Psychotraumatologie 2002; 3(3): 40
DOI: 10.1055/s-2002-33384
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Von der Logik des Misslingens zur Logik des Erfolgs in der Psychotherapie - Lernen aus Forschungsergebnissen und klinischer Erfahrung

Vortrag beim Wiener Weltkongress für Psychotherapie 2002 anima mundi Gottfried Fischer, Dagmar Scharrelmann, Robert Bering
Weitere Informationen
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Autoren:

Prof. Dr. Gottfried Fischer

Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie

Zülpicherstr. 45

50923 Köln

eMail: gottfried.fischer@uni-koeln.de

Dr. med. Dipl.-Psych. Robert Bering

Oberarzt am Zentrum für Psychotraumatologie

Alexianer-Krankenhaus Krefeld

eMail: robert.bering@uni-koeln.de

Dipl.-Psych. Dagmar Scharrelmann

Am Heiligenhäuschen 1

40545 Düsseldorf

Telefon: Tel: 0211 570999

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
12. September 2002 (online)

 
Inhaltsübersicht #

Übersicht

Es werden Ergebnisse einer Befragung zu Psychotherapien berichtet, die von den behandelten Patientinnen und Patienten als gescheitert oder gar schädigend eingestuft wurden. Die überwiegende Zahl der Untersuchungsteilnehmer weist komplexe psychische Traumatsierung in der Lebensgeschichte auf, insbesondere Erfahrungen mit als ablehnend erlebten primären und sekundären Bezugspersonen. Die Risikovariablen für psychotherapeutischen Misserfolg, wie sie sich in dieser Studie zeigen, werden in den Zusammenhang der internationalen Misserfolgsforschung gestellt. Darüber hinaus wurden mit einer qualitativen Methodik 7 „Skripts” ermittelt, die eine typisierte Dramaturgie scheiternder Therapien wiedergeben und damit einer Logik psychotherapeutischer Fehlschläge zu entsprechen scheinen. Als Gegenmittel wird empfohlen, die dialektische Logik aufgespaltener „Beziehungsschemata” systematisch zu berücksichtigen, die als eine der Folgen komplexer Traumatisierung gelten kann. Es ergibt sich u. a. die Folgerung, in der psychotherapeutischen Ausbildung schulenübergreifend den Umgang mit Übertragung und Gegenübertragung zu trainieren und traditionelle Psychotherapieformen „traumaadaptiert” weiter zu entwickeln.

„Misserfolge (können) von Quellen des Unbehagens zu Quellen unschätzbarer Information werden. Sie können ein Licht auf die Mechanismen unserer Interventionen werfen, es ermöglichen, bestehende Verfahren zu verbessern und neue zu entwickeln” [1].

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Attribuierung psychotherapeutischer Misserfolge

In der Psychotherapieforschung ist noch immer der Vogel Dodo aus Alice im Wunderland nicht verstummt: „Alle haben gewonnen und sollen einen Preis bekommen”. Dies gilt alles in allem für Studien vom Typus des Gruppenvergleichs zwischen verschiedenen Therapieverfahren (vgl. [2]). Innerhalb jedes einzelnen Verfahrens ist eine gewisse Anzahl therapeutischer Fehlschläge zu beobachten (in entsprechenden Studien durchschnittlich etwa 5 %). Dieser Prozentsatz scheint eher geringfügig zu sein. Hochgerechnet auf die Bundesrepublik Deutschland ergibt sich bei etwa 19 000 Psychotherapeuten die Zahl von mindestens 38 000 Misserfolgsfällen pro Jahr, geht man von Zahlen aus dem Jahr 1996 aus. Wir haben es demnach mit einem Phänomen zu tun, das uns Psychotherapeuten zu Forschung und Erweiterung unseres klinischen Repertoires anreizen kann.

Dies ist zunächst einmal eine negative, an Vermeidung von Fehlern orientierte Betrachtungsweise. Wie auch in anderen Bereichen des Lebens erscheint jedoch eine „fehlerfreundliche Einstellung” besser geeignet, Lernprozesse zu fördern (vgl. [3]). Dem stehen bei unserer Profession, wie bei anderen auch, allerdings gewisse professionelle Attributionsneigungen entgegen, die man als Selbstschutzmechanismen verstehen kann. So kommt die attributionstheoretische Studie von König-Fuchs [4] zum Ergebnis: Therapeuten attribuieren den Erfolg einer Psychotherapie in der Regel internal, den Misserfolg jedoch external. In dieser Reihenfolge werden für Misserfolge verantwortlich gemacht:

  1. Störende Umweltfaktoren

  2. die Patienten

Die typische Reaktion der Therapeuten in ihrer Studie fasst König-Fuchs in folgende Formulierung zusammen: „Der Misserfolg findet statt, aber ohne den Therapeuten” (S. 381). So sinnvoll diese selbstwertsteigernde Attributionsstrategie auch ist, so kann sie doch unsere Profession daran hindern, aus unseren Fehlschlägen zu lernen. Gleichsinnig fällt dieser Studie nach die Attribution der Patienten aus. Sie sehen den Erfolg in erster Linie in Person und Methode des Therapeuten begründet, u. zw. direkt proportional zur subjektiv verspürten Besserung.

Eine erste Folgerung liegt nahe: Wir sollten die Misserfolgsforschung in der Psychotherapie mit gleicher Selbstverständlichkeit zum Thema in Ausbildung und Forschung machen wie den Erfolg unserer Behandlungsverfahren. Erst mit der „Enttabuisierung” entsteht jene „fehlerfreundliche Atmosphäre”, die für komplexe Lernprozesse dringend benötigt wird, noch dazu bei einem Thema, das uns in unserer Werthaltung und Selbstschätzung emotional stark berührt.

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Was sind psychotherapeutische Misserfolge?

Bei dieser Frage muss zunächst berücksichtigt werden, dass Erfolg und Misserfolg in der Psychotherapie ein komplexes Phänomen umschreibt, welches - nach dem 3-Parteien-Modell von Strupp & Hadley [5] - folgende Dimensionen umfasst:

  • Persönliche Zufriedenheit des Patienten mit dem Therapieergebnis

  • Einschätzung seiner sozialen Umgebung

  • Beurteilung durch Experten, unter Einschluss von Test- und Messergebnissen sowie Ratings zur Symptombesserung

Diese 3 Kriterien können in kompliziertem Wechselverhältnis stehen. So kann etwa die soziale Umgebung unzufrieden sein, weil der Patient nun weniger „pflegeleicht” erscheint als zuvor. Im Ganzen gesehen, sollten die 3 Faktoren jedoch in einem vertretbaren Gleichgewicht zueinander stehen.

Strupp, Hadley & Gomes-Schwarz [6], deren Beitrag „Psychotherapy for better or worse?” international als Pionierarbeit der psychotherapeutischen Misserfolgsforschung gelten kann, listen eine Reihe von Indikatoren für negative Effekte in der Psychotherapie auf:

Verschärfung der bestehenden Symptome. Als Beispiele führen sie an: depressiver Zusammenbruch, schwere Regression, Verschlimmerung der somatischen Beschwerden, zunehmende Verwirrung, herabgesetzes Selbstvertrauen.

Auftreten neuer Symptome. Zusammenbruch von soliden interpersonellen Beziehungen, verminderte Fähigkeit zur Erlebnisfreude, ernste psychosomatische Reaktionen, Drogen- und Alkoholmissbrauch, suizidales Verhalten.

„Missbrauch” der Therapie durch den Patienten. Damit ist z. B. gemeint: anhaltende Abhängigkeit von der Therapie und/oder vom Therapeuten, Therapie als Ersatz für reale Handlungen bzw. Therapie als Möglichkeit, Gefühle der Omnipotenz auszuleben.

Überforderung der Klientin/Patientin. Verfrühtes Lösen wollen von Lebensfragen wie Heirat, Scheidung etc.., das bei Scheitern zu starken Belastungen führen kann mit Gefühlen von Schuld und Selbstverachtung.

