Dtsch Med Wochenschr 2005; 130(1/2): 44-45
DOI: 10.1055/s-2005-837374
Kommentare

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Intensivmedizin: Wer darf, wer muss?[1]

Critical care medicine: who should really care for the patient?E. Erdmann1 , E. R. de Vivie2
  • 1Klinik III für Innere Medizin, Herzzentrum der Universität zu Köln
  • 2Klinik für Herz- und Thoraxchirurgie, Herzzentrum der Universität zu Köln
Further Information

Prof. Dr. Erland Erdmann

Klinik III für Innere Medizin, Universitätsklinikum

Josef-Stelzmann-Straße 9

50924 Köln

Publication History

eingereicht: 4.11.2004

akzeptiert: 24.11.2004

Publication Date:
23 December 2004 (online)

Table of Contents

Die Intensivmedizin hat in den letzten drei Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht. Die intensivmedizinische Behandlung und Betreuung Schwerstkranker ist aufwendig und teuer. Das gilt besonders für die Behandlung von Herzinfarkten, Herzrhythmusstörungen, komplizierten Tumorerkrankungen, Schlaganfällen, schwersten Infektionen mit Sepsis und von lebensbedrohlichen Verletzungen. Die meisten Operationen sind überhaupt nur durchführbar, wenn eine spezielle intensivmedizinische Nachbehandlung gesichert ist. Grundlagen für diese Behandlungserfolge bilden individualisierte technisch-apparative und medikamentöse Therapiekonzepte und damit verbunden die Spezialisierung in den ärztlichen Fachdisziplinen, den Berufsgruppen im Pflegebereich und in der Medizintechnik. Daran besteht eigentlich kein Zweifel, und es ist bekannt, dass die teilweise großartigen Erfolge auf den Intensivstationen erst durch die fachgebundene Forschung und deren Umsetzung in die Praxis ermöglicht wurden.

Dieser aktuellen Situation hat die ständige Weiterbildungskommission der Bundesärztekammer (STÄKO) bei der Novellierung der (Muster)-Weiterbildungsordnung (WBO) Rechnung getragen durch die Einführung einer Zusatz-Weiterbildung für Intensivmedizin auf dem 106. Deutschen Ärztetag 2003. Diese Bezeichnung kann als Zusatz für den jeweiligen Facharzt erworben werden in Anästhesioliogie, Chirurgie, Innerer Medizin und Allgemeinmedizin, Kinder- und Jugendmedizin, Neurochirurgie und Neurologie. In der Chirurgie gilt dies für die 8 Säulen, d. h. jeder Facharzt u. a. für Viszeral-, Unfall- und Herzchirurgie sowie Orthopädie kann die Schwerpunktkompetenz und die Weiterbildungsbefugnis erwerben.

Die Intensivmedizin ist ein essentieller Bestandteil der chirurgischen und konservativen Fächer, eine Trennung zwischen der Diagnose der Grunderkrankung und der Behandlung der Vitalfunktionen bei den Patienten ist nicht möglich. Beispielsweise in der Herzchirurgie war spätestens mit der Einführung der Herz-Lungen-Maschinen-Chirurgie die postoperative intensivmedizinische Behandlung ein Schlüssel zum operativen Erfolg und damit für die Weiterentwicklung des Fachgebietes und der Intensivmedizin. Spannt man einen weiten Bogen zur aktuellen Situation, muss gefragt werden, wer die Kompetenz für die intensivmedizinische Betreuung tatsächlich besitzt. Man halte sich das breite Spektrum der herzchirurgischen Eingriffe vor Augen, das von einem 2500 g schweren Säugling mit einem komplexen angeborenen Herzfehler bis zum Patienten im 8. Dezennium mit Aortenklappenersatz und koronarer Bypass-Operation als Kombinationseingriff reicht, ganz zu schweigen von den chirurgischen Behandlungsverfahren der terminalen Herzinsuffizienz mit Kreislaufassistenz-Systemen, Kunstherz und Organtransplantation. Zugegebenermaßen ist dies in der Herzchirurgie eine besondere Konstellation, sie gilt aber auch für andere chirurgische Fächer wie Unfallchirurgie, Viszeralchirurgie und Neurochirurgie. Eine enge Kooperation mit anderen Fachgebieten, auch mit der Anästhesiologie, muss als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Die persönliche Verantwortung des Chirurgen für die postoperative und damit auch für die intensivmedizinische Therapie steht außer Zweifel, diese Verantwortung ist juristisch nicht teilbar [1] [2].

