psychoneuro 2004; 30(4): 221-226
DOI: 10.1055/s-2004-826663
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Im Räderwerk impliziter Rationierung - Auswirkungen der Kostendämpfung im deutschen Gesundheitswesen (Teil I: Rationierung in verschiedenen Leistungsbereichen)

Carlo Schultheiss1
  • 1Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Universität Konstanz
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Korrespondenzadresse

Dr. Carlo Schultheiss

Universität Konstanz

78457 Konstanz

Email: carlo.schultheiss@uni-konstanz.de

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Publication Date:
11 May 2004 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Manche wissenschaftliche Experten sprechen von der Notwendigkeit einer Rationierung im Gesundheitswesen und vermuten, dass die Rationierung de facto im Alltag der deutschen Medizin bereits stattfindet. Von gesundheitspolitischer Seite wird die Rationierung dagegen gerne als ein drohendes Problem der Zukunft dargestellt. Die vorliegende explorative Studie wertet 17 Interviews aus, die die momentane Versorgungssituation an deutschen Krankenhäusern beleuchten. In Teil I wird untersucht, welche Versorgungsbereiche heute möglicherweise der Rationierung unterliegen und welche Form eine etwaige Rationierung dort annimmt. In Teil II dieser Arbeit, die in psychoneuro 5/04 erscheint, werden Methoden einer de facto stattfindenden Rationierung thematisiert.

Die von manchen Theoretikern vertretene Auffassung, dass es zu einer Rationierung in der deutschen Medizin keine plausible Alternative gibt, ist gegenwärtig nicht herrschende Meinung in der Gesundheitspolitik. Während etwa der Gesundheitsökonom W. Krämer [3] schon vor Jahren von der Notwendigkeit der Rationierung sprach und der Medizinsoziologe V. H. Schmidt [9] von einer zum medizinischen Alltag gehörenden Rationierung ausgeht, fungiert in der Politik „Rationierung” vor allem als Kampfbegriff, und die Rationierung von Gesundheitsleistungen wird gerne als ein Problem dargestellt, das sich in Zukunft stellen könnte, falls bestehende Rationalisierungsreserven nicht ausgeschöpft werden (vgl. 6).

Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, einen Eindruck davon zu gewinnen, ob bzw. wo die gesundheitspolitischen Sparmaßnahmen schon heute zu einer Rationierung der medizinischen Versorgung führen und ob sich dabei gegebenenfalls Kriterien erkennen lassen, die die Entscheidungen über die Rationierung von Gesundheitsgütern faktisch steuern. Zu diesem Zweck haben Susanne Hahn (Universität Duisburg) und der Autor im Rahmen des DFG-Projekts „Altersbezogene Rationierung im liberalen Rechtsstaat - ethische, ökonomische und institutionelle Aspekte” zwischen 1998 und 2000 unabhängig voneinander insgesamt 17 qualitative Interviews mit Ärzten geführt, die in der vorliegenden Arbeit und einem nachfolgenden Teil ausgewertet werden. Während Teil I von der Frage geleitet ist, welche Versorgungsbereiche heute möglicherweise der Rationierung unterliegen und welche Form eine etwaige Rationierung dort annimmt, wechselt der noch erscheinende zweite Teil die Perspektive, indem er den Schwerpunkt auf Methoden einer de facto stattfindenden Rationierung legt.

Generell lässt sich nach Breyer und Schultheiss [1] zwischen einer primären und einer sekundären Rationierung unterscheiden, wobei „primäre Rationierung” vorliegt, wenn die Rationierung in Form der Verknappung medizinischer Ressourcen stattfindet. Beispiele sind eine das Maß des Gewünschten unterschreitende Ausstattung eines Krankenhauses mit bestimmten Untersuchungsgeräten oder die Festlegung transparenter Ausschlussregeln für bestimmte Behandlungen mit dem Ziel, die Gesundheitsausgaben zu begrenzen. Unter „sekundärer Rationierung” ist dagegen die Zuteilung knapper medizinischer Güter zu verstehen. Diese ist dann eine unvermeidbare Konsequenz primärer Rationierung, wenn letztere in einer impliziten Form, d.h. unter Abwesenheit transparenter Ausschlussregeln, vorgenommen wird. Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht diese als eine Folge primärer Rationierung zu betrachtende sekundäre Rationierung.

