Dtsch Med Wochenschr 2003; 128(45): 2368-2371
DOI: 10.1055/s-2003-43432
CME
Intensivmedizin
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Septischer Schock und systemisches Entzündungsreaktions-Syndrom - Diagnostik

Septic shock and systemic inflammatory response syndrome - diagnosticsU. Müller-Werdan1
  • 1Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin III, Halle-Wittenberg
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Priv.-Doz. Dr. med. Ursula Müller-Werdan

Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin III, Universität Halle-Wittenberg

Ernst-Grube-Straße 40

06097 Halle

Phone: 0345/5572816, -2601

Fax: 0345/5572072

Email: ursula.mueller-werdan@medizin.uni-halle.de

Publication History

eingereicht: 31.7.2003

akzeptiert: 24.9.2003

Publication Date:
06 November 2003 (online)

Table of Contents #

Aktuelle Sepsis- und SIRS-Definitionen

Das facettenreiche klinische Bild der Sepsis kann die Diagnosestellung schwieriger als erwartet machen. Noch mehr ist dies der Fall, wenn man den Schweregrad abschätzen und den Erfolg der durchgeführten Therapie beurteilen will. Dies trifft in noch stärkerem Maße für das systemische Entzündungsreaktions-Syndrom (SIRS) nicht-infektiöser Genese zu.

Aus diesem Grunde war es zu begrüßen, dass die intensivmedizinischen Gesellschaften die in Tab. [1] aufgeführten Sepsis- und SIRS-Definitionen präzisiert haben [9]. Für den Praktiker sind diese Definitionen qualitativer Art aufgrund der geringen Spezifität allerdings nur eine bedingte Hilfe [18], und zur Schweregradeinschätzung und Verlaufsbeurteilung sind sie überhaupt nicht geeignet. Im Verständnis der deutschen Medizin kommt diese Sepsisdefinition darüber hinaus einer Inflation des Sepsisbegriffes gleich. Für unser Verständnis ist Sepsis nach wie vor eine schwere, lebensbedrohliche Erkrankung. Diesen Charakter verliert die Sepsis jedoch, wenn man der Definition der Konsensus-Konferenz folgt. Viel eher würden wir die Diagnose einer Sepsis stellen können, wenn die Situation der „severe sepsis” in der Definition der Konsensus-Konferenz vorliegt. Der schwere Verlauf wird durch Manifestation von Hypotension/Minderperfusion und/oder Dysfunktion vitaler Organsysteme definiert. Hypotension/Hypoperfusion kann bis zum Bild des manifesten septischen Schocks fortschreiten, aus der initialen Dysfunktion vitaler Organsysteme kann sich ein manifestes Organversagen entwickeln. So können infektiöses und nicht-infektiöses SIRS in Schock oder Multiorgan-Dysfunktionssyndrom münden (siehe unten).

Tab. 1 Terminologie und Definitionen.

Infektion: Entzündliche Gewebereaktion auf Mikroorganismen oder Invasion von Mikroorganismen in normalerweise steriles Gewebe.

Bakteriämie: Vorhandensein vitaler Bakterien im Blut; die Anwesenheit von Viren, Pilzen, Parasiten oder anderen Pathogenen in der Blutbahn sollte entsprechend benannt werden.

SIRS („systemic inflammatory response syndrome”, „systemisches Entzündungsreaktions-Syndrom”): Systemisch-entzündliche Reaktion auf verschiedene schwere klinische Insulte, charakterisiert durch zwei oder mehr der folgenden Symptome:

  1. Körpertemperatur > 38,0°C oder < 36,0°C,

  2. Herzfrequenz > 90/min

  3. Atemfrequenz > 20/min oder paCO2 < 32 mmHg

  4. Leukozyten > 12000/mm3 oder < 4000/mm3, oder > 10% unreife (stabförmige) Formen

CARS („compensatory anti-inflammatory response syndrome”): Kompensatorisches anti-inflammatorisches Reaktions-Syndrom, das sich - im Anschluss an die proinflammatorische Phase - als Anergie, als erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Infektionen oder als beides manifestiert.

MARS („mixed antagonistic response syndrome”): Antagonistisches Reaktionssyndrom, das sich aus mehreren SIRS- und CARS-Phasen zusammensetzt.