Aus Sicht der konservativen Fächer (z. B. Kardiologie, Onkologie) gilt die Unteilbarkeit der Verantwortung für den Patienten ebenso: z.B. Therapie von Herzinfarkten, komplizierten Tumorerkrankungen, oder Sepsis. Seit in der Kardiologie bei akutem Herzinfarkt evidenzbasiert sofort koronarangiographiert, dilatiert oder operiert und danach intensivmedizinisch überwacht wird, bis bedrohliche Rhythmusstörungen, Pumpversagen oder Re-Infarkte beherrscht sind, hat die Letalität wirklich deutlich abgenommen. Der Herzinfarkt im kardiogenen Schock, eine früher in 90 % der Fälle letal verlaufende Erkrankung, wird heute durch die interventionelle und spezifische intensivmedizinische Behandlung in über 50 % überlebt. Erfreuliche, wenn auch noch nicht ausreichende Erfolge, könnte man meinen. Zukünftig scheint diese erprobte Behandlungsstrategie aber bedroht.

An vielen Universitätskliniken und Hospitälern der Maximalversorgung vernimmt man, dass die fachbezogene Intensivmedizin aufgegeben und in die Verantwortung der Anästhesiologen überführt werden soll. Einem Laien mag das vernünftig erscheinen, haben doch die Anästhesisten primär mit beatmeten und bewusstlosen Patienten zu tun. Mit den Beatmungsmaschinen kennen sie sich hervorragend aus, die Dosierung von Narkotika ist ihnen geläufig. Die intensivmedizinische Therapie basiert jedoch nur zum geringen Teil auf einer optimalen Beatmungsbehandlung. Wichtiger noch sind z. B. bei kardiovaskulär Erkrankten die Beherrschung von Herzrhythmusstörungen, kardialen Ischämien oder anderen Ursachen des Pumpversagens. So wie die 24-h-Herzkatheterbereitschaft heutzutage unabdingbar ist, weil sie Leben rettet, sind auch endoskopische oder bronchoskopische Interventionen die Grundlage einer entsprechenden Intensivtherapie. Die Erfolge der Stroke-Units oder der kardiovaskulären operativen Interventionen sind der eigentliche Kern der jeweiligen fachbezogenen Intensivtherapie. Nicht der Anästhesist oder der „reine” Intensivmediziner sind hier gefragt, sondern der Facharzt, der auch die lebensrettenden notwendigen Akutinterventionen beherrscht.

Mancherorts werden die Intensivstationen im Großklinikum zentralisiert und stehen unter „organisatorischer” Leitung der Anästhesie und gleichzeitig unter fachlicher Leitung eines Herzchirurgen/Unfallchirurgen oder Kardiologen. Vielleicht will der jeweilige klinische Vorstand nur sicherstellen, dass mehrere Ärzte denselben Patienten betreuen, damit weniger Fehler unterlaufen. Natürlich kann man sich absprechen, ob der organisatorisch Verantwortliche mit den Angehörigen des Schwerstkranken spricht oder der „Fachverantwortliche”. Man kann vertraglich sichern, was bei unterschiedlicher Auffassung getan wird, - genauso wie die Organisation einer gemeinsamen Visite oder getrennter „Begehungen”. Evt. gelingt es auch, schon vor Komplikationen mit juristischem Nachspiel festzulegen, ob sich der organisatorisch oder der fachlich Verantwortliche dem Ermittlungsverfahren stellen wird. Eines kann man aber nicht verhindern: Wenn beide ihren Auftrag ernst nehmen, wird auch doppelt soviel Zeit für die gleiche Tätigkeit benötigt.