„Sekundäre Rationierung” liegt dann vor, wenn (im Rahmen kollektiv finanzierter Gesundheitsversorgung) Entscheidungen über die Behandlung konkreter Patienten getroffen werden, aber medizinische Ressourcen nicht in dem Umfang vorhanden sind, dass alle Patienten die Güter erhalten können, die sie sich - bei Kenntnis der unterschiedlichen Versorgungsmöglichkeiten - zu den vorgesehenen Finanzierungsregeln wünschen würden und es sich bei den fraglichen Gütern um solche handelt, die innerhalb einer kollektiv finanzierten Gesundheitsversorgung grundsätzlich angeboten werden. Dieses Verständnis von Rationierung verzichtet bewusst auf den Begriff des medizinisch Notwendigen, der, worauf Ubel und Goold [7] und andere hinlänglich hingewiesen haben, sich bestens zur Verschleierung ethischer Probleme eignet, und der auch unter Medizinern nicht unumstritten ist (vgl. 4).

Die vorliegende explorative Studie, die bei der Auswahl der Fragen, aus denen sich der verwendete Interview-Leitfaden zusammensetzte, von einer Studie Kuhlmanns [5] zur Versorgungssituation im Krankenhaus profitierte, beschränkt sich nicht auf qualitative Aussagen. Um einen inter- und intrapersonellen Vergleich zwischen den Stellungnahmen der Befragten zu ermöglichen, werden Ergebnisse in tabellarischer Form präsentiert, wobei statt der Namen der Interviewpartner jeweils eine in eckige Klammern gesetzte Ziffer erscheint. Das hinter der gewählten Darstellungsform stehende Ziel ist größtmögliche Transparenz bei voller Wahrung der Anonymität der interviewten Personen. Ferner wird der Unterscheidung zwischen deskriptiven Aussagen und Werturteilen Rechnung getragen, indem die Auswertung selbst von Wertungen freigehalten und für normativ-ethische Betrachtungen ein eigener Abschnitt (im zweiten Teil der Untersuchung) reserviert wird.

Die Interviews wurden mit Personen geführt, die an deutschen Krankenhäusern unterschiedlicher Versorgungsstufen beschäftigt waren - von Einrichtungen der sogenannten Maximalversorgung bis hin zu sehr kleinen Häusern. Grundlage der Auswertung sind transkribierte Mitschnitte und zwei Protokolle. Ein Teil der Interviews fand im süddeutschen Raum statt, der andere bis auf zwei Ausnahmen (einem Interview in Hessen und einem in Rheinland-Pfalz) im Ruhrgebiet.

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Rationierung der pflegerischen Versorgung

Angesichts bisheriger Resultate der empirischen Rationierungsforschung [5] erstaunt es nicht, dass nahezu alle Interviews mehr oder weniger Anlass zu der Vermutung geben, es bestehe in den jeweiligen Einrichtungen eine sich nicht nur auf unvorhergesehene Ausnahmesituationen erstreckende Knappheit in der Pflege. Bezüglich der allgemeinen Situation der Pflege lassen sich grob drei Antworttypen unterscheiden:

  • Die Lage im eigenen Haus wurde ohne besondere Einschränkung als „ordentlich” betrachtet

  • Die Suboptimalität der Situation wurde stärker betont, wobei z.B. gesagt wurde, dass es in Zeiten erhöhter Patientennachfrage (etwa während einer Grippewelle) zu Engpässen komme, dass man sich „am unteren Limit” befinde oder dass man „noch gerade ordentlich besetzt”.

  • Der Brisanz der Lage wurde besonderes Gewicht verliehen, indem von risikoreichen Qualitätseinbußen im Pflegedienst gesprochen wurde oder gar zu bedenken gegeben wurde, dass infolge mangelnden Personals Todesfälle in Kauf genommen werden müssten.

