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DOI: 10.1055/s-2002-33546
Ethische Implikationen der Evidenz-basierten Medizin
Ethical implications of evidence-based medicinePublication History
Publication Date:
03 September 2002 (online)

Zur Ethik der Evidenz-basierten Medizin (EbM) finden sich international nur wenige Veröffentlichungen. Sie konzentrieren sich in aller Regel auf ethische Probleme der EbM, tatsächliche oder vermeintliche. Übersehen wird dabei zweierlei: 1. kann man die EbM auch als einen Versuch verstehen, bestimmte ethische Probleme der klinischen Medizin zu lösen oder jedenfalls zu mindern. Damit könnte die Vernachlässigung von EbM selbst ein ethisches Problem darstellen. 2. ist und bleibt die EbM vor allem eines: nämlich klinische Medizin. Es wäre erstaunlich, wenn sie als solche den ethischen Spannungen entgehen könnte, in die die Medizin seit Jahrhunderten gestellt ist. Als Beispiel sei die bekannte Fall-Regel-Problematik genannt [1], d. h. die Spannung zwischen systematisch erarbeiteten Indikationsregeln einerseits und der Indikationsstellung im Einzelfall andererseits. Anders gesagt: Der Bereich der für die Evidenz-basierte klinische Medizin spezifischen ethischen Probleme könnte schmaler sein als gedacht, und er könnte Überraschendes beinhalten.
Zur Verdeutlichung sei noch einmal die klassische Definition der EbM von D. Sackett et al. (1996) zitiert [17]: EbM ist danach „der bewusste, ausdrückliche und abwägende Gebrauch der jeweils besten Evidenz für die Entscheidungsfindung in der Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM beinhaltet die Integration der individuellen klinischen Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung” (Übersetzung HR). Im Sinne der Definition kann die Art der Forschung präzisiert werden: Gemeint ist vor allem die evaluative klinische und Versorgungsforschung, die die klinische Medizin systematisch die Folgen ihres Handelns bewerten lässt.
Mit „Evidenz” sind - mehr oder weniger überzeugende - empirische Belege für die Richtigkeit von Aussagen und Behauptungen bezeichnet, Aussagen vom Typ „das Medikament (der Test, das Programm....) A ist wirksam (oder auch: wirksamer als B) in Fällen von X”. „Extern” ist sie, weil sie nicht in und aus der einzelnen klinischen Situation gewonnen werden kann, sondern von außen, heute vor allem aus der medizinischen Literatur, „importiert” werden muss. Ob ein Medikament A nützlich ist oder ob es nützlicher als Medikament B ist, kann nur in Grenzfällen unmittelbar sinnlich erlebt werden (z. B. spezifisches Antibiotikum bei progredienter Bakteriämie). In aller Regel bedarf es erheblichen methodischen Aufwandes im Rahmen kontrollierter klinischer Studien, um die vermutete Wirksamkeit zu belegen.
Klinisches Handeln orientiert sich insbesondere an dem, was sich unter wissenschaftlich kontrollierten Bedingungen, also in der Vergangenheit und außerhalb der aktuellen klinischen Situation bewährt hat. Es orientiert sich an den veröffentlichten Ergebnissen klinisch-evaluativer Forschung.
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Prof. Dr. med. Dr. phil. Heiner Raspe
Institut für Sozialmedizin, Universitätsklinikum
Lübeck
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Lübeck
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