Aus langjähriger Erfahrung weiß man, wie unendlich schwierig es ist, einen Patienten mit akutem Herzinfarkt innerhalb von 30 min auf dem Kathetertisch zu haben und das verschlossene Infarktgefäß sofort zu rekanalisieren. Wenn Anästhesisten eine Intensivstation leiten und für eine entsprechende Differentialdiagnostik erst den Internisten (Kardiologen, Gastroenterologen) oder den Neurologen hinzuziehen müssen, ist ein Rückfall in alte Zeiten zu befürchten. Der Betroffene selbst möchte im Falle eines Infarktverdachtes keinesfalls auf einer anästhesiologischen Wachstation landen, auf der versierte Anästhesiologen auf das Polytrauma warten! Eigentlich verwundert es ja, wenn gerade die Anästhesiologie, die schon jetzt häufig in Ermangelung ausreichender personeller Ressourcen die mögliche Zahl von Operationen begrenzen muss, nach neuen Aufgaben greift. Das rasche Intubieren von kreislaufinstabilen Patienten alleine reicht aber heute nicht mehr! Die fachbezogene Intensivtherapie ist derart hochspezialisiert, dass man diese Spezialisten tatsächlich auch im Notfall vor Ort benötigt. Alle gemeinsam - Internisten, Neurologen und Chirurgen - sollten zugunsten unserer Patienten auf ihrer intensivmedizinischen Kompetenz bestehen. Ein fachübergreifendes Gebiet Intensivmedizin in der Anästhesiologie sollte es in Zukunft nicht mehr geben, weder was die Fachkompetenz betrifft, noch im organisatorischen Bereich.

Welche Fachgebiete sind für eine Kooperation in der Intensivmedizin prädestiniert? Es liegt auf der Hand, dass die organbezogenen Arbeitsbereiche in der Intensivmedizin fachlich, sachlich und personell eng kooperieren müssen. Das trifft z. B. für die Herz- und Kreislauffächer - Kardiologie, Kinderkardiologie, Herz-Thorax-Chirurgie, Gefäßchirurgie und kardiovaskuläre Anästhesie ebenso zu wie für die Fächer Neurologie, Neurochirurgie und Stereotaxie. Diese organbezogenen Fachgruppierungen haben ohnehin durch ständige Konferenzen, Patientenaustausch, Visiten und gemeinsame Konferenzen für die gleichen Patienten Tag und Nacht miteinander zu arbeiten und Entscheidungen zu treffen. Vor dem Hintergrund finanzieller Einschränkungen lassen sich sinnvolle, den Patienten nicht belastende Einsparungen in der Intensivmedizin ableiten:

  1. Gemeinsame Nutzung von intensivmedizinischen Bereichen - Beatmungsstation, „Intermediate-Care”

  2. Abstimmen von gemeinsamen Therapiestrategien, pharmakologischen Konzepten, Beatmungstechniken, Medizintechnik

  3. Personal-Rotation in allen Bereichen.

  4. Einkaufsstrategien

Mit diesem Konzept empfiehlt sich die Einrichtung von organbezogenen Zentren möglichst unter einem Dach, die eine Konzentration der Fachkompetenzen besonders in der Intensivmedizin sicherstellt.

#

Fazit

Zweifellos besteht ein Zielkonflikt zwischen Ökonomie und medizinischen Möglichkeiten. Die Argumentation über die Zuordnung der Verantwortlichkeit der Intensivmedizin weist klar daraufhin, dass in der Zukunft fachliche Kompetenz und Qualität der Leistung in den Vordergrund rücken werden. Aus der wirtschaftlichen Verantwortung der Fachvertreter, z. B. Kardiologen und Herzchirurgen kann der wesentliche und Ressourcen-intensive Bestandteil der Intensivmedizin nicht herausgenommen werden. Die Entscheidungsbefugnis über Bettennutzung und Bettenkapazität ist eng verknüpft mit der Nutzung der Kapazitäten im Herzkatheterlabor und im OP. Hierfür sind rasche fachgebundene Entscheidungsmöglichkeiten in Notfällen erforderlich. Die Haftungsrisiken sind unübersehbar erhöht, auch das Klinikum geht erhebliche Haftungsrisiken ein. Schließlich trägt der jeweils verantwortliche Arzt die volle straf- und zivilrechtliche Verantwortung für seine Entscheidung - ökonomische Aspekte sind immer nur zweitrangig [3].