Ein Befragter äußerte sich entsprechend dem ersten Typ, elf Antworten lassen sich dem zweiten und vier Antworten dem dritten Typ zuordnen. In einem Fall wurde auf eine Aussage verzichtet. Was eine durch knappe Pflegeressourcen bedingte Benachteiligung einzelner Patientengruppen anbelangt, kamen folgende Kriterien zur Sprache: Alter, Pflegeaufwand, Aktivitäts- und Informationsniveau der Patienten, Notwendigkeit der Überwachung und künstlichen Beatmung sowie der jeweilige Bedarf an Intensivpflege. So wies ein Arzt darauf hin, dass infolge des Mangels auch an pflegerischem Personal nicht alle Betten der Intensivstation in vollem Umfang genutzt werden könnten, so dass auf künstliche Beatmungen verzichtet werden müsse. Als Folge hiervon würden Patienten abgelehnt oder auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet[9]. [Tabelle 1] zeigt die Verteilung der Antworten.

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Rationierung von Intensiv-betten

Auf eine Rationierung von Intensivbetten verweist die Aussage von zwei Medizinern, dass die Intensivkapazitäten in Deutschland im Allgemeinen zu knapp bemessen seien [4](14). Einer von ihnen meinte, in seinem Hause müsse zweimal am Tag entschieden werden, wer von der Intensivstation verlegt werden könne [4]. Wie [Tabelle 2] verdeutlicht, verweisen auch die Aussagen anderer Befragter auf eine Verknappung von Intensivplätzen.

Eine zunehmende Knappheit der intensivmedizinischen Betreuung erhöht den Druck auf die Ärzte, „tragische” Entscheidungen fällen zu müssen. Davon scheinen gerade Häuser der sogenannten Maximalversorgung betroffen zu sein, da sie nicht so leicht Patienten abweisen oder in andere Einrichtungen verschieben können. Wenn Notfälle zu versorgen sind und kein freies Bett zur Verfügung steht, gilt es zu entscheiden, wessen intensivmedizinische Behandlung abgebrochen wird. Im Verlauf eines Gesprächs wurde betont, dass eine „ausreichende Stabilisierung” vorliegen müsse, wobei man sich bemühe, „in diesem Punkt keinerlei Kompromisse zu machen”, weil ansonsten Patienten rückübernommen werden müssten und das Problem dann viel größer sei. Dennoch lebe man mit der Gefahr, dass bei der Frühverlegung „Kompromisse” gemacht würden, nach dem fragwürdigen Grundsatz: „Ach Gott, machen wir es doch, es wird schon gutgehen.” [4] Dabei liegt die Frage nahe, ob in solchen Situationen entsprechend der notfallmedizinischen Triage nicht auch Fälle mit einer sehr geringen Überlebenschance bevorzugt verlegt werden. Einige Stellungnahmen bestätigten eine solche Verlegungsgepflogenheit; in einem Gespräch wurde sogar in aller Direktheit gesagt, dass die Intensivstation nicht als „Sterbezimmer” missbraucht werden dürfe [5]. Die Knappheit veranlasst Ärzte allerdings mitunter Entscheidungen zu treffen, die die Intensivstation doch zu einem „Sterbezimmer” werden lassen. Nach Auskunft eines Befragten kommt es manchmal vor, dass man bei einem Patienten, bei dem sich „zerebral gar nichts tut” [6], aber nicht auszuschließen ist, dass sich nach einigen Monaten eine Besserung einstellt, eine lebenserhaltende Maßnahme (z.B. die Verabreichung eines Antibiotikums) mit einer gewissen Verzögerung ergreift, um Platz für einen anderen Patienten zu schaffen.