Enttäuschungen über die Therapie und/oder die Therapeutin. Hiermit ist vor allem der Vertrauensverlust in die Therapeutin gemeint, der sich möglicherweise auf jegliche soziale Beziehung ausweiten kann sowie ein genereller Verlust von Hoffnung.

Entsprechend dem „3-Parteien-Modell” von Erfolg oder Misserfolg in der Psychotherapie müssen mögliche Verschlechterungen innerhalb jeder der 3 Dimensionen berücksichtigt werden, wobei der symptomatischen Besserung bzw. Verschlechterung eine Leitfunktion zukommt, die im Expertenurteil auch besonders berücksichtigt wird. Ohne in den alten Streit um „symptomatische” vs. „strukturelle” Veränderung zurückzufallen, sollten neben quantitativen Veränderungsmaßen einige qualitative Kriterien Berücksichtigung finden, die sich aus dem dialektischen Spannungsverhältnis der beteiligten „3 Parteien” ergeben:

Wieweit ist es gelungen, eine Lösung zu finden, mit der die Patientin zufrieden ist, die sie aber zugleich auch in die Lage versetzt, mit ihrer sozialen Umgebung besser zurecht zu kommen bzw. sich eine befriedigende soziale Umwelt zu gestalten? Dieses „Ausbalancieren” der Kriterien bedarf einer kritischen Diskussion im Einzelfall, da ja nicht generell ein harmonisches Verhältnis zwischen Individuum und sozialem Umfeld unterstellt werden kann.

Ein intrapersonales Kriterium der „Integrität” des therapeutischen Veränderungsprozesses (vgl. [7],[8]). Auch hier lässt sich bei kritischer Diskussion im Einzelfall ein schulenübergreifender Konsens erzielen, soweit nämlich gelingende Psychotherapie auch als persönliche Weiterentwicklung des Patienten verstanden wird. Wieweit ist es dem Patienten gelungen, seine persönlichen Konflikte und Widersprüche „aufzuheben”? Erfahrungen seiner Lebensgeschichte zu integrieren? Seine Symptome und Probleme nicht nur zu „bekämpfen”, sondern eine persönliche Lösung zu finden, die bisher dysfunktionale Anteile von Erleben und Verhalten integriert und vorhandene Ressourcen besser nutzt?

Von therapeutischem Misserfolg oder „negative outcome” können wir sprechen, wenn nach der Therapie eine bedeutsame und zeitlich überdauernde Verschlechterung eingetreten ist, insbesondere in Problembereichen, die zur Aufnahme einer Psychotherapie geführt hatten.

Von diesem Kriterium und den zuvor aufgeführten Hinweisen auf Verschlechterung ausgehend, dürften wir in der Lage sein, aus therapeutischen Fehlern zu lernen, sollten allerdings auch die „fehlerfreundliche” Einschränkung berücksichtigen, die Schwarz [9] formuliert hat: „Aus Fehlern wird man klug, aber nicht klug genug, um weitere Fehler zu vermeiden”.

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Gibt es eine „Dramaturgie” des therapeutischen Misserfolgs? - Prädiktoren und typische Verlaufsmuster

Welche Faktoren sind wirksam, wenn es zu einem therapeutischen Misserfolg kommt? Sind es lediglich Einzelphänomene oder entwickelt sich der Misserfolg nach einem Muster? Laufen misslungene Therapien nach einem einzigen Muster ab oder bilden sich unterschiedliche Handlungsgestalten? Gibt es, mit anderen Worten, über einzelne Prädiktoren hinaus, so etwas wie eine Dramaturgie des therapeutischen Misserfolgs?

Diesen Fragen ging im Jahre 1996, nach Sichtung der bis dahin vorliegenden Forschungsliteratur, Dagmar Scharrelmann am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Kölner Universität in einer bundesweiten Befragung nach, die durch Interviews ergänzt wurde. Die damalige Diplomandin entwickelte zu diesem Zweck einen Fragebogen, den Kölner Fragebogen zum Misserfolg in der Psychotherapie (KIMIP), der in einem Vorlauf getestet und dem Untersuchungsziel angepasst wurde. Auf Annoncen in größeren deutschen Tagezeitungen meldeten sich insgesamt 60 „Psychotherapie-Enttäuschte”, die eine Einzeltherapie gemacht hatten und „verunsichert, unzufrieden oder verärgert” (so die Annonce) waren. Sie erhielten den Fragebogen zugesandt. 47 der 60 freiwilligen Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer sandten ihn bearbeitet zurück. Viele erklärten sich zu einem anschließenden Interview bereit.
Ungewöhnlich an dieser „Gelegenheitsstichprobe” war das relativ hohe Bildungsniveau der Befragten, ein Merkmal, das mit anderen Untersuchungen kontrastiert, die ein eher geringes Ausbildungsniveau als Risikofaktor für therapeutische Fehlschläge ausweisen. 88 % der Respondenten hatten mittlere Reife oder Abitur. Dieser Selektionseffekt ist möglicherweise durch erhöhte Auskunftsbereitschaft und kritischeres „Verbraucherbewusstsein” von Personen mit höherem Ausbildungsstand zu erklären. 66 % waren Frauen, 34 % Männer. 80 % hatten bereits eine psychotherapeutische Erfahrung hinter sich, die 75 % von ihnen als eher ungünstig beurteilten. Die Alterspanne lag zwischen 22 und 68 mit einem Mittelwert bei 39 Jahren.

Wir geben im folgenden zunächst die variablenorientierten Ergebnisse wieder mit Bezug zum internationalen Forschungsstand und anschließend die Ergebnisse der qualitativen Auswertung mit der Fragestellung einer möglichen „Dramaturgie” und Logik therapeutischen Misslingens.

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Therapeutenvariable

Alterskombination. Eine den internationalen Forschungsbefunden zufolge ungünstige Alterskombination zeigt sich bei 74 % der Stichprobe. Bei 59 % der Behandlungen waren die Therapeuten mindestens 10 Jahre älter, bei 15 % entsprechend jünger. Insbesondere die Kombination älterer Klient/jüngerer Therapeut schien zu einem Generationenkonflikt zu führen, der sich vor allem in unterschiedlichen Werthaltungen äußerte.

Geschlechterkombination. 44 % der Behandlungen fanden in der nach Forschungsbefunden als eher ungünstig beurteilten Geschlechterkombination Therapeut/Klientin statt. 39 % der Klienten zeigten sich auch tatsächlich unzufrieden mit dem Geschlecht des Therapeuten, wobei sich Probleme nicht in der Paarbildung Therapeut/Klientin zeigten, sondern tendenziell eher in der Konstellation Therapeutin/Klient, weniger dagegen als zu erwarten in der Kombination Therapeut/Klient.

Eigenschaften der Therapeuten aus Patientensicht. Sie werden in dieser Stichprobe eher abträglich beurteilt: Fehlen von Echtheit, exzessive unbewusste Feindseligkeit, Narzissmus, Kälte und Mangel an Selbstprüfung werden beklagt. Auf diesen Teilaspekt der Befragung wird weiter unten näher eingegangen.

Nähe-Distanz-Problematik. 29 % der Klienten beschreiben ihren Therapeuten als zu distanziert/kalt, 17 % als zu nah und 27 % als ambivalent zwischen den Polen von Nähe und Distanz. 17 % geben Intimbeziehungen mit ihren Therapeuten an (übereinstimmender Hochrisikofaktor für therapeutischen Misserfolg in internationalen Studien). Bei 7 % kam es zu häufigem Geschlechtsverkehr zwischen Therapeut und Klientin während und außerhalb der Therapiesitzungen, bei 2,4 % wurde die Therapie vom Therapeuten abgebrochen, um ein sexuelles Verhältnis mit der Klientin zu beginnen. Bei 7 % wurde nach Aussage der Patienten von einem Therapeuten und 2 Therapeutinnen ein stark erotisiertes Klima hergestellt (übereinstimmender Risikofaktor).

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Klientenvariable

Ausbildungsstand im Vergleich mit anderen Studien ungewöhnlich hoch: 87 % mittlere Reife oder Abitur.

