Dtsch Med Wochenschr 2005; 130(16): 1028-1029
DOI: 10.1055/s-2005-866782
Leserbriefe

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Intensivmedizin: Wer darf, wer muss? - Zuschrift Nr. 1

Zum Beitrag aus DMW 1/2/2005U. Börner
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Publication Date:
26 April 2005 (online)

Zuschrift Nr. 1: Der Kommentar der Herren Kollegen Erdmann und de Vivie [1] ist ein schönes Beispiel dafür, was passiert, wenn man streng im eigenen Vorgarten tätig ist und nach rückwärts gerichtet und auf sich selbst bezogen die Welt betrachtet.

Anästhesiologen machen Intensivmedizin? Nein, Intensivmediziner machen Intensivmedizin! Ein Intensivmediziner kann u. a. Internist, Chirurg oder eben Anaesthesist sein; er hat sich jedoch entschieden, schwerpunktmäßig Intensivmedizin zu betreiben und das auf hohem Niveau. Intensivmedizin heißt, kompetent zu agieren in den Feldern respiratorische Insuffizienz, Herz-Kreislaufversagen, Schocktherapie, SIRS- und Sepsis-Therapie, Therapie der Multi-Organ-Dysfunktion und des Multi-Organ-Versagens. Intensiv- und Notfallmedizin heißt, Verantwortung zu übernehmen für die koordinative und allgemeine Intensivtherapie von schwerverletzten und schwererkrankten Patienten. Zu all dem ist der Intensivmediziner in Jahren speziellen intensivmedizinischen Tuns ausgebildet worden, wobei die Weiterbildung basiert auf einer fachärztlichen Grundausbildung.

Die neuen Weiterbildungsordnungen tragen dem in der Tat Rechnung, allerdings etwas anders, als es Erdmann und de Vivie glauben machen wollen. Es wird in Zukunft einen - eben nicht obligat fachgebundenen - Zusatztitel ‚Intensivmedizin’ geben, den verschiedene Fachärzte erwerben können, um sie für die Intensivmedizin zu qualifizieren. Dies ist nach meiner Meinung erst einmal eine kleine Lösung, der in wenigen Jahren der umfassend ausgebildete intensivmedizinische Facharzt folgen muss.

Wenngleich hier Anästhesiologie nicht mein primäres Thema ist und ich mich hier in erster Linie nicht als Anästhesist definiere, sei doch erwähnt, dass Anästhesiologie weit mehr ist, als bewusstlose Patienten zu beatmen. Anästhesiologie ist klinische Physiologie, klinische Pathophysiologie, klinische Pharmakologie und Handwerk (wie das Herzkathetern übrigens auch). Gerade die perioperative Versorgung multimorbider Patienten schult das pathophysiologische Verständnis guter Anästhesiologen derart, dass sie sozusagen berufsbegleitend wesentliche Elemente moderner Intensivmedizin internalisieren.

Aber kommen wir zurück auf die Intensivmedizin und die Intensivmediziner. Letzterer ist dann ausreichend qualifiziert, wenn er im Rahmen seiner Ausbildung konfrontiert wurde mit der ganzen Bandbreite intensivmedizinischer Pathophysiologie. Hierzu sind große, zusammenhängende Abteilungen mit einem breiten Patientengut notwendig. Intensivmedizin ist außerdem vom Wesen her interdisziplinär. Sie versammelt unterschiedlichen Sachverstand hochspezialisierter Disziplinen am Krankenbett, wägt ab und entscheidet. Im Interesse der uns anvertrauten Patientinnen und Patienten sollten wir nicht über Vorgartenzäune diskutieren, sondern über die Optimierung von Abläufen.

Wie uns unsere englischen Kollegen vormachen, sollten wir uns alle auf unsere Kernkompetenzen konzentrieren und diese bei kritisch Kranken zusammenführen. Der moderne Intensivmediziner ist hochkompetent in der Behandlungsführung der basalen großen intensivmedizinischen Themen. Dazu bedient er sich aller modernen diagnostischen und therapeutischen Methoden. Darüber hinaus ist er auch Manager in einem Konzert der Spezialisten: So bittet er z. B. den Hals-Nasen-Ohrenarzt um kompetente operative Mitbehandlung der Mastoiditis bei einem schwer septischen Patienten mit Meningitis, bittet den Gastroenterologen zu vielfältigen intestinoskopischen Diagnosen oder Interventionen bei einem multiorganversagenden Patienten oder bespricht mit dem Kardiologen den optimalen Zeitpunkt für eine diagnostische und/oder therapeutische Intervention bei einem älteren schwerverletzten Patienten, dem jetzt offenbar ein akutes Koronarsyndrom zu schaffen macht. In der Tat reicht das Intubieren kreislaufinstabiler Patienten schon lange nicht mehr, hat es eigentlich nie getan. Jeder Intensivmediziner weiß das.

Dies alles geschieht aus der Einsicht heraus, dass die moderne (Intensiv-)Medizin keine Titanen kennt und diejenigen, die sich wider besseres Wissen für solche halten, von der alleinigen unidisziplinären Intensivmedizin fern zu halten sucht. Oder so: Moderne Intensivmedizin ist im Gange, wenn viele ihr Bestes geben und nicht, wenn einer glaubt, allein allumfassend tätig sein zu müssen.

Apropos Titanen: Wenn ein Herzchirurg meint, vom 2500 g schweren Säugling bis zu Patienten jenseits des 80. Lebensjahres all jene kompetent alleine betreuen zu können in einem real existierenden Dienstsystem, das an vielen Kliniken auf der Intensivstation einen Assistenten im zweiten oder dritten Ausbildungsjahr vorhält und einen herzchirurgischen Oberarzt am Telefon daheim, dann kann ich hier die fachliche Hochkompetenz vor Ort wirklich nicht wahrnehmen.

Die Rede von der Angst vor juristischen Konsequenzen kann ich nur so deuten, dass auch in künftigen Zeiten in Deutschland ein hierarchisches System konserviert werden soll, dass sich von der preußischen Militärärztlichen Akademie, der Pepiniére, ableitet, das aber einer modernen Problem- und Ablauf-orientierten Medizin geradezu spottet. Irgendwie hat dieses gegenseitige „noli me tangere“ etwas Rührendes, aber es passt weder medizinisch noch wirtschaftlich in unsere Zeit! Was Not tut, ist, eine wirkliche Gesprächskultur zu entwickeln, in schwierigen Situationen am Krankenbett eine differenzierte Beratungskultur zu pflegen und das Nötige gewissenhaft zu dokumentieren. Verfährt man so, ist juristisch schwer etwas zu befürchten.

Eines ist gewiss: Wenn Krankenhäuser und Großkliniken nicht davon ablassen, abgegrenzte intensivmedizinische Königreiche weiter bestehen zu lassen, wird Intensivmedizin in Zukunft nicht nur an Qualität verlieren, sondern auch unbezahlbar sein. Hierzu gibt es mittlerweile eine Fülle an sehr ernst zu nehmender Literatur.

Literatur

  • 1 Erdmann E, de Vivie E R. Intensivmedizin: Wer darf, wer muss?.  Dtsch Med Wochenschr. 2005;  130 44-45

Univ.-Prof. Dr. Ulf Börner

Leiter Zentrale Intensiv- und Notfallmedizin (ZIN), Klinikum der Universität zu Köln

50924 Köln

Phone: 0221/4785752, 5722

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