Das triagetypische Ziel eines möglichst effizienten Ressourceneinsatzes wurde von mehreren Ärzten mit Hilfe des Begriffs der Prognose umschrieben: Die Entscheidung, ob eine Person früher verlegt wird, sei entscheidend von deren „Prognose” abhängig, was eine indirekte Altersrationierung vermuten lässt, da die Prognose eines jüngeren Patienten im Durchschnitt besser ist als die eines betagten Patienten. Manche, die sich auf die individuelle „Prognose” als Allokationskriterium beriefen, räumten dementsprechend ein, dass infolge der Anwendung dieses Kriteriums das Alter der Patienten in die Auswahlentscheidungen hineinspielt. Es finden sich in der ethischen Literatur Vorschläge zu einer altersbezogenen Rationierung, die sich auch dann für eine Priorisierung jüngerer Patienten aussprechen, wenn bei ihnen der erwartete, in „qualitätsbereinigten Lebensjahren” (QALYs, vgl. [10]) bemessene Behandlungserfolg nicht größer ist als der bei älteren. So befürwortet z.B. der amerikanische Medizinethiker D. Callahan [2] Altersgrenzen bei lebensverlängernden Gesundheitsleistungen. Die deutsche Medizin zieht eine altersspezifische Grenze, so konnte man jedenfalls von mehreren Seiten vernehmen, seit langem bei Knochenmark-Transplantationen, wo das Grenzalter nach Auskunft eines Befragten [6] derzeit bei 55 Jahren liegt. Es sei, wie er beispielhaft ausführte, aussichtslos, einen 70-jährigen Leukämie-Patienten in einem der in Frage kommenden Zentren unterzubekommen, wobei man sich auf die fragliche Grenze „ganz klar geeinigt” habe. Irritierenderweise wurde das Grenzalter von einer der interviewten Personen, die erst nach mehrmaligem Nachfragen die Existenz einer Altersregelung konzedierte, auf 60, 65 Jahren taxiert - ein Symptom für die gegenwärtige Intransparenz der Rationierung. Hingegen wurde von niemandem behauptet, dass bei frühzeitigen Verlegungen von der Intensivstation klare Altersgrenzen angesetzt würden. Das heißt jedoch nicht, dass dem Lebensalter in der Intensivmedizin nicht auf andere Weise - jenseits einer „Prognose”-geleiteten Altersrationierung - Bedeutung zukommt. In einem Gespräch wurde zu bedenken gegeben, es könne „mal eine Rolle spielen”, dass man „teilweise unbewusst” das Leben eines Kindes mit einer Prognose von fünf Jahren höher bewerte als das Leben eines alten Patienten mit der gleichen Prognose [6].

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Rationierung bei Arzneimitteln (einschl. Blutpräparaten)

Es ist mittlerweile hinlänglich bekannt, dass angesichts der Sparpolitik im Gesundheitswesen die Preise von Medikamenten oder Implantaten ein größeres Gewicht bei der Behandlungsentscheidung gewinnen. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit Patienten aus Gründen der Budgetierung keine oder nur suboptimale Medikamente und Implantate erhalten und von welchen Kriterien bei der Auswahl des jeweiligen Arzneimittels oder Implantats gegebenenfalls Gebrauch gemacht wird. Ein Arzt [6] verwies in seiner Antwort auf die Frage, ob er mit „Engpässen” in der medizinischen Versorgung konfrontiert sei, darauf, dass (was jeder Arzt aus seiner Praxis kenne) Medikamentenbudgets insofern Rationierung zur Folge hätten, als billigere und zum Teil weniger wirksame oder innovative Medikamente verabreicht werden müssten. Im Verlauf des Gesprächs bekräftigte er die Behauptung, dass es Situationen gebe, in denen er aus Budgetierungsgründen nicht das beste Mittel wählen könne. Man verhalte sich beispielsweise bei einem an chronischer Leukämie erkrankten 80-jährigen Patienten aufgrund seines Bedarfs an Thrombozyten (Blutplättchen) durchaus so, dass man nicht „das optimale Ziel im Auge” habe. Ein anderer Gesprächspartner [3] sprach von der Tendenz, sich von teuren Patienten zu „trennen”, weil die Kosten für Thrombozytenkonzentrate in manchen Fällen nicht übernommen würden und es schon zu enormen Ausgaben im eigenen Haus gekommen sei.

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Rationierung bei chirurgischen Eingriffen (Implantate und Bypass)

Viele Befragte wählen nach eigenem Bekunden nicht immer das teuerste und fortgeschrittenste Implantat oder die Operation, die bei gleichem Befund bei anderen Patienten durchgeführt würde. Eine utilitaristische Grundorientierung lässt sich erkennen, wenn unter Berufung auf den Gesichtspunkt des „biologischen” Alters etwa gesagt wurde, dass man älteren Patienten keine aus Keramik hergestellten Prothesen zu implantieren brauche [5] oder dass man evtl. einem 80-jährigen Patienten eine Bypass-Operation zukommen lassen würde, während man auf eine solche bei einem 40-jährigen Alkoholiker, der an einer Leberzirrhose erkrankt sei, verzichte [2].