Eingangssymptomatik: 78 % überwiegend depressiv (in Übereinstimmung mit den meisten Misserfolgsstudien); 68 % Ängste, 62 % Minderwertigkeitsgefühle; 55 % körperliche Beschwerden (übereinstimmender Risikofaktor für Misserfolg)

Traumatisierende Erfahrungen in der Lebensgeschichte. 40 % wurden als schwer traumatisiert eingestuft, weitere 44 % als mittelschwer. Die häufigsten traumatisierenden Erfahrungen in Kindheit und Jugend waren Ablehnung durch enge Bezugspersonen (53 %), Ablehnung durch die soziale Umwelt (31 %, beides übereinstimmende Risikofaktoren), 14 % gaben sexuellen Missbrauch durch enge Bezugspersonen an.

In dieser Häufung traumatischer Erfahrungen scheint sich ein erstes Ergebnis der Studie anzudeuten: traumatisierende Beziehungserfahrungen, insbesondere wenn sie bei Kindern den Eindruck hinterlassen, abgelehnt oder ausgegrenzt zu werden, scheinen uns als Psychotherapeuten mit einer besonderen Herausforderung zu konfrontieren. Die in jüngster Zeit zu beobachtende Weiterentwicklung insbesondere der tiefenpsychologisch fundierten und analytischen Psychotherapie zu einer expliziten „Traumatherapie” könnte eine adäquate Antwort auf diese Herausforderung sein.

Therapiemotivation. Lediglich 7 % bezeichnen sich als ablehnend und 26 % als skeptisch gegenüber einer Psychotherapie, 54 % als aufgeschlossen. Zusammenfassend: 34 % waren eher negativ, 66 % positiv eingestellt. 78 % haben (auch) auf eigenen Wunsch mit der Therapie begonnen (im Studienvergleich eher ungewöhnlich), 22 % primär auf Druck von außen.

Kausalattribution: Nur 10 % machen andere „ziemlich stark” für ihre Probleme verantwortlich, 63 % nicht oder „nur wenig”.
Dies steht in auffallendem Gegensatz zur Häufung traumatischer Erfahrungen vom Typ „Beziehungstrauma” in der Lebensgeschichte.

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Methodenvariable

Behandlungsmethode. 34 % konnten keine nähere Angabe zur Behandlungsmethode machen; es finden sich unter ihnen jedoch Hinweise auf Verhaltenstherapie. 20 % gaben an, nach Freud behandelt zu sein, 22 nach Adler, 4,9 % „tiefenpsychologisch fundiert”, 7 % verhaltenstherapeutisch, 5 % gesprächspsychotherapeutisch, 5 mit einer Kombination aus VT/Gt.
Auch wegen der häufig fehlenden Angaben ist schwer zu beurteilen, wieweit eine Abweichung von der im Rahmen der Richtlinienverfahren zu erwartenden Verteilung der Therapierichtungen vorliegt.

Die Wahl der Therapeuten verlief bei vielen „eher zufällig”: 73 % begannen die Behandlung beim erstkontaktierten Psychotherapeuten, der ihnen in der Regel empfohlen worden war (übereinstimmender Risikofaktor). 65 % konnten sofort oder nach einer kurzen Wartezeit mit der Therapie beginnen; lediglich 13 % mussten länger als 3 Monate warten.

Therapiedauer und Finanzierung. 54 % der Therapien umfassten 6 bis 80, 15 % 81 bis 150, 27 % 151 bis 900 Sitzungen. Die gesetzlichen Krankenkassen bezahlten für 29 Patienten durchschnittlich 84 Stunden; die privaten für 6 Patienten durchschnittlich 65 Stunden. Die 11 Selbstzahler brachten die Kosten für durchschnittlich 288 Stunden auf.

Therapieabschluss. 18 % der Therapien wurden regulär abgeschlossen, 82 % abgebrochen, davon 68 % von den Patienten, 16 % von den Therapeuten und weitere 16 % von beiden Seiten, jedoch nicht einvernehmlich, sondern meist unter starker Affektentwicklung. 5 % der Behandlungen wurden während der probatorischen Phase beendet.

Beklagte Mängel der Therapie. 27 % der Patienten beklagten weniger persönliche Defizite des Therapeuten, sondern mangelnde therapeutische Kompetenz, wie Fehler bei Festlegung der Therapieziele, falscher Fokus der Therapie, technische Rigidität als unflexibles Festhalten an ihren Schulvorstellungen (17 %), ohne ausreichend auf die Bedürfnisse des jeweiligen Patienten einzugehen (übereinstimmender Risikofaktor). 10 % der Therapeuten waren Berufsanfänger (übereinstimmender Risikofaktor).

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Umweltvariable

Bedeutsame Veränderung der Lebensumstände: finden sich bei 60 % der Patienten. 45 % waren langfristig ohne Arbeit, davon 20 % arbeitslos und 25 % arbeitsunfähig, häufig kam Trennung oder Scheidung vom Lebenspartner vor.

Soziale Bindungen. 56 % gaben eine Verschlechterung ihrer sozialen Beziehungen an, 70 % eine Verschlechterung des Familienlebens, die sie mehrheitlich auf die Therapie zurückführten.

Trotz der negativen Erfahrungen in der hier beschriebenen Therapie hat ein Drittel der Patienten anschließend eine zweite Therapie begonnen, die zum Befragungszeitpunkt entweder schon erfolgreich abgeschlossen war oder als erfolgversprechend beurteilt wurde. Aus den Angaben geht weiter hervor, dass viele Patienten Selbstheilungskräfte nach der aus ihrer Sicht gescheiterten Psychotherapie entwickelten. Aus entsprechenden Studien wissen wir, dass keineswegs jeder Therapieabbruch als ein therapeutischer Fehlschlag zu werten ist. Methodisch ist wichtig, in Erinnerung zu halten, dass sich die hier referierte Untersuchung auf Angaben des Patienten zum subjektiv erlebten Erfolg bzw. Misserfolg seiner psychotherapeutischen Behandlung beschränkt, in Verbindung allerdings mit detaillierten Angaben zur symptomatischen Verbesserung/Verschlechterung des Befindens.
Es wurde schon erwähnt, dass sich negative Verläufe dieser extremen Art im Bereich weniger Prozente der Gesamtpopulation bewegen. Da sich in ihnen jedoch Probleme zeigen können, die in milderer Form in vielen Behandlungen auftreten, könnte eine genauere, qualitative Untersuchung sich als wichtige Informationsquelle erweisen.

Im folgenden wollen wir der Frage einer „Logik des Misslingens” (vgl. [10]) therapeutischer Verläufe nachgehen, um unsere therapeutische Wahrnehmung zu erweitern und unser „Frühwarnsystem” zu verfeinern.

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Skriptanalyse

Gegenstand dieses Untersuchungsschrittes sind nicht mehr einzelne Risikofaktoren oder Prädiktorvariablen für therapeutischen Misserfolg, sondern die therapeutische Beziehung in ihrer sich entwickelnden Verlaufsgestalt. Die Skriptanalyse als Verfahren qualitativer Forschung in der Psychotherapie wurde von Becker-Fischer & Fischer vorgeschlagen [11]. Die Untersuchung bewegt sich hier von „Szenen” als elementarer Einheit therapeutischer Interaktion und Beziehungsgestaltung über „Szenarien” im Sinne von bereits typisierten Interaktionsmustern hin zur Ebene eines „Skripts”, das gleichsam den „Quellcode” sich wiederholender Beziehungsmuster verwaltet. Die Skriptanalyse setzt also an der phänomenologischen Ebene therapeutischer Beziehungsgestaltung an und geht dann zur jeweils nächsten Abstraktionsstufe über. Durch diesen „bottom-up”- Approach kann die Struktur problematischer Interaktion, die „Logik des Misslingens” schrittweise herausgearbeitet werden. Ein so ermitteltes „Skript” wird mit einer Bezeichnung versehen, welche die zentrale Interaktionsfigur und das typische Verlaufsmuster zum Ausdruck bringt.

