflichen Rehabilitation (Rechtsgutachten). bifos-Schriftenreihe, Bd. 3. Kassel; bifos 1994
  • 5 Degener T. Stärkung des Selbstbewusstseins: Eine neue Rehabilitationsleistung für behinderte oder von Behinderung bedrohte Frauen und Mädchen.  Fachdienst Geistige Behinderung. 2002;  (1) 14
  • 6 Degener T. Disability As a Subject of International Law and Comparative Discrimination Law. In: Herr SS, Gostin LO, Koh HH (eds) The Human Rights of Persons with Intellectual Disabilities: Different but Equal. New York; Oxford University Press 2003: 151-184
  • 7 Eiermann N, Häußler M, Helfferich C. Live, Leben und Interessen vertreten - Frauen mit Behinderung: Lebenssituation, Bedarfslagen und Interessenvertretung von Frauen mit Körper- und Sinnesbehinderungen. Stuttgart u. a.; Kohlhammer 2000
  • 8 Graumann S, Grüber K (Hrsg). Anerkennung, Ethik und Behinderung. Beiträge aus dem Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft, Bd. 2. Münster u. a.; LIT 2005
  • 9 Haines H, Liebig O, Dau D H, Düwell F J, Haines H in: .
  • 10 Henschel A (Hrsg). Weiblich - (un)beschreiblich: zur Lebenssituation von Frauen mit Behinderung. Bad Segeberg; C. H. Wäser 1997
  • 11 Klein S, Wawrok S. Abschlussbericht des Forschungsprojektes: Sexuelle Gewalt in der Lebenswirklichkeit von Mädchen und Frauen mit geistiger Behinderung - Die Sicht der Betroffenen, Analyse bestehender institutioneller Hilfsmöglichkeiten und eine bedarfsorientierte Versorgungsplanung. Berlin; Charité 1998
  • 12 Noack C, Schmid H J. Sexuelle Gewalt gegen Menschen mit geistiger Behinderung. Eine verleugnete Realität. Esslingen; FH Sozialwesen 1994
  • 13 Pircher E, Zemp A. Weil das alles weh tut mit Gewalt. Sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Frauen mit Behinderung. Wien; Bundesministerium für Frauenangelegenheiten 1996
  • 14 Schildmann U. Lebensbedingungen behinderter Frauen: Aspekte ihrer gesellschaftlichen Unterdrückung. Gießen; Focus 1983
  • 15 Schildmann U, Bretländer B (Hrsg). Frauenforschung in der Behindertenpädagogik: Systematik - Vergleich - Geschichte - Bibliographie. Münster u. a.; LIT 2000
  • 16 Waldschmidt A. Selbstbestimmung als Konstruktion: Alltagstheorien behinderter Frauen und Männer. Opladen; Leske & Budrich 1999
  • 17 Zinsmeister J. Der lange Weg zur Gleichstellung: behinderte Frauen und das neue SGB IX.  STREIT. 2002;  (1) 3
  • 18 Zinsmeister J (Hrsg). Sexuelle Gewalt gegen behinderte Menschen und das Recht. Opladen; Leske & Budrich 2003

1 Träger dieses vom Bundesfrauenministerium geförderten Projekts sind das Friederike-Fliedner-Institut, ein An-Institut der Evangelischen Fachhochschule Bochum, und der Deutsche Behindertensportverband; Leiterinnen: Prof. Dr. Theresia Degener, Prof. Dr. Sabine Kühnert, Julia Zinsmeister. Kontakt: Friederike-Fliedner-Institut e. V., Projekt SELBST, Alte Landstraße 161, 40489 Düsseldorf, Tel.: 0211/171-6677/88, Fax: 0211/171-6884.

2 § 81 Abs. 2 SGB IX.

3 § 17 Abs. 1 Ziff. 4 SGB I.

4 § 17 Abs. 2 SGB I und § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB X.

5 Siehe dazu insgesamt den Internetauftritt des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen Karl Hermann Haack unter URL: http://www.sgb-ix-umsetzen.de/.

6 § 554 a BGB, in Kraft seit 1. September 2001, gibt dem Mieter das Recht, vom Vermieter die Zustimmung zu baulichen Veränderungen oder sonstigen Einrichtungen zu verlangen, die für eine behindertengerechte Nutzung der Mietsache erforderlich sind.

7 Durch § 105 a BGB wird es volljährigen Geschäftsunfähigen ermöglicht, geringwertige Geschäfte des täglichen Lebens wirksam vorzunehmen.

8 Zur Kenntnis genommen werden muss, dass dieser Begriff von den Betroffenen selbst abgelehnt wird. Die einzige Organisation, in der sich Menschen mit dieser Behinderung selbst vertreten, People First Deutschland e. V., findet den Begriff der geistigen Behinderung diskriminierend und wählt statt dessen die Bezeichnung „Menschen mit Lernschwierigkeiten”. Da sich diese Bezeichnung in den Fachverbänden jedoch noch nicht durchgesetzt hat, wird im Rahmen dieses Beitrags der herkömmliche Begriff benutzt.

9 Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien vom 16.12.2004. BT-Drs. 15/4538.

10 Art. 2a LVerf Baden-Württemberg (Änderung/Verfassung in Kraft seit 9. Juni 2000); Art. 118a LVerf Bayern (20. Februar 1998); Art. 11 LVerf Berlin (3. April 1998); Art. 12 LVerf Brandenburg (20. August 1992); Art. 2 LVerf Bremen (9. Oktober 1997); Art. 17 LVerf Mecklenburg-Vorpommern (23. Mai 1993); Art. 64 LVerf Rheinland-Pfalz (8. März 2001); Art. 12 LVerf Saarland (25. August 1999); Art. 7 LVerf Sachsen (27. Mai 1992); Art. 38 LVerf Sachsen-Anhalt (16. Juli 1992).

11 Gesetz über die Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Behinderungen vom 17. Mai 1999 (Berlin); Bayerisches Gesetz zur Gleichstellung, Integration und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen vom 9. Juli 2003; Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen im Land Brandenburg vom 24. März 2003; Bremisches Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen vom 18. Dezember 2003; Gesetz des Landes Nordrhein-Westfalen zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen vom 16. Dezember 2003; Landesgesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen vom 4. Dezember 2002 (Rheinland-Pfalz); Gesetz Nr. 1541 zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen im Saarland vom 26. November 2003; Gesetz zur Gleichstellung behinderter und nichtbehinderter Menschen in Sachsen-Anhalt vom 20. November 2001; Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen des Landes Schleswig-Holstein vom 16. Dezember 2002.

12 Mehr als ein Viertel der Staaten der Vereinten Nationen haben inzwischen Diskriminierungsrechtsvorschriften für Behinderte, vgl. [6]; zum sozialen Modell von Behinderung vgl. ferner [1].

Prof. Dr. Theresia DegenerLL.M. 

Evang. Fachhochschule RWL

Immanuel-Kant-Straße 18 - 20

44803 Bochum

Email: degener@efh-bochum.de

    >