Es handelt sich hier um Beispiele, deren Einstufung als „Rationierung” umstritten sein dürfte. Setzt man das „medizinisch Notwendige” als Maßstab der rationierenden Limitierung an, so wird man vielleicht argumentieren, dass in keinem der Fälle Rationierung vorliegt, sondern lediglich ein rationaler Einsatz von Ressourcen, der nicht nur in Zeiten strenger Budgetierung geboten ist. Verbindet man aber - wie dies in der vorliegenden Arbeit der Fall ist - Rationierung mit einer Unterschreitung des vom Patienten Gewünschten, ist es schon weniger strittig, von einer „Rationierung” zu sprechen. Schließlich wird man vermuten dürfen, dass sich mancher Patient, dem eine geringe Restlebenserwartung zukommt, nicht gerne mit einem Implantat zufrieden gibt, das aufgrund seiner Materialbeschaffenheit gerade für seine verbleibende Lebenszeit ausreicht. Präferenzen solcher Art könnten mit dem menschlichen Hang zu tun haben, auch da zu hoffen, wo es keinen Grund (mehr) zu hoffen gibt, und es erscheint - mögen diese Präferenzen selbst rational sein oder nicht - problematisch, sie als empirische Randphänomene abzutun.

Aber selbst unter der Voraussetzung, dass man Rationierung als Unterschreitung des „medizinisch Notwendigen” oder „Sinnvollen” begreift, kann durchaus Rationierung vorliegen, und zwar dann, wenn Patienten von der Entscheidung für eine suboptimale Maßnahme erfahren oder sie erahnen und sich infolgedessen ein negativer Effekt für ihr Befinden ergibt. Ein solcher wird z.B. dann nicht auszuschließen sein, wenn für eine an Brustkrebs erkrankte Patientin, bei der sich Knochenmetastasen gebildet haben, ein Implantat gewählt wird, dessen Haltbarkeit ihrer noch geringen Restlebenserwartung von etwa 2 Jahren angepasst ist [9].

Mehrfach wurde die Ansicht vertreten, dass betagte Patienten nicht immer die neuesten und ausgefeiltesten Herzschrittmacher-Modelle benötigten. Dagegen wies es ein Interviewpartner weit von sich, bei der Schrittmacher-Wahl das Alter der Patienten zu berücksichtigen, denn - so lautete seine reductio ad absurdum - wer so vorgehe, könne es auch nicht verwerflich finden, ihm „irgendein Medikament zu geben, damit er ein bisschen über die Runden kommt”(15).

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Fazit

Entgegen der von politischer Seite in der Öffentlichkeit verbreiteten Sichtweise, wonach das deutsche Gesundheitswesen aktuell keine Rationierung kennt, verweisen zahlreiche Äußerungen der interviewten Mediziner auf eine Unterversorgung, die kaum anders denn als „Rationierung” zu bezeichnen ist. Für jeden der hier thematisierten Leistungsbereiche, wie z.B. die Pflege oder die Versorgung mit Intensivbetten, lassen sich in den Interviews Aussagen finden, die zumindest den „Verdacht” einer Rationierung nähren. Besonders deutliche Anhaltspunkte ergeben sich dabei für die Pflege, die Intensivmedizin und die Arzneimittel. Nicht zuletzt der von etlichen Befragten festgestellte Mangel an Intensivbetten lässt daran zweifeln, dass es heute gelingt, alle lebensverlängernden Leistungen bereitzustellen.

Von der impliziten Rationierung, die in den untersuchten Leistungsbereichen stattzufinden scheint, sind in einem besonderen Maße betagte Patienten betroffen, und zwar entweder direkt als Folge einer Altersgrenze, auf die man sich stillschweigend geeinigt hat, oder, was vermutlich eine größere Rolle spielt, indirekt, z.B. als Ergebnis einer auf die Maximierung des medizinischen Nutzens ausgerichteten Selektion. Auch bei der Pflege sind - folgt man einigen Medizineraussagen - ältere Patienten im Nachteil,denn sie brauchen mehr Pflege und können sich vielfach nicht in dem Maße aktiv für ihre Belange einsetzen wie jüngere. Setzt man voraus, dass die Versorgungsengpässe, von denen es allem Anschein nach jetzt schon viele gibt, in den kommenden Jahren aufgrund steigender Kostenbelastung zunehmen, werden die Älteren- bei Fortsetzung der bisherigen Gesundheitspolitik - wohl unter noch erheblicheren Nachteilen zu leiden haben.

