Dtsch Med Wochenschr 2004; 129(49): 2672-2675
DOI: 10.1055/s-2004-836095
Ethik in der Medizin
Pharmakogenetik
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Individualisierung von Diagnostik und Therapie

Welche ethischen Grundfragen berührt die Pharmakogenetik?Individualization of diagnosis and therapyJ. S. Ach1 , 2 , K. Bayertz1 , U. Wiesing3
  • 1Forschungsstelle Bioethik, Münster
  • 2Philosophisches Seminar, Universität Münster
  • 3Lehrstuhl für Ethik in der Medizin, Universität Tübingen
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Publication History

eingereicht: 28.7.2003

akzeptiert: 27.7.2004

Publication Date:
01 December 2004 (online)

Die Pharmakogenetik untersucht, welche genetischen Faktoren für die individuellen Unterschiede in der Reaktion von Patientinnen und Patienten auf die Gabe von Arzneimitteln verantwortlich sind und welche Bedeutung diese genetischen Faktoren für die Vorhersage der Wirkung einer medikamentösen Therapie haben. Im Einzelnen bestehen die Ziele pharmakogenetischer Forschung vor allem darin,

die individuelle Wirksamkeit von Medikamenten zu optimieren, die Dosierung möglichst individuell anzupassen, durch die Einnahme von Medikamenten verursachte unerwünschte Reaktionen zu vermeiden und die Aktivität von Medikamenten im Organismus besser verstehen und steuern zu können 6.

Die Pharmakogenetik könnte daher in Zukunft eine erhebliche Rolle im Hinblick auf die Sicherheit und Wirksamkeit der Arzneimitteltherapie spielen. Die Behandlung von Patientinnen und Patienten könnte, wenn sie individualisiert und risikoadaptiert erfolgt, insgesamt sicherer, effektiver und verträglicher werden als bisher. Das birgt nicht zuletzt natürlich auch eine Reihe von ökonomischen Vorteilen [1] [13].

Weil Erkrankungen bzw. Erkrankungsdispositionen sowie die Reaktionsbereitschaft auf Arzneimittel von genetischen Faktoren, die eine individuelle Charakteristik aufweisen, zumindest mitbedingt werden, erlaubt die pharmakogenetische Diagnostik im Prinzip eine Individualisierung von Therapien bzw. von Präventionsstrategien. Dieser Redeweise muss jedoch mit Vorsicht begegnet werden, da sie in zweifacher Hinsicht eine Übertreibung darstellt. Zum einen, weil „Individualisierung” - ebenso wie „personalisierte” Diagnostik und Therapie - im Kontext der Pharmakogenetik ja nur die Erfassung der genetischen Merkmale bedeutet, die zu individuell unterschiedlichen Erkrankungsrisiken und Krankheitsverläufen sowie zu individuell unterschiedlichen Wirkungsprofilen von Arzneimitteln führen (können). Von einer Berücksichtigung des „ganzen Menschen” in seiner Individualität kann daher keine Rede sein. Zum anderen, weil die „Individualisierung” im Kontext der Pharmakogenetik genau genommen nur auf eine Typisierung abzielt, nicht auf eine Individualisierung der Arzneimitteltherapie bis auf die Ebene des einzelnen Subjekts.

Wie realistisch die mit der Pharmakogenetik verbundenen Erwartungen tatsächlich sind, ist gegenwärtig nur schwer abschätzbar und muss an dieser Stelle offen bleiben. Nicht alle Blütenträume reifen; und das Beispiel der Gentherapie zeigt, dass Vorsicht im Hinblick auf Erwartungen und Prognosen grundsätzlich berechtigt ist. Auch die pharmazeutische Industrie ist bislang offenbar nicht durchgängig von den Zukunfts- und insbesondere den Gewinnaussichten dieses neuen Ansatzes überzeugt; dies schon deshalb, weil die möglichen strukturellen Auswirkungen auf den Markt für Pharmaka im Ganzen derzeit noch unabsehbar sind [11]. Eine wichtige Rolle werden in diesem Zusammenhang die zuständigen Arzneimittelzulassungsbehörden spielen [10].

Wenn es jedoch gelänge, die Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln durch ihre Anpassung an die genetische Konstitution von Patientinnen und Patienten zu erhöhen, so würde dies einen bedeutenden Beitrag zur Lebensrettung, Lebensverlängerung bzw. zur Verbesserung der Lebensqualität leisten. Sollte sich dies verwirklichen lassen, dann handelte es sich bei der Pharmakogenetik ohne Zweifel um ein lohnens- und wünschenswertes, ethisch nicht nur akzeptables, sondern gebotenes Ziel.

kurzgefasst: Pharmakogenetik könnte in Zukunft eine wichtige Rolle im Hinblick auf die Sicherheit und Wirksamkeit der Arzneimitteltherapie spielen.

Literatur

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  • 2 Bayertz K, Schmidtke J. Genomanalyse: Wer zieht den Gewinn? Ethische und soziale Probleme der molekulargenetischen Diagnostik erblich bedingter Erkrankungen. Mannheimer Forum, München 1994
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  • 6 Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin” Schlussbericht. Bundestags-Drucksache 14/9020 2002
  • 7 Feuerstein G, Kollek R, Uhlemann T. Krankenversicherung/Gesundheitswesen/Gentechnologie. Baden-Baden 2002
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  • 11 Horrobin D F. Realism in drug discovery - could Cassandra be right?.  Nature biotechnology. 2001;  19 1099f
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  • 19 Scholz C. Biographie und molekulargenetische Diagnostik. Frankfurt/M In: Beck-Gernsheim, E. (Hg.): Welche Gesundheit wollen wir? Dilemmata des medizinischen Fortschritts 1995: 33-72
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  • 22 Weijer C, Miller P B. Protecting communities in pharmacogenetic and pharmacogenomic research.  The Pharmacogenomics Journal. 2004;  4 9-16
  • 23 Wiesing U. Wer heilt, hat Recht?. Schattauer, Stuttgart 2004

Dr. Johann S. Ach

Forschungsstelle Bioethik

Waldeyerstraße 27

48149 Münster

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