Nach diesem Verfahren konnte Scharrelmann [12] an der geschilderten Untersuchungsstichprobe die folgenden 7 Skripts herausarbeiten:

Tab. 1: 7 Skripts als typisierte Verlaufsmuster misslingender therapeutischer Interaktion. Erklärung im Text. Spalte „Traumatische Belastungen”: A = in der Kindheit/Jugend, B = vor Therapiebeginn
ScriptTraumatische BelastungenEingangssymptomeBeziehungsgefügeFolgen
Golden PhantasyA: Emotionale Mangelerfahrungen (Deprivation)
B: Krisenhafte Beziehungsprobleme
Depression, Minderwertigkeit, Abhängigkeit, Sinn- und Hoffnungslosigkeit, SuchtproblemeKl und Thp: Gemeinsamer Wunsch nach Geborgenheit, symbiot. Pseudoharmonie, allmählicher Rollentausch, sex. MissbrauchErschütterung des Selbst- und Weltverständnisses, akute Krise, erflgreiche Nachfolgetherapie
Der rächende GottA + B: Partnerbeziehungsstörung zw. Vater und Stiefmutter, massive parentale AblehnungMassive soziale Ausgrenzung, LernstörungenKl: Idealisierende Verehrung
Thp: Besitz- und Herrschaftsansprüche, Aufwertung vs. Vernichtung
Andauerndes traumatisches Gebundensein an Thp.
Das Leben als Rachefeldzug
Eingefrorene Verschmelzungs-wünscheA: Individuations- und Autonomieverbot
B: Fehlende Eigenständigkeit; Ausgegrenztwerden
Psychosomatische Beschwerden, Depression, Scham-, Schuld- und WertlosigkeitsgefühleKl: Objekthunger vs. Misstrauen vor erneuter Zurückweisung
Thp: Aggr. Gegenübertragung, Nichtachtung und Degradierung des Kl.
3 Bewältigungsformen:
1. Totaler Zusammenbruch
2. Selbstbehandlung
3. Positive Nachfolgetherapien
Zuwendung und ZerstörungA: Traumatisches Einzelereignis
Gefühl des Abgetrenntseins von der Welt
B: Tiefe Lebenskrise
Depression, Ängste, SuizidalitätKl: Unmündig vs. Selbstbewusst
Thp: Zuwendung bei Unterwerfung, Verurteilung bei „Auflehnung”
Nachhaltiges erleben von existentieller Zerstörung
Vertreibung aus dem gelobten LandA. Traumatisches Einzelereignis gefolgt von Dauertraumatisierung
B: Krisenhafte Beziehungsprobleme
Depression, psychosomatische Beschwerden, SuizidalitätKl: Anklammerungs- und Symbiosetendenzen
Thp: Widersprüchliches Beziehungsschema, double bind
Vernichtung des Selbstwertgefühls und des Vertrauens in andere, zaghaftes Akzeptieren von Selbstheilungskräften
Der hilflose TherapeutA: Emotionale Isolation
B: Fehlende tragfähige Bindungen, Bedrohung des berufl. Entwurfs
Depression, Gefühle der Minderwertigkeit, SuizidalitätKl: Kontrolle ausüben müssen
Thp: Fehlende Kunstfertigkeit, alltägliche Sozialbeziehung
Endgültige Gewissheit, dass man allein ist und sich selber helfen muss
Der uninformierte KlientA: Bedrohung der Individuation durch traumatisches Einzelereignis
B: Existentielle Bedrohung durch traumatische Ereignisse
Depression und die Erlebniswelt, stark einengene Beziehungs- und KontaktproblemeKl: Hilfloses Ausgeliefertsein
Thp: Methodische Rigidität
Tiefe Krise, Bearbeitung durch neue Lebensorientierung bzw. Nachfolgetherapie

Die Spalten enthalten in ihrer Kopfzeile die Benennung der Skripts, typische traumatische Belastungen der Patienten (A = Kindheit, B = Jugendzeit), ihre Eingangsymptome, das resultierende Beziehungsgefüge und typische Folgen für die Patientin.

Diese Analyse des Misslingens bewegt sich jenseits von Kausalattributionen. Hier werden nicht einfach Handlungsfehler des Therapeuten oder gar seine „Kompetenz” oder „Inkompetenz” beurteilt. Der Fokus liegt vielmehr auf dem therapeutischen Beziehungsgefüge, u. zw. unter dem Gesichtspunkt möglichen Scheiterns der Therapie.

Im folgenden werden die einzelnen Skripts kommentiert.

Golden Phantasy. Emotionale Mangelerfahrungen (Schwerpunkt Deprivation) bestimmen Kindheit/Jugend der Patienten, tiefgreifende Beziehungs- und Partnerschaftsprobleme das Erwachsenenleben vor der Therapie. Die Symptome äußern sich in einer akuten Krise (häufig mit Suizidalität), in Depression, Suchtverhalten, Gefühlen der Sinnlosigkeit, Leere und Hoffnungslosigkeit. Die Wahl des Therapeuten ergibt sich wie vorbestimmt und schicksalhaft. Herausragend ist der Wunsch (des Klienten und Therapeuten) nach einem Menschen, der einen vor der Unbill des Lebens beschützt sowie der Wunsch, die erfahrene traumatische Belastung kompensatorisch auszugleichen. Allmählich ergibt sich eine Rollenumkehr: Der Therapeut rückt an den Platz des bedürftigen Klienten. Die Wunschvorstellung nach einem Zustand von absoluter Versorgung und Geborgenheit verlängert sich nicht selten in die Aufnahme missbräuchlicher, eventuell auch sexueller Beziehungen hinein, welche die Rollenumkehr dann vollenden. Bei der Patientin wiederholt sich über kurz oder lang die Krise der Ausgangslage, meist in verschärfter Form. Selbstbehandlungsversuche in Form von Suchtverhalten (Alkohol, Psychopharmaka) scheitern. Erst Folgetherapien konnten in dieser Stichprobe eine Stabilisierung des Befindens bewirken (zur Durchführung von Folgetherapien nach sexuellen Übergriffen in Psychotherapie und Psychiatrie vgl. [11]).

Rächender Gott. Kindheit und Jugend der Patienten sind einer ständigen Belastung durch die Partnerbeziehungsstörung zwischen Eltern oder Ersatzeltern ausgesetzt, gleichzeitig wird eine massive Ablehnung durch die Eltern berichtet, alternativ eine Ausgrenzung durch die weitere soziale Umgebung, z. B. Schule. Der Therapeut möchte diesen bisher „missglückten” Lebenslauf zu einer Idealgestalt formen und verfällt in eine Haltung von Besitz- und Herrschaftsanspruch. So wird der Patient leicht zum Erfüllungsgehilfen der Größenphantasien des Therapeuten. Das Skript enthält psychischen und/oder sexuellen Missbrauch. Kommt es am Umkehrpunkt zur Entidealisierung des Therapeuten, so setzt eine zerstörerische Generalabrechnung ein. Das therapeutische Wissen wird als Waffe genutzt, und die Patientin kann sich nur unter größten Mühen entziehen. Nicht alles war schlecht, und die Aufwertung des Therapeuten war für die Klientin lebenswichtig. Nach dem Bild des gestürzten, rächenden Gottes entwickelt jetzt auch die Patientin Rachephantasien nach dem Motto: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Eingefrorene Verschmelzungswünsche. Das Liebesobjekt der Kindheit war für die Patienten nur mangelhaft verfügbar und geprägt von der ständigen Drohung, fallen gelassen oder nicht angenommen zu werden. Die Entwicklung von Eigenem wurde negativ sanktioniert, Angst und Schuldgefühle entstehen, wenn dieser Weg dennoch beschritten wird. Belastende aktuelle Erfahrungen, die zur Aufnahme der Therapie führen, sind fehlende Eigenständigkeit, Ausgegrenztwerden und Mobbing-Erfahrungen. Bei der Symptomatik ragen psychosomatische Beschwerden heraus, Depressionen, Gefühle von Wertlosigkeit sowie Scham- und Schuldgefühle. Die Entscheidung zur Therapie und die Wahl des Therapeuten kommen durch Initiative anderer zustande. Die misstrauische und abwertende Fassade der Patientin soll vor erneuter Zurückweisung schützen. Werden die dahinter verborgenen Wünsche nach dauerhafter „Verschmelzung” nicht erkannt oder thematisiert, so stellt sich beim Therapeuten leicht eine aggressive und entwertende Haltung ein. Sie kann zu einem lähmenden Stillstand der Beziehung führen, die einem kalten Krieg ähnelt. Die meisten Patienten brechen an dieser Stelle die Therapie ab. Eine Gruppe erleidet einen totalen Zusammenbruch; eine weitere kann die abgebrochene Therapie als Stärkung ihrer Selbständigkeit nutzen und „Eigentherapie” betreiben; eine dritte konnte sich zu einer Folgetherapie entschließen, in der die grundlegenden, primären Bedürfnisse sich entfalten können und bearbeitet werden.