Der Autor dankt der DFG für ihre Förderung (Aktenzeichen BR740/13-1) sowie Friedrich Breyer (Universität Konstanz) für wertvolle Kritik einer Vorgängerversion der Arbeit. Gedankt sei außerdem den studentischen Hilfskräften Dorothee Crayen und Martin Heineck für ihre Unterstützung bei der Auswertung der Interviews.

Tab. 1 Auswirkungen des Pflegemangels für einzelne Patientengruppen[1]

Einschätzungen

Befragte

Nachteile für passive, wenig informierte Patienten[2]

[2], [3], [5], [8], [9], [11], [15], [16]

Nachteile für schwer Pflegebedürftige bzw. Patienten, die viel Zeit bei der Pflege beanspruchen

[1], [6], [11], [14]

Nachteile für Beatmungs- und Überwachungspatienten

[9], [16]

Nachteile für ältere Patienten

[10], [6], [15]

Problem unbekannt oder keine Angabe

[4], [7], [13]

keine Nachteile für bestimmte Gruppen

[12], [17]

1 Berücksichtigt wurden auch Antworten auf die allgemein gehaltene Frage nach Gruppen, die durch die gegenwärtige Knappheitssituation im Gesundheitswesen benachteiligt sind.

2 In einem Fall wurde betont, dass Patienten, die drohen, einen Rechtsbeistand einzuschalten, im Vorteil sind.

Tab. 2 Knappheit an Intensivbetten?

Beschreibung

Wertung

Bedenklich/ein (zunehmendes) Problem/zu knapp bemessen

nicht eindeutig

unbedenklich

keine erkennbare Wertung

„Täglich”/„permanent” spürbare Knappheit im eigenen Haus

[4]

 

[2]

[17]

„immer wieder”/„regelmäßig” spürbare Knappheit im eigenen Haus

[15]

[5], [10][3]

 

[9]

„selten” spürbare Knappheit im eigenen Haus/schwankende Einschätzung

 

 

 

[8][4]

Knappheit im eigenen Haus vorhanden

[1], [6], [14], [16]

 

[3]

[12]5, [13][5]

anderswo stärker spürbare Knappheit als im eigenen Haus

 

[10]

 

[9]

Knappheit außerhalb des eigenen Hauses

[1], [4], [6], [14]

[5], [7]

[11]

[3]

3 Der Interviewpartner [10] wusste allerdings von einem Patienten zu berichten, der aufgrund der Knappheit an Betten aus dem eigenen Haus wegverlegt werden musste und auf der Allgemeinstation der anderen Klinik verstarb. „So etwas Schreckliches” komme aber „Gott sei Dank fast nie vor.”

4 Der Befragte schwankte bei seiner Einschätzung der Häufigkeit von Knappheitssituationen. „Selten” bedeutete für ihn, dass ein Mal im Jahr Notfallpatienten abgewiesen werden müssten. Kurz darauf sprach er aber davon, dass dies an etwa zehn Tagen im Jahr vorkomme.

5 Hier ergab sich die Antwort, dass im eigenen Haus die Intensivbehandlungsplätze knapp seien, implizit aus der Feststellung, dass Operationen mitunter verschoben werden müssten, um auf der Intensivstation Platz für Notfälle zu schaffen.

Tab. 3 Auswahlkriterien und Bedingungsfaktoren bei der vorzeitigen Verlegung von der Intensivstation

Kriterien/Bedingungsfaktoren

Befragte

Prognose/Chancen

[5], [6], [7], [9]

Stabilität (oder vergleichsweise geringe Bedürftigkeit einer Intensivbehandlung)

[1], [4], [9], [8], [10], [11], [14], [15], [16], [17]

geringe Aussicht auf Besserung

[7], [3], [5], [8], [11]

hohes Alter

[5], [10], [11], [17][*]

geringes Alter (als Folge größerer Stabilität oder geringerer Gefährdung)

[2], [15], [17]

Therapietreue

[7]

Stellung des Patienten im öffentlichen Leben

[10]

Einfluss Angehöriger

[8]

keine Antwort

[12], [13]

1 Befinden sich zwei Patienten in einem instabilen Zustand und handelt es sich bei dem einen um einen betagten Patienten und bei dem anderen um einen jungen Menschen, lässt der Befragte nach eigenem Bekunden knappe intensivtherapeutische Ressourcen dem jungen Menschen zukommen. Unter solchen Umständen „lohne” es sich eher, für den jungen als für den alten Patienten zu kämpfen, wobei Situationen dieser Art „wirklich ganz, ganz selten” vorkämen.