Sepsis: Systemische Reaktion auf eine Infektion, charakterisiert durch zwei oder mehr der folgenden, durch die Infektion hervorgerufenen Symptome:

  1. Körpertemperatur > 38,0°C oder < 36,0°C,

  2. Herzfrequenz > 90/min

  3. Atemfrequenz > 20/min oder paCO2 < 32 mmHg,

  4. Leukozyten > 12000/mm3 oder < 4000/mm3, oder > 10% unreife (stabförmige) Formen

Schwere Sepsis: Sepsis, assoziiert mit Organdysfunktion, Minderperfusion oder Hypotonie. Minderdurchblutung und Durchblutungsstörungen können beinhalten, sind aber nicht beschränkt auf: Laktatazidose, Azidose, Oligurie oder eine akute Änderung der Bewusstseinslage.

MODS: („multiple organ dysfunction syndrome”): Dermaßen geänderte Organfunktion bei Akutkranken, dass die Homöostase ohne Intervention nicht mehr aufrechterhalten werden kann.

Sepsis-induzierte Hypotonie: Systolischer Blutdruck < 90 mmHg oder Reduktion um ≥ 40 mmHg des Ausgangswerts bei Fehlen anderer Hypotonieursachen.

Septischer Schock: Sepsisinduzierter Schock mit Hypotonie trotz adäquater Volumensubstitution, einhergehend mit Hypoperfusionszeichen oder Organdysfunktionszeichen; letztere können beinhalten, sind aber nicht beschränkt auf: Laktatazidose, Azidose, Oligurie oder eine akute Änderung der Bewusstseinslage. Patienten, die infolge einer Therapie mit inotropen oder vasokonstriktiven Substanzen nicht mehr hypotensiv sind, aber dennoch Zeichen der Hypotension oder Organdysfunktion aufweisen, werden trotzdem dem Stadium septischer Schock zugeordnet.

Refraktärer septischer Schock: Septischer Schock ohne rasches Ansprechen auf Volumengabe (z.B. 500 ml NaCl in 30 min) und Vasopressoren (z.B. Dopamin > 10 µg/kg KG/min).

Akute septische Kardiomyopathie: Myokardschädigung im Rahmen einer Sepsis mit der Folge einer im Verhältnis zum systemischen Gefäßwiderstand verminderten Pumpfunktion des Herzens.

Zusammenstellung nach (9, 2,19)

#

Sepsis-Stadien nach Bone (3)

Nachdem die proinflammatorische Phase des septischen Geschehens (SIRS) in den letzten Jahren ganz im Vordergrund des Interesses der Sepsisforschung stand, wird in letzter Zeit dem antiinflammatorischen CARS und dem mehrere pro- und antiinflammatorische Episoden umfassenden MARS mehr Beachtung geschenkt (Tab. [1]). Durch eine antiinflammatorische Gegenreaktion können das Krankheitsgeschehen und die Prognose des Patienten durch eine monozytäre Immunparalyse geprägt sein. Aus der diagnostischen Trennung von SIRS und MARS könnten sich zukünftig differentialtherapeutische Ansätze ergeben.

#

Quantifizierung des Schweregrades der Sepsis

#

Scoresysteme

Obwohl derzeit routinemäßig noch wenig eingesetzt, können Scoresysteme bei Diagnosestellung, Schweregradklassifizierung und Verlaufsbeurteilung von Sepsis und septisch bedingtem Multiorgan-Dysfunktionssyndrom hilfreich sein [14]. Die Scorehöhe korreliert dabei mit dem Schweregrad der Sepsis bzw. dem Sepsis-bedingten Multiorgan-Dysfunktionssyndrom und damit mit der Prognose der Patienten: je höher der Scorewert, umso höher die Letalität. Jedoch kann kein Score 100% prognostische Treffsicherheit im Individualfall erreichen. Die Hauptlimitation des auf die Prognoseabschätzung abzielenden Einsatzes von Scores ist die Tatsache, dass eine Aussage zum Letalitätsrisiko nur für Patientengruppen und nicht für den individuellen Patienten anwendbar ist [14]. Die von einem Score erbrachte Risikoeinschätzung entspricht einer statistischen Wahrscheinlichkeit mit der Sensitivität und Spezifität der ROC-Kurve der Gruppe und keiner individuellen Prognose. Scores werten verschiedene leicht fassbare Parameter. Je „pathologischer” die Ausprägung eines Befundes ist, desto mehr Punkte werden unter der Hypothese vergeben, dass eine stärkere Abweichung von der Norm mit einem höheren Schweregrad und somit schlechteren Prognose einhergeht [14]: Von den zahlreichen publizierten Scores (Übersicht in [22]) bieten sich aus Praktikabilitätsgründen vor allem der Sepsis-Score nach Elebute und Stoner (Tab. [2]) sowie die „Schweregrad der Erkrankung“-Scores APACHE II (Tab. [3]) und SAPS II an. Diese Scores bedienen sich einfacher Parameter, die täglich auf der Intensivstation erhoben werden.