Zuwendung und Zerstörung. Ein traumatisches Ereignis beeinflusst wie eine Weichenstellung den Lebenszyklus. Die weitere Entwicklung ist geprägt von Gefühlen wie „von der Welt abgetrennt zu sein” (Derealisation, Depersonalisation). Eine tiefe Krise im Erwachsenenalter führt zur Aufnahme der Therapie. Sie ist geprägt von einer hohen Symptombelastung mit Ängsten, Depressionen und Suizidalität. Bei der therapeutischen Beziehungssuche wird blind (beim ersten Therapeuten) zugegriffen. Es entwickelt sich ein Beziehungsgefüge, in dem therapeutische Zuwendung als Belohnung für „compliance”, ja Unterwerfung erlebt wird. Ein eigentümliches Oszillieren kommt zustande zwischen zu großer Nähe und zu großer Distanz. Dies führt beim Patienten zu einer massiven Irritation und meist zu Therapieabbruch. Die Patienten fühlen sich existentiell zerstört; eine Krisenintervention wird notwendig.

Vertreibung aus dem gelobten Land. Traumatische Erlebnisse wie „Herausgerissenwerden aus der gewohnten Umgebung” oder Dauertraumatisierung in Kindheit und Jugend bestimmen die Ausgangslage der Patienten. Eine Wiederholungserfahrung, wie Verlusterlebnisse oder andere Ereignisse, die das Geborgensein in der gewohnten Umgebung beeinträchtigen, führen zu krisenhaften Beziehungsproblemen. Schwere Depressionen, psychosomatische Beschwerden und Suizidalität führen zum Entschluss, eine Therapie zu beginnen. Eine eigenständige Therapeutenwahl findet nicht statt: bei der Suche verlässt man sich auf Empfehlungen. Die Therapie stellt sich zunächst als schützende Zufluchtstätte vor der Bedrohung des Alltags dar, die in der realen Entschädigung für erlittene Verluste und Verletzungen geleistet wird. Doch allmählich verwandelt sich für den Patienten das schützende therapeutische Beziehungsangebot in quälende Abhängigkeit. Die vorherige Oase wird zu einer dürren Wüste. Die Loslösung aus der Verstrickung gegenseitiger Abhängigkeit erscheint nur durch einen Eklat möglich. Diese Wiederholung traumatisierender Beziehungserfahrungen führt zunächst zu einer völligen Vernichtung des Selbstwertgefühls. Die Lebensstrategie der Beziehungsmeidung als Selbstschutz verfestigt sich, und die Möglichkeit, Vertrauen in andere Menschen zu entwickeln, engt sich ein. Eine Verarbeitung wird erst später möglich, teils durch „Selbsttherapie”, teils durch fremde Hilfe.

Der hilflose Therapeut. Isolation und Abgetrenntheit von der Umwelt prägen Kindheit und Jugend der Patienten, das Anderssein, das Besondere führt zur sozialen Isolierung. Die Herkunftsfamilie kann keinen Rückhalt bieten: die Bezugspersonen werden als fremd, sogar als feindlich erlebt. Auch im Erwachsenenalter gelingt es nicht, aus der sozialen Isolation herauszufinden. Es entwickeln sich keine tragfähigen Bindungen (Enttäuschung und Verrat in partnerschaftlichen Beziehungen, fehlender Halt in sozialen Beziehungen). Hinzu kommt oft eine Bedrohung des beruflichen Lebensentwurfs. Jetzt kommt es zu einer hohen Symptombelastung (Suizidalität, schwere Depressionen, Minderwertigkeitsgefühle, Zwangshandlungen). Eigene Lösungen werden durch Selbstreflexion versucht, scheitern jedoch. Der behandelnde Arzt überweist an einen Psychotherapeuten; der Patient lässt sich nur widerwillig darauf ein. Ambivalenz und Ratosigkeit des Patienten übertragen sich auf den Therapeuten. Es scheint sich eine alltägliche Sozialbeziehung zu etablieren, in der 2 Ratsuchende aufeinander treffen. Der Therapeut wird zunehmend als „inkompetent” erlebt, was zur Bestätigung der Grundannahme führt, dass man letztlich allein ist und seine Probleme selbst lösen muss. Die Befürchtung, eine Psychotherapie könne sowieso nicht helfen, hat sich bewahrheitet.

Der uninformierte Klient/Patient. Die Sozialisation ist durch Überbürdung mit Pflichten und durch traumatische Einzelerlebnisse bestimmt. Die Symptomatik ist gekennzeichnet durch Depression, Beziehungs- und Kontaktprobleme sowie Sexualstörungen, welche die Erlebniswelt einengen. Die soziale Umwelt gibt den Anstoß zur Therapie; die therapeutische Beziehungssuche dagegen verläuft vorwiegend eigenaktiv. Die Klientin fühlt sich durch fehlende Aufklärung und „diktatorisches” therapeutisches Verhalten entmündigt. Der Therapeut wird als jemand gesehen, der sich rigide an vorgegebene Regeln seiner Therapieschule hält. Neben Verschärfung der Eingangssymptome zeigen sich dramatische Entwicklungen: Es kommt zu akuten Krisen und dem Eindruck, dass die Welt auf den Kopf gestellt sei. Eine nachfolgende neue Lebensorientierung und Folgetherapien bringen Ruhe und leichte Besserung.

Nachdem wir Misserfolge in der Psychotherapie unter dem Gesichtspunkt der Beziehungsgestaltung zwischen Therapeut und Patient betrachtet haben, fokussieren wir jetzt auf die Entstehungsgeschichte der behandlungsbedürftigen psychischen Störungen. Sie lassen sich nach Abbildung 1 in folgende 4 Kategorien einteilen einteilen (vgl. [8], S. 168 ff.):

A Psychotraumatisch. Im Kern als Kurz- oder Langzeitfolge des „Posttraumatischen Belastungssyndroms” (PTSD,ICD-10: F 43.1)

B Als Folge von Übersozialisation mit den Störungsbildern der „klassischen” Neurose (hysterisch, zwanghaft, depressiv, narzisstisch)

C Psychobiologisch mit genetisch angelegten vs. erworbenen, jedoch psychobiologisch verfestigten Strukturen. Ein Beispiel für letzteres wäre eine dauerhafte Dysregulation des Serotoninystems, etwa nach frühkindlichen Deprivationserfahrungen, verbunden mit einer Disposition zu depressiven Reaktionen im späteren Lebenslauf.

D Untersozialisation (häufig ein Wechsel zwischen Verwöhnung und Verwahlosung) mit der Folge dissozialer Entwicklungen.

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Abbildung 1: Ätiologisches Krankheitsmodell psychischer Störungen
Es sind die Ätiologien psychotraumatisch (A), Übersozialisation (B), biologisch (C) und Untersozialisation aufgeführt. Die Schnittmengen symbolisieren Mischformen. Darüber hinaus wurden zur ersten Orientierung die Skripte aus Tabelle 1 den Ätiologien zugeordnet. Mischformen ergeben sich aus der Einzelfallanalyse.