Tab. 4 Rationierung bei Arzneimitteln und Blutpräparaten

Einschätzung der beobachteten Medikationspraxis (einschließlich Abgabe von Blutpräparaten)

Befragte

Qualitätsabstriche (einschließlich: Abwarten von Studienergebnissen bei positiven Anfangs-evidenzen, Berufungen auf das „medizinisch Notwendige” als „Ausreichendes”, Verlegung aufgrund teurer Präparate)

[3], [6], [10], [8], [12], [17]

Keine Qualitätsabstriche im eigenen Tätigkeitsbereich (einschließlich Berufung auf das „medizinisch Notwendige” als Maßstab, der nicht näher charakterisiert wurde), aber sehr wohl in anderen Häusern oder Sektoren (z. B. im niedergelassenen Bereich)[6]

[1], [14], [15]

Keine Qualitätsabstriche, aber mitunter Verbuchung über anderen Etat oder Einsparungen in anderen Leistungsbereichen notwendig

[16], [8]

Keine Qualitätsabstriche, aber es handelt sich um ein drohendes Problem der Zukunft

[1], [2], [13]

Kein Qualitätseinbruch, keine „Vorenthaltung” guter Medikamente, aber Einschränkungen bei mangelnder Therapietreue

[7]

Keine Qualitätseinschränkungen (einschließlich Angaben, die sich auf einzelne Arzneimittel beschränkten)

[4], [5], [9], [11]

6 Hier wurde auch das Beispiel eines Patienten berücksichtigt, der ein Ersatzpräparat für Heparin benötigte und offenbar von der eigenen Klinik nicht verlegt werden konnte, weil man von der angefragten Klinik die Antwort erhielt, die Kosten seien zu hoch [15]. Allerdings hatte nach Auskunft von [15] die Ablehnung nicht nur mit den hohen Kosten des Ersatzmedikaments zu tun, sondern auch damit, dass das gesamte Management sehr aufwendig sei und sich durch eine Fallpauschale nicht abdecken ließe.

Tab. 5 Entscheidungen über chirurgische Maßnahmen (Implantate, Bypass)

Einschätzung der gegenwärtigen Situation

Kriterien

Befragte

Kostenproblem bei Operationsentscheidungen, manchmal Finanzierungsschwierigkeiten bei technisch aufwändigen Herzschrittmachern, sonst kein „gravierendes, medizinisch indiziertes Einschränken”

biologisches Alter (z. B. bei der Entscheidung über eine Bypass-Operation)

[2]

Im eigenen Haus neueste OP-Methoden einsetzbar, aber „Untergrenze” erreicht, nicht für jeden Patienten unbedingt einen kompletten Hüftgelenkersatz

biologisches Alter

[1]

Bei Herzschrittmachern: nicht immer die „Luxusausführung”, den „billigsten, für den Patienten noch geeigneten Schrittmacher”, aber kein „bewusster” Qualitätseinschnitt

voraussichtliche Lebenszeit, Begleiterkrankungen, Mobilität, körperliche und geistige Leistungsfähigkeit

[8]

Bei der Behandlung hoch betagter Patienten: im Gegensatz zur Neurochirurgie keine Veränderung in der Unfallchirurgie (z. B. keine altersbezogenen Unterschiede bei Hüftoperationen)

Lebensalter plus Befund bei Entscheidungen über die Operationsfähigkeit in der Neurochirurgie

[16]

Bei Herzklappenersatz: „biologisch langfristig bessere Materialien” für jüngere Patienten

keine Angabe

[4]

Keine „spürbare” Qualitätsminderung, Einberechnung des Alters bei Hüftprothesen und bei der Wahl des Herzschrittmachers (1-Kammer vs. 2-Kammerschrittmacher mit Frequenzmodulation)

voraussichtliche Restlebenszeit, hohes Alter, Aktionsradius

[10]