Zusätzlich zu den bereits bestehenden Organversagen-Scores wurde von der Europäischen Intensivmedizinischen Gesellschaft der SOFA-Score („sepsis-related organ failure assessment score”) entwickelt [17]. Er erfasst die wichtigsten Organdysfunktionen mit jeweils einem einzelnen Parameter und teilt den Schweregrad der Organdysfunktion entsprechend der Abweichung dieses Parameters von der Norm ein. Im Falle der Herz-Kreislauf-Dysfunktion wird die Bewertung anhand der zur Blutdruckstabilisierung notwendigen Katecholamintherapie vorgenommen. Dieser einfach zu handhabende Score soll zur standardisierten Schweregradbeschreibung des sepsisbedingten MODS in quantifizierbarer Form beitragen.

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Systemischer Gefäßwiderstand

Der stark erniedrigte systemische Gefäßwiderstand ist ein sehr wesentliches Kriterium hoher Spezifität und Sensitivität der Sepsis-verursachten Gefäßschädigung. Werte von 500-200 dyn×sek×cm-5 sind - von wenigen Ausnahmen abgesehen (z.B. Leberzirrhose, Therapie mit vasodilatierenden Pharmaka, z.B. Phosphodiesterasehemmer, anaphylaktischer Schock) - ein untrügliches Zeichen für das Vorliegen von Sepsis und septischem Schock. Eine dermaßen ausgeprägte Vasodilatation ist auch durch Katecholamingabe kaum mehr im Sinne einer Erhöhung des systemischen Gefäßwiderstandes zu beeinflussen.

Tab. 2 Prinzip der Berechnung des Sepsisscores nach Elebute und Stoner [14].

Anomal niedrig

Normbereich bzw. unauffällig

Anomal hoch bzw. pathologischer Befund

Punkte:

Punkte:

Punkte

3

2

1

0

2

3

4

5

6

Infektzeichen

Wundinfekt

±

Peritonitis

±

Pneumonie

±

Tiefer Abszess

±

Harnwegsinfekt

±

Pyrexie

< 36,0

Temperatur (°C)

>39,0

±

Zusatzpunkte*

Organversagen und Laborwerte

Beatmung

±

metabolische Azidose

±

Neurologie

±

DIC

±

Kreatinin

>3,5

Bilirubin

>3,5

Blutkultur

±

<2,5

Leukozyten

>30

<100

Thrombozyten

<7

Hämoglobin

<25

Albumin

* Zusatzpunkte ± 1 für Laborwerte etc.

Hypothese: Je höher der Punktwert, desto schwerer die Erkrankung

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Serum-Procalcitonin als quantitativer Parameter für die Diagnose „Infektion”

Von den zahlreichen getesteten Laborparametern scheint das Serum-Procalcitonin (PCT) derzeit als Sepsismarker am Erfolg versprechendsten (15). Bei Patienten mit PCT-Spiegeln ≤ 0,5 ng/ml ist die Diagnose einer Sepsis unwahrscheinlich; auch wenn es keinen definierten „Cut-off”-Punkt gibt, so sind bei Intensivpatienten Werte über 1,0-1,5 ng/ml verdächtig für eine Sepsis; jedoch können die PCT-Werte auch nach schweren Traumata oder größeren Operationen ansteigen [15].

In einer Studie mit 337 SIRS-Patienten [1] wiesen Patienten mit mikrobiell gesicherter Sepsis Procalcitonin-Spitzenwerte von 30 ng/ml auf, während sich bei den SIRS-Patienten ohne Sepsis Procalcitonin-Werte von 0,1 ng/ml oder darunter fanden.