Die Diskussion über die Zusammenführung aller intensivmedizinischen Einheiten unter der Führung der Anästhesiologie, auch unter Berücksichtigung der fachspezifischen Kompetenzen, ist sinnlos, sie bringt für den einzelnen Patienten mit der Notwendigkeit einer intensivmedizinischen komplexen Behandlung keinen Vorteil. Eher besteht die Gefahr, dass die fachkompetente kontinuierliche intensivmedizinische Versorgung fehlt.

Autorenerklärung: E. E. ist Mitglied der ständigen Kommission für Forschung und Wissenschaftlichen Nachwuchs der Hochschulrektorenkonferenz.

#

Literatur

  • 1 Siewert J R. Wem gehört der Intensivpatient? - Dem Chirurgen? Vortrag in der gemeinsamen Sitzung des BDC/BDA (Operative Intensivstationen - Interdisziplinäre Zusammenarbeit?) 5. Deutscher Interdisziplinärer Kongress für Intensivmedizin und Notfallmedizin, Hamburg. 2002
  • 2 Weißauer K. In: Langenbecks Arch Chir Suppl II (Hrsg.: E. Ungeheuer) Springer, Berlin, Heidelberg Intensivmedizin - Forensische Probleme unter dem Gesichtspunkt der geteilten Verantwortlichkeit.  1989: 809-811
  • 3 Hartl W H, Inthorn D, Schildberg F W. Intensivmedizin im Spannungsfeld von Weiterbildung und fachspezifischer Verantwortung.  Der Chirurg BDC;. 2001;  4 92-100

1 Unter Mitwirkung der Präsidenten der wissenschaftlichen Fachgesellschaften: Prof. Dr. Th. Meinertz, UKE Hamburg, Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK), und Prof. Dr. H. H. Scheld, UK Münster, Deutsche Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie (DGTHG) und unter Zustimmung der Vorstände der jeweiligen Fachgesellschaften

Prof. Dr. Erland Erdmann

Klinik III für Innere Medizin, Universitätsklinikum

Josef-Stelzmann-Straße 9

50924 Köln

#

Literatur

  • 1 Siewert J R. Wem gehört der Intensivpatient? - Dem Chirurgen? Vortrag in der gemeinsamen Sitzung des BDC/BDA (Operative Intensivstationen - Interdisziplinäre Zusammenarbeit?) 5. Deutscher Interdisziplinärer Kongress für Intensivmedizin und Notfallmedizin, Hamburg. 2002
  • 2 Weißauer K. In: Langenbecks Arch Chir Suppl II (Hrsg.: E. Ungeheuer) Springer, Berlin, Heidelberg Intensivmedizin - Forensische Probleme unter dem Gesichtspunkt der geteilten Verantwortlichkeit.  1989: 809-811
  • 3 Hartl W H, Inthorn D, Schildberg F W. Intensivmedizin im Spannungsfeld von Weiterbildung und fachspezifischer Verantwortung.  Der Chirurg BDC;. 2001;  4 92-100

1 Unter Mitwirkung der Präsidenten der wissenschaftlichen Fachgesellschaften: Prof. Dr. Th. Meinertz, UKE Hamburg, Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK), und Prof. Dr. H. H. Scheld, UK Münster, Deutsche Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie (DGTHG) und unter Zustimmung der Vorstände der jeweiligen Fachgesellschaften

Prof. Dr. Erland Erdmann

Klinik III für Innere Medizin, Universitätsklinikum

Josef-Stelzmann-Straße 9

50924 Köln