Das ätiologische Krankheitsmodell psychischer Störungen (Abb. [1]) ordnet den Grundtypen (A bis D) schulenübergreifend therapeutische Leitlinien zu (siehe hierzu [8]). Während sich die Ätiologie „psychotraumatisch” (A in Abb. [1]) durch eine traumaätiologische Therapieführung auszeichnet, wird der Ätiologiekomplex „Übersozialisation” dem tiefenpsychologischen Ansatz und die Untersozialisationsätiologie dem verhaltenstherapeutischen Paradigma zugeordnet (B und D in Abb. [1]). Der ätiologispezifische Ansatz für die psychobiologische Komponente (C in Abb.1) orientiert sich am bio-somatischem Paradigma (z. B. Pharmakotherapie, Myoreflextherapie usw.). Mischformen ergeben sich aus den Überlappungszonen.

Die Skripts therapeutischen Misserfolgs können wie eine negative Kommentierung dieser Klassifikation gelesen werden, einschließlich dessen, was geschieht, wenn die ätiologischen und pathogenetischen Vorbedingungen keine therapeutisch wirksame Korrektur erfahren. So lässt sich der „uninformierte Patient” der übersozialisativen Erfahrung vom Typ der „Hysterie” zuordnen (bis hin zur Klage über mangelnde „Aufklärung”) mit psychotraumatologischer Komponente zuordnen (Feld A-B in Abb.1). Der „hilflose Therapeut” verkörpert die narzisstischen Neurose (Übersozialisation, Feld B in Abb. [1]), während „Vertreibung aus dem gelobten Land” und „Zuwendung und Zerstörung” vormehmlich der psychotraumatischen Ätiologie zugeordnet werden kann (Feld A in Abb. [1]). Die Skripte „Golden Phantasy” und „der rächende Gott” haben starke Deprivations- und psychotraumatologische Anteile, so dass sie dem Feld D-A zugeteilt werden können.

Für den Fall, dass die therapeutische Beziehung in das „falsche Fahrwasser” gerät, kann sich der Therapeut durch den Dreisatz

    1. Identifizierung des Skripts,

    2. Analyse der Ätiopathogenese des psychischen Störungsbildes und

    3. Ableitung der schulenübergreifenden therapeutischen Vorgehensweise

an dieser Kurskorrektur orientieren.

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Logik therapeutischen Gelingens

Dörner [10] hat in seinem mittlerweile klassischen Beitrag zur Erforschung von Fehlschlägen bei Interventionen in komplexe Systeme einige Fehlertypen herausgearbeitet. Der wohl wichtigste darunter ist das sog. „Feuerwehrspielen”: Immer dort löschen, wo es gerade brennt, mit der Gefahr, die komplexe Logik des Systems zu übersehen. Frederic Vester [13] hat ein Modell entwickelt, das sog. „Sensitivitätsmodell”, das solche „kontraintuitiven Effekte” in einer biokybernetischen Analyse komplexer Regelsysteme erfasst. Die fehleranalytischen Erkenntnisse dieser Autoren lassen sich auch zum Verständnis therapeutischer Misserfolge nutzen. Dem Verlauf des jeweiligen Skripts kann entnommen werden, dass die Therapeuten zumeist bemüht sind, der Symptomatik entgegenzuwirken und unmittelbar eine Entlastung von den geklagten Beschwerden zu schaffen. Dabei wird jedoch leicht die Systemlogik der Symptome und Beschwerden übergangen, die nach Freud als „Kompromissbildung” zwischen verdrängenden und verdrängten psychischen Kräften [14] oder im psychodynamischen Traumamodell als Kompromiss zwischen „Traumaschema” und „traumakompensatorischen” Kräften [15],[16],[8] verstanden werden kann. Das „Feuerwehrspielen” an Symptomen und Beschwerden führt dazu, dass die „Systemlogik” zurückschlägt an jener Stelle, die den Wendepunkt in jedem der 7 Misserfolgsskripts markiert. So entsteht der Eindruck, als würden sich die neurotischen und vor allem die psychotraumatischen Ausgangsbedingungen nahezu ungehindert in den Psychotherapien durchsetzen und ihren destruktiven Effekt noch erweitern. Unsere psychotherapeutischen Bemühungen können sich offenbar bisweilen in eine Retraumatisierung (oder erneute Neurotisierung) unserer Patienten verkehren.

Als psychotherapeutische Kolleginnen und Kollegen sollten wir es uns aber nicht zu leicht machen und uns naserümpfend und schließlich achselzuckend die Misserfolgs-Therapien übergehen. Zweifellos geben die Skripts nicht das wieder, was wir unter einem wünschenswerten Behandlungsverlauf verstehen. Auch legt die Tatsache, dass sich die Misserfolge keineswegs auf tiefenpsychologische oder psychoanalytische Therapien beschränken die Annahme nahe, dass die Logik des Misserfolgs als „schulenübergreifend” zu verstehen ist.

Was also kann die Alternative sein zum „Feuerwehrspiel”, zum direkten „Löschen der Brandherde”, zur Fixierung auf Symptomatik und Beschwerdebild?

Die Alternative bilden dialektisches Verstehen und Denken in der Psychotherapie und hierin begründete Interventionsstrategien. Dialektisches Denken geht bekanntlich von der Widersprüchlichkeit und Selbstwidersprüchlichkeit menschlicher Lebenswelten aus. Sowohl Neurose wie Trauma bewirken eine Aufspaltung von Beziehungsschemata in konflikthaft polarisierte Alternativen, die nach dem Muster des „Entweder-Oder” zwischen den aufgespaltenen Polen oszillieren. Die therapeutische Antwort kann somit nicht darin bestehen, die eine oder andere Seite der aufgespaltenen Polarität zu unterstützen oder uns als Therapeuten auf eine der Extrempositionen festlegen zu lassen. Vielmehr müssen wir beiden Seiten des Widerspruchs entgegentreten, in einer Haltung, die dem Entweder-Oder des Patienten eine therapeutisches „Weder-Noch” gegenüberstellt. Soweit uns das gelingt, helfen wir unseren Patientinnen und Patienten, ihr aufgespaltenes kognitiv-emotionales „Beziehungsschema” zu „dekonstruieren”, so dass der Weg frei wird für den Entwurf einer „Metaposition” jenseits der aufgespaltenen Polarität, für einen lebensgeschichtlich neuen Anfang. Auf dieser neuen Ebene sind Neurose und Trauma dialektisch „aufgehoben”, in der dreifachen Bedeutung, die dieser Begriff impliziert, lateinisch ausgedrückt von „eliminare”, „elevare” und „conservare”, bezogen jeweils auf die pathogene Ausgangslage. Mit dieser dialektischen Wendung (und nur mit ihr) entsprechen wir der komplexen Systemlogik psychotherapeutischer Veränderungsprozesse und können vermeiden, dass wir in unserer täglichen Praxis als Therapeuten selbst Opfer der Systemlogik von Trauma und/oder Neurose werden.

Dies allerdings ist leichter gesagt als getan. Oft stellen wir erst nach vielen Sitzungen fest oder manchmal auch erst nach Abschluss der Behandlung, dass wir uns in einer der Alternativen verfangen und die Therapie auf der Grundlage einer „therapeutischen Missallianz” [16] geführt haben. Hier scheint es erlaubt und wohl auch geboten, alle verfügbaren Hilfsmittel auszuschöpfen: Denk- und Erholungspausen, Eigensupervision, Intervision und Supervision durch erfahrene Kolleginnen und Kollegen. In Köln haben wir daraus u. a. die Konsequenz gezogen, ein Dokumentations- und Planungssystem für dialektische Psychotherapie zu entwickeln. Einige Konzepte dieser dialektischen Psychotherapiekonzeption möchte ich im folgenden skizzieren.