Aufbauend auf diesen Ergebnissen sind folgende Schlussfolgerungen gezogen worden:

  • Procalcitonin-Werte von 0,1-0,5 ng/ml: schwere mikrobielle Infektion ist unwahrscheinlich (Sensitivität 91%, Spezifität 25%; positiv prädiktiver Wert 39%, negativer prädiktiver Wert 86%);

  • Procalcitonin-Werte > 0,5 ng/ml: Infektion sehr wahrscheinlich (Sensitivität 60%, Spezifität 79%; positiv prädiktiver Wert 61%, negativ prädiktiver Wert 78%).

De Werra et al. [4] unterzogen verschiedene Laborparameter - Procalcitonin, TNF-α, lösliche TNF-Rezeptoren, IL-6, Nitrit/Nitrat, lösliche TNF-Rezeptoren - einem Vergleich bei Patienten mit septischem Schock, kardiogenem Schock oder Pneumonie. Als Ergebnis ihrer Studie hielten die Autoren fest, dass erhöhte Werte für Nitrit/Nitrat und Procalcitonin am besten geeignet waren, Patienten mit septischem Schock zu definieren.

Harbarth et al. fanden bei einem „Cut-off” für Procalcitonin von 1,1 ng/ml eine Sensitivität von 97% bei einer Spezifität von 78% zur Diskriminierung zwischen SIRS und Sepsis bei Intensivpatienten [8]. Der Median des Procalcitonin-Werts bei Aufnahme betrug in dieser Studie 0,6 ng/ml bei SIRS, 3,5 ng/ml bei Sepsis, 6,2 ng/ml bei schwerer Sepsis und 21,3 ng/ml beim septischen Schock. Eine weitere Studie fand jedoch einen mittleren Procalcitonin-Wert von 5,45 ng/ml bei SIRS-Patienten am Aufnahmetag[6], so dass eine Diskriminierung zur Sepsis mit Procalcitonin allein bei diesem Patientenkollektiv nicht möglich war.

Tab. 3 Prinzip der Berechnung des APACHE-II-Scores [19]

[*].

Anomal niedrig

Normbereich

Anomal hoch

bis 4 Punkte*

0 Punkte

bis 4 Punkte*

< 29,9°C

Körpertemperatur

≥41,0°C

≤49 mmHg

Mittlerer Blutdruck

≥160mmHg

≤39/min

Herzfrequenz

≥180/min

≤5/min

Atemfrequenz

≥50/min

<55 mmHg

PaO2

≥500 mmHg

A-aDO2

<7,15

PH arteriell

7,70

≤110 mmol/l

Serum-Natrium

≥ 180 mmol/l

<2,5 mmol/l

Serum-Kalium

≥7,0 mmol/l

<0,6 mg/100ml

Serum-Kreatinin

3,5 mg/100ml

2 Punkte

<20%

Hämatokrit

≥60%

<1,0 G/l

Leukozyten

≥40 G/l

Glasgow Coma Scale

A-aDO2: alveolo-arterielle Sauerstoffdruckdifferenz

Hypothese: Je höher der Punktwert, desto schwerer die Erkrankung. * Punktvergabe bis 4 Punkte je nach Abweichung von der Norm

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Zytokin-Serumspiegel als prognostische Parameter (5)

Im Serum septischer Patienten können IL-1 und IL-1-Rezeptor-Antagonist, IL-6, TNF-α und die löslichen TNF-Rezeptoren, IL-8 und IL-10 verlässlich bestimmt werden. Im Vergleich mit anderen Zytokinen ergibt sich für die IL-6-Serumspiegel die höchste prognostische Aussagekraft zur Beurteilung der Sepsis sowie eine Korrelation mit dem Schweregrad der Organdysfunktion. Ein IL-6-Spiegel von größer als 1000 ng/ml wurde als Einschlusskriterium für die MONARCS-Studie zur Behandlung von Sepsispatienten mit einem monoklonalen anti-TNF-α-Antikörper verwendet [11], um eine Stratifizierung der Sepsispatienten vorzunehmen.