Im Gegensatz zur Neurochirurgie keine Veränderung in der Unfall-chirurgie, was das hohe Alter von Patienten betrifft (z. B. keine altersbezogenen Unterschiede bei Hüftoperationen)

Lebensalter plus Befund bei Entscheidungen über die Operationsfähigkeit in der Neurochirurgie

[16]

Keine Verschlechterung der Versorgungssituation, nicht die teuersten und haltbarsten Prothesen für Hochbetagte

keine Angabe

[5]

Keine qualitativen Abstriche bei Endoprothetik, nicht für jeden Patienten die Prothese mit der größten Haltbarkeit, sondern gegebenenfalls eine weniger „luxuriöse Lösung”

voraussichtliche Restlebenszeit (z.B. Abstimmung von Prothesen auf die geringe Restlebenszeit einer krebskranken Person)

[9]

Keine budgetierungsbedingte Einschränkungen, aber nicht das beste und teuerste Produkt für jeden Patienten

biologisches Alter

[17]

Keine Vorenthaltung „guter” Materalien, nicht für jeden Patienten jedes „hochgezüchtete Produkt”

Art der Erkrankung, Alter

[7]

Bislang keine Erfahrungen mit Qualitätseinbußen, nicht unbedingt den neuesten und besten Herzschrittmacher

hohes Alter, Bettlägrigkeit

[12]

Keine kostenbedingte Qualitätsabsenkung

Bedarf, Notwendigkeit, bei Herzschrittmachern: Form der Rhythmusstörung, ausdrücklich keine Berücksichtigung des Alters und der individuellen Leistungsfähigkeit

[15]

Kein Absenken des Versorgungsniveaus, bewusste Abgabe von Implantaten geringerer Qualität möglich

Compliance, Restlebenszeit

[3]

Keine Erfahrungen mit Qualitätseinbußen

keine Angabe

[11]

Kostenprobleme bei Anwendung von OP-Techniken nicht bekannt

keine Angabe

[6]

Keine Angabe

keine Angabe

[13], [14]

#

Literatur

  • 1 Breyer F, Schultheiss C. On the Ethics of Primary Rationing.  Associations - Journal for Legal and Social Theory. 2001;  5/2 195-211
  • 2 Callahan D. Aging and the Allocation of Resources.  In: Oberender P (Hrsg.), Alter und Gesundheit.  Baden-Baden, Nomos. 1996;  83-92
  • 3 Krämer W. Hippocrates und Sisyphus - die moderne Medizin als Opfer ihres eigenen Erfolges.  In: Kirch W, Kliemt H (Hrsg.), Rationierung im Gesundheitswesen.  Regensburg, S. Roderer. 1996;  7-20
  • 4 Krimmel L. Stiller Abschied vom „medizinisch Notwendigen”.  Dt Ärztebl. 2000;  97 1052-1053
  • 5 Kuhlmann E. Zwischen zwei Mahlsteinen. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur Verteilung knapper medizinischer Ressourcen in ausgewählten Settings.  In: Feuerstein G, Kuhlmann E (Hrsg.), Rationierung im Gesundheitswesen.  Wiesbaden, Ullstein Medical. 1998;  71-80
  • 6 Pföhler W. Gesundheitspolitik am Scheideweg. Wie teuer darf unser Gesundheitssystem werden?.  Das Krankenhaus. 1998;  1 1-7
  • 7 Ubel PA, Goold SD. „Rationing” Health Care. Not All Definitions Are Created Equal.  Arch Intern Med. 1998;  158 109-214
  • 8 Schmidt VH. Veralltäglichung der Triage.  Zeitschrift für Soziologie. 1996;  25 419-437
  • 9 Schmidt VH. Rationierung in der Medizin. Schwierige Fragen, ungewisse Antworten.  Thorac Cardiovasc Surg. 1998;  36 414-318
  • 10 Tsuchiya A. QALYs and Ageism: Philosophical Theories and Age Weighting.  Health Economics. 2000;  9 57-68
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Dr. Carlo Schultheiss

Universität Konstanz

78457 Konstanz

Email: carlo.schultheiss@uni-konstanz.de

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