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Einige Annahmen einer dialektischen Veränderungskonzeption in Psychotherapie und Traumabehandlung

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Übertragungsbeziehung, Arbeitsbündnis, Setting: „minimale Differenz”

Traumatische Erfahrungen und neurotisierende Lebensbedingungen werden in den „Beziehungsschemata” (den sog. „RIGS” = Repetitive Interaktions Generalized nach Daniel Stern) des Patienten gespeichert (zumeist im impliziten Gedächtnis) und auf den Therapeuten und die Therapie „übertragen”. Traumapatienten werden durch alles „getriggert”, was „subcortical” auch nur entfernt an die traumatische Erfahrung erinnert. Setting und therapeutisches Arbeitsbündnis müssen von daher so gestaltet werden, dass dieser Effekt gering gehalten wird und ein hinreichender Kontrast zur traumatischen Erfahrung entsteht, eine zumindest „minimale Differenz” zwischen Übertragungs- und Arbeitsbeziehung. Nur unter dieser Voraussetzung können die Patienten den nötigen Abstand zu ihrer belastenden Vorgeschichte gewinnen und sich auf die therapeutische Erfahrung einlassen.

In einigen der Misserfolgsskripts wird diese Voraussetzung bereits dann als gegeben unterstellt, wenn der Therapeut sein gewohntes Setting praktiziert. Aber nur wenn subjektiv, in der Erfahrung der Patientin, ein hinreichender Kontrast zur negativen Vorgeschichte besteht, kann sich der Patient entspannen und sich, meist schrittweise und zögernd, auf die therapeutische Erfahrung einlassen. In einem Skript wie „Eingefrorene Verschmelzungswünsche” ist diese „minimale Differenz” verfehlt, ebenso in „Zuwendung und Zerstörung”. Die Therapie etabliert sich auf der Grundlage von Zurückweisung, Misstrauen oder Entwertung und verfehlt den hinreichenden Kontrast zu den lebensgeschichtlichen Vorerfahrungen. Andere Skripts, wie „Golden Phantasy” oder der „Rächende Gott” hingegen verwirklichen diesen Kontrast überoptimal und reduzieren unnötig jene Frustrationsspannung, die eine erfolgversprechende Therapie ebenfalls verlangt. Sie verstellen so den Übergang zur folgenden „Schaltstelle” einer erfolgreichen Psychotherapie, zum Punkt einer „optimalen Differenz” zwischen Übertragungsbeziehung und therapeutischem Arbeitsbündnis.

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„Veränderungsoptimale Differenz” von Arbeitsbündnis und Übertragungsbeziehung

Dieser Kontrast entsteht, wenn in der Erfahrung des Patienten das therapeutische Arbeitsbündnis der Übertragungsbeziehung hinreichend ähnlich, in entscheidenden Punkten aber zugleich hinreichend unähnlich ist.

Dazu muss vom Therapeuten die polarisierte Spaltung zwischen Idealisierung und Entwertung, zwischen Nähe und Distanz usf. als solche berücksichtigt werden. Gegenüber dem Entweder-Oder des aufgespaltenen Beziehungsschemas (entweder Idealisierung oder Entwertung) verwirklicht der Therapeut eine Haltung des sukzessiven Weder-Noch. Bleibt diese polarisierte Systemlogik außer acht, so kehrt sie in der Reaktion des Patienten und/oder des Patienten wieder. Das geschieht in den Skripts „golden phantasy”, in der Vergeltung des „rächenden Gottes” und in „Vertreibung aus dem gelobten Land”. Zunächst wird in der therapeutischen Arbeitsbeziehung einseitig der positive Pol des Beziehungsschemas etabliert, der ausgeblendete negative setzt sich dann, mit oft spektakulären Folgen, im Verhalten der Beteiligten durch.

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„Polaritätenquadrat” und geeignete therapeutische Haltung

Auch wenn die wiedergegebene Studie gewissermaßen nur ein „Blitzlicht” therapeutischer Prozesse erfasst und zudem nicht als repräsentativ anzusehen ist, so wissen wir doch aus unserer klinischen Erfahrung, wie stark der „Sog” werden kann, den traumatische Vorerfahrungen auf die psychotherapeutische Beziehungsgestaltung ausüben. So wurde das „Traumaschema” [15], jene Struktur, die im impliziten Gedächtnis die traumatische Erfahrung speichert, verglichen mit einem der „schwarzen Löcher” in der astronomischen Forschung, die alle Materie in sich zusammenfallen lassen. In der Terminologie von Jean Piaget wird das Traumaschema unserer Patientinnen und Patienten durch ein Übermaß an „Assimilation” bestimmt und ist im gleichen Maße „akkommodationsresistent”, d. h. außerstande, sich aufgrund neuer, abweichender Wahrnehmungen zu verändern.

So liegt es nahe, zu Beginn unserer therapeutischen Seereise eine Landkarte zu entwerfen, die uns die Untiefen des Therapieverlaufes anzeigt, damit wir sie umfahren können.

Das folgende Diagramm gibt eine solche Landkarte wieder am Beispiel eines Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung, die sich lebensgeschichtlich auf ein transgenerationales Beziehungstrauma zurückverfolgen lässt, mit dem zentralen Konfliktthema von Nähe vs. Distanz [8]:

Tab. 2: Polaritätenquadrat und konstruktive therapeutische Haltung am Beispiel von Herrn P. ; Erklärung im Text
InszenierungGegen-übertragungArbeits-beziehungOutcome
Pol A
Klammern

Wegstoßen
Wegstoßen

Gehenlassen

A’

Selbstbehauptung in der
Beziehung

I
Wechsel von Klammern und WegstoßenWechsel von Klammern und WegstoßenWeder
Klammern
Noch
Wegstoßen

A impliziert Z

Intensive Verbundenheit und
Freie Wanderschaft

H
Pol Z
Wegstoßen

Klammern
Halten

Klammern

Z’

Beziehungskonstanz.

G
BCDEF

Pol A und Pol Z in Spalte B bilden die Extreme der aufgespaltenen Beziehungspolarität von Nähe und Distanz, so wie sie vom Patienten voraussichtlich in der therapeutischen Beziehung inszeniert werden: als „Klammern” oder „Beziehungsclinch” in einer bedrückend empfundenen therapeutischen Nähe, im Wechsel mit Versuchen, sich daraus zu befreien und den Therapeuten bzw. die Therapie gleichsam „wegzustoßen”, beispielsweise indem der Patient die Therapie vorzeitig abbricht. Die in Spalte D aufgeführte hilfreiche therapeutische Haltung („Weder Klammern noch Wegstoßen”) besteht nun darin, sukzessiv beide Pole des aufgespaltenen Beziehungsschemas zu negieren in einer Haltung, die den schmalen Grad zwischen den aufgespaltenen Polen A und Z nutzt und vom Patienten weder als „Klammern” (in irgendeiner therapeutischen Formulierung) noch als „Wegstoßen” (z. B. den Patienten wegschicken und die Therapie beenden) interpretiert werden kann. Wie schwierig das ist, wird deutlich, wenn wir uns an das Bild vom traumatisierten Beziehungsschema als „schwarzes Loch” erinnern. So operiert das „Traumaschema” des Patienten in der Tat als ein erstarrtes Interpretationssystem, das jede Andeutung von „Klammern” oder „Wegschicken „assimiliert”, um sich im Sinne des Wiederholungszwanges zu reproduzieren. Die dialektische Arbeit der zweifachen Verneinung, der doppelten Negation, kann schließlich den Wiederholungszwang durchbrechen und führt in Tab. [2], Spalte F zu einem Therapieergebnis, das sich seinerseits als doppelte Negation und damit als dialektische „Aufhebung” der therapeutischen Ausgangslage darstellt: als „Selbstbehauptung in der Beziehung” (Fenster F, I in Tab. [2]) an Pol A sowie als „Beziehungskonstanz” (Fenster F, G in Tab. [2]) an Pol Z. Die Angaben in Spalte F entsprechen dem Ergebnis der 280-stündigen Psychotherapie des Patienten, Herrn P., das im Katamnesezeitraum von 2 Jahren konstant blieb.