Die klinische Wertigkeit von TNF α-Serumspiegel septischer Patienten ist eingeschränkt aufgrund der starken Streubreite der gemessenen Werte, die vermutlich durch die relativ kurze biologische Halbwertszeit des TNF-α zustande kommt. Dagegen sind die Blutspiegel der löslichen TNF-Rezeptoren (p55 und p75) aufgrund ihrer längeren biologischen Halbwertszeit besser geeignet zur Beurteilung des Letalitätsrisikos, wie bei Patienten nach herzchirurgischen Operationen gezeigt werden konnte [12], [13]. Zytokinspiegelmessungen gehören derzeit noch nicht zur klinischen Routine.

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Bestimmung der Immunkompetenz

Aktuelle Bestrebungen gehen dahin, die Immunkompetenz des Patienten in der Sepsis diagnostisch zu erfassen, um proinflammatorische Phasen gegen antiinflammatorische Gegenreaktionen in der Sepsis abzugrenzen. Sowohl die Bestimmung der monozytären HLA-DR-Expression als auch die Ex-vivo-TNF α-Produktion nach LPS-Stimulation sind hierfür geeignete Parameter [16].


kurzgefasst: Zur Abschätzung des Schweregrades einer Sepsis können Score-Systeme und systemischer Gefäßwiderstand herangezogen werden. Scoresysteme bedienen sich einfacher Kriterien. Sie können keine individuelle Prognoseabschätzung liefern.

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Multiorgan-Dysfunktionssyndrom und Multiorganversagen

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Definition

Als Multiorganversagen (MOV) bezeichnet man das gleichzeitig oder in rascher zeitlicher Abfolge auftretende Versagen von zwei oder mehr vitalen Organsystemen (2). In der Regel gehen dem manifesten Organversagen Zeichen einer initialen Organinsuffizienz voraus. Die insuffiziente Leistung eines Organs wird als Organdysfunktion, das Zusammentreffen dieser Situation für mehrere Organe als Multiorgan-Dysfunktionssyndrom (MODS) bezeichnet. In der klinischen Anwendung ist eine Unterscheidung entsprechend diesen Definitionen häufig nicht klar zu treffen, da bei einem Patienten durchaus ein oder zwei Organe Zeichen einer Dysfunktion zeigen können, während ein weiteres Organ bereits versagt. Dieser Problematik trägt die zunehmende Verwendung des Begriffes des MODS auch für Patienten, die neben einer Organdysfunktion zusätzlich ein Versagen von ein oder mehreren Organen zeigen, Rechnung.

Klinisch die häufigste Ursache für die Entwicklung eines MODS bei kritisch Kranken ist die bakterielle Sepsis. Die Organfunktionsstörungen, die bereits in der Initialphase der Sepsis auftreten, können mit Progression des Krankheitsverlaufs bis zum multiplen Organversagen fortschreiten. Ein Multiorganversagen ist der klinische Endpunkt des fortschreitenden septischen Prozesses.

Die hauptsächlich betroffenen Organsysteme (Tab. [4]) und damit die Hauptkomponenten von Multiorganinsuffizienz und Multiorganversagen sind:

  • akute respiratorische Insuffizienz und akutes Lungenversagen (ARDS)

  • akute kardiozirkulatorische Insuffizienz und Herz-Kreislauf-Schock

  • akute renale Insuffizienz und akutes Nierenversagen

  • akute Leberinsuffizienz und akutes Leberversagen

  • akute gastrointestinale Läsionen und Stressblutungen

  • akute akalkulöse Cholezystitis und Gallenperforation

  • akute Enterokolitis, akute Pankreatitis

  • akute Blutgerinnungsstörungen und disseminierte intravasale Gerinnung

  • akute Störung des Bewusstseins und metabolisches Koma

  • akute Störungen des autonomen und peripheren Nervensystems sowie der Skelettmuskulatur

Tab. 4 Diagnostische Kriterien des Multiorganversagens

Akutes Lungen- versagen

Hypoxämie (paO2 unter Altersnorm bei Atmung von Raumluft),

pathologischer radiologischer Befund im Thoraxbild,

Respiratortherapie erforderlich

Herzversagen, Kreislaufschock

Arterielle Hypotension trotz Volumensubstitution,

Katecholamine erforderlich

Akutes Nieren- versagen

Anstieg Serumkreatinin > 3 mg/dl,

Kreatinin-Clearance < 15 ml/min × 1,73m2 trotz Normalisierung von Blutdruck und Flüssigkeitshaushalt, Nierenersatzverfahren erforderlich

Akutes Leber- versagen

Anstieg Serumbilirubin > 2 mg/ml,

Erhöhung Transaminasen > 2-Faches der Norm

Gastrointestinale Stressblutung

Endoskopisch Erosionen oder Ulzera, Bluttransfusion erforderlich

Disseminierte intravasale Gerinnung (DIC)

Abfall Thrombozytenzahl (Thrombopenie oder rascher Abfall um 150000/mm3),

Abfall der Fibrinogenkonzentration (Hypofibrinogenämie oder rascher Abfall um 150 mg/dl), pathologische plasmatische Gerinnungstests, mindestens zwei (Quick, PTT, TT, Faktor II, V, X)

#

Diagnose

Im Gegensatz zu Sepsis und SIRS stehen einheitliche diagnostische Kriterien für das Vorliegen eines MODS oder MOV von Seiten der nationalen und internationalen Gesellschaften noch aus. Auch die amerikanische Konsensus-Konferenz hat festgestellt, dass solche vereinheitlichten diagnostischen Kriterien fehlen.

Die Schwere eines MODS wird durch Angabe der Zahl der betroffenen Organsysteme erfasst. Innerhalb einzelner Organsysteme ist die Unterscheidung des Schweregrades der Funktionsstörung anhand von MODS- und MOV-Scores möglich [14], [21]. Der hierfür am häufigsten angewandte Score ist der „Multiple Organ Failure” (MOF) Score nach Goris. Eine Graduierung des Sepsis-induzierten MODS ist anhand des SOFA-Scores möglich (siehe dazu [14]). Bei Patienten mit MOV in Folge einer Sepsis wird ein septischer Schock in etwa 75% der Fälle beobachtet. Dabei ist der septische Schock eher Teil des MOV als ein essentieller Schritt in dessen Pathogenese.

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MODS - nur die Summe einzelner Organdysfunktionen oder Folge einer gestörten Organinteraktion?

Die rein summarische Auflistung der dysfunktionierenden Organe lässt die Organinteraktionen als wesentlichen Aspekt für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Homöostase und andererseits wesentlichen pathogenetischen Aspekt eines MODS außer Acht. So ist bei kritisch Kranken eine eingeschränkte Herzfrequenzvariabilität Ausdruck einer Dysbalance zwischen Sympathikus- und Parasympathikus-Aktivität und geht mit einer 13-fach erhöhten Letalität einher [20]. Der Grad der Einschränkung der Herzfrequenzvariabilität als Ausdruck der autonomen Dysfunktion scheint direkt zum Schweregrad der Erkrankung korreliert. In einer Pilotstudie zeigten Patienten mit einem MODS septischer Genese eine deutliche Einschränkung der Herzfrequenzvariabilität gegenüber nicht-septischen Intensivpatienten ohne MODS [10]. Diese Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung eines über die Einschränkung der isolierten Organfunktion hinausgehenden Verlustes der nerval-humoral vermittelten Organinteraktion für die Ausprägung eines MODS. Ob und inwieweit eine gestörte nerval-humoral vermittelte Organinteraktion - die auch interpretiert wird als eine Entkopplung biologischer Oszillatoren - als eigenständiger Risikofaktor für die Entwicklung eines und Prognose eines MODS gewertet werden muss [7], werden künftige Untersuchungen belegen müssen.


kurzgefasst: Dem Mulitorganversagen geht eine Multiorgan-Dysfunktion (MODS) voraus, die Übergänge können fließend sein. Die Schwere eines MODS richtet sich nach der Anzahl der betroffenen Organsysteme. Der Grad der Einschränkung der Herzfrequenzvariabilität als Ausdruck der autonomen Dysfunktion scheint direkt zum Schweregrad der Erkrankung korreliert.

Autorenerklärung: Die Autorin leitet derzeit ein wissenschaftliches Projekt, das von der Firma Biotest unterstützt wird, und war in der Vergangenheit mehrfach an Industrie-geförderten Forschungsvorhaben beteiligt bzw. leitete solche Projekte.

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Literatur

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Priv.-Doz. Dr. med. Ursula Müller-Werdan

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Literatur

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Priv.-Doz. Dr. med. Ursula Müller-Werdan

Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin III, Universität Halle-Wittenberg

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