Offenbar ist in den Misserfolgstherapien diese dialektische Logik nicht oder nur unzureichend berücksichtigt worden. Es zeigt sich aber auch, wie schwierig die Logik therapeutischen Gelingens zu verwirklichen und zuvor diagnostisch zu erfassen ist. So liegt es nahe, Planungsinstrumente wie das „Polaritätenquadrat” zu nutzen, auch wenn ein systematisches Vorgehen dieser Art manchen vielleicht als „schematisch” erscheinen mag. Die Logik therapeutischen Gelingens ist vom Misslingen, bildlich gesprochen, nur durch einen schmalen Pfad getrennt. Im Dickicht des psychotherapeutischen Geschehens können wir ihn leicht aus den Augen verlieren. Daher sind wir in Köln dazu übergegangen, uns bei der Therapieplanung auch moderner Technik zu bedienen. Dort wurde ein computergestütztes Planungs- und Dokumentationssystem entwickelt (die KÖDOPS-Softwareversion, im Internet über www. Psychotraumatologie.de und www.koedops.de), das uns erlaubt, schon zu Therapiebeginn die dialektische Struktur von Trauma, Neurose, von Untersozialisation und psychobiologischen Einflüssen zu erfassen, um von Symptombekämpfung und „Feuerlöschen” zur Intervention auf der Ebene dialektischer Systemlogik übergehen zu können.

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Traumaadaptierte Psychotherapie

In den bundesdeutschen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinischer Fachverbände (AWMF) heißt es, eine nicht traumaadaptierte Psychotherapie, die noch den traditionellen Therapieschulen folgt, sei heute „obsolet” (über www.DeGPt.de). Diese knappe Feststellung wird durch das Ergebnis unserer Misserfolgsstudie vollauf bestätigt, wenn man den hohen Anteil von Traumatisierung in der Untersuchungsgruppe bedenkt. Auch in einer weiteren Studie [18] wurde festgestellt, dass es gerade die traumatisierten Patienten sind, die in Verlängerungsanträgen zur tiefenpsychologisch fundierten und analytischen Psychotherapie ungebessert bleiben. Wir wissen heute, dass schwere psychische Traumatisierung nach etwa einem Jahr sich hirnphysiologisch verfestigt. Die Hinweise verdichten sich, dass vor allem komplexe Psychotraumata in die Struktur unserer neuronalen „Software” eingreifen und sich sogar auf die „Hardware” der Neuronen-, Dendriten und Synapsenbildung auswirken können [19] [20]. Quer durch die Therapieschulen hindurch ist daher eine explizite Ausrichtung auf die Behandlung psychisch traumatisierter Patienten vonnöten, die bei traditionellen Ansätzen noch zu vermissen ist. Als ein Negativbeispiel aus der Verhaltenstherapie kann etwa das Manual zur Behandlung von Angstanfällen von Margraf & Schneider [21] gelten, wenn man bedenkt, dass bei einem erheblichen Prozentsatz der Angstpatienten eine psychotraumatische Ätiopathogenese im Hintergrund steht. Als unverzichtbar für Traumatherapie muss weiterhin ein gezieltes Training im Umgang mit Übertragung und Gegenübertragung betrachtet werden, unabhängig von der Frage, ob die jeweilige „Schulrichtung” diese Konzepte für sich „anerkennt” oder nicht (vgl. [22]). Die aufgeführten Ergebnisse psychotherapeutischer Misserfolgsforschung sprechen hier eine deutliche Sprache. Verbesserungsbedürftig bleibt der Umgang mit Übertragungsphänomenen offenbar auch in den psychodynamischen Therapierichtungen.

So kann uns gerade die psychotherapeutische Misserfolgsforschung dabei helfen, bessere, erfolgreichere Therapien zu entwickeln, die den Besonderheiten psychischer Traumatisierung entsprechen [16],[23]. Die moderne Traumatherapie verfügt gegenwärtig über ein breites Arsenal von Techniken aus Tiefenpsychologie, kognitiver Therapie, aus Hypno- und Verhaltenstherapie. So wünschenswert diese schulenübergreifende Entwicklung ist, so muss sie doch ergänzt werden durch Kriterien einer systematischen Therapieplanung mit Schwerpunkt auf Beziehungsgestaltung und Veränderungslogik. Werden Traumatherapien dieser systematischen Art dokumentiert, evaluiert und aufgrund von Forschungsergebnissen planmäßig weiterentwickelt, so können wir hoffen, längerfristig der Herausforderung zu entsprechen, vor die uns die Ergebnisse psychotherapeutischer Misserfolgsforschung heute noch stellen.

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Literatur

  • 1 Emmelkamp P MG. Misserfolge in der Verhaltenstherapie. Kleiber, D., Kuhr, A Tübinger Reihe 8. Herausg. v. der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie DGVT Handlungsfehler und Misserfolge in der Psychotherapie. Beiträge zur psychosozialen Praxis 1988: 34-44
  • 2 Fäh M, Fischer G. Sinn und Unsinn in der Psychotherapieforschung. Eine kritische Auseinandersetzung mit Aussagen und Forschungsmethoden. Psychosozial Gießen; 1998
  • 3 Kleiber D, Wehner T. Fehlerfreundlichkeit: Ein Plädoyer zur Vitalisierung nicht intendierter Ereignisse (Handlungsfehler, therapeutische Misserfolge us.). Kleiber, D., Kuhr, A Tübinger Reihe 8. Herausg. V. der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie DGVT Handlungsfehler und Misserfolge in der Psychotherapie. In: Beiträge zur psychosozialen Praxis 1988: 18-33
  • 4 König-Fuchs C. Therapeutischer Erfolg und Misserfolg. Kausalattributionen von Therapeuten, Klienten und Supervisoren. Europäische Hochschulschriften, Reihe 6, Psychologie, Bd 336, Peter Lang, Ffm 1991
  • 5 Strupp H, Hadley S. A tripartite model of mental health and therapeutic outcome. With special reference to negative effects.  American psychologist. 1977;  3 187-196
  • 6 Strupp H H, Hadley S, Gomes-Schwartz B. Psychotherapy for better or worse?. Jason Aronson N.Y; 1977
  • 7 Fischer G. Lebensgeschichte - Therapieverlauf - Ergebnisbewertung. Das Bewertungskriterium „Integrität” in der qualitativen Psychotherapieforschung. Faller H, Frommer J. 1994 Asanger Heidelberg; Qualitative Psychotherapieforschung. Grundlagen und Methoden 1994: 329-347
  • 8 Fischer G. Kölner Dokumentationssystem für Psychotherapie und Traumabehandlung KÖDOPS. Deutsches Institut für Psychotraumatologie Köln; 2000
  • 9 Schwarz R. Aus der Sicht der Trainerin: Kommentar.  Zeitschrift für systemische Therapie. 1987;  5 235-236 (4)
  • 10 Dörner D. Die Logik des Misslingens. Rowohlt Hamburg; 1989
  • 11 Becker-Fischer M, Fischer G. Sexueller Mißbrauch in der Psychotherapie - was tun?. Asanger Heidelberg; 1996
  • 12 Scharrelmann D. Psychotherapeutischer misserfolg. Qualitative und quantitative Datenanalyse, Entwicklung eines Fragebogens. Psychologische Diplomarbeit am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität zu Köln 1996
  • 13 Vester F. Die Kunst vernetzt zu denken: Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart; 1999
  • 14 Freud S. „Psychoanalyse” und „Libidotheorie”. GW 1923 Bd XIII: 211-233
  • 15 Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. UTB Ernst Reinhardt München; 1998, 1999 2. Aufl
  • 16 Fischer G. Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie MPTT. Asanger Heidelberg; 2000
  • 17 Langs R. Therapeutic misalliances.  Int J Psychoanal Psychother. 1975;  4 77-105
  • 18 Daub H, Mosetter K. Entwicklung eines Kategoriensystems für die kassenfinanzierte Psychotherapie. Medizinisch-psychologische Dissertation an der Medizinischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 1998
  • 19 Galley N, Fischer G, Hofmann A. Psycho-biologische Grundlagen von Traumanachwirkungen.  Psychotraumatologie. 2000;  1 6
  • 20 Bering R, Fischer G, Johansen F F. Neurovulnerabilität der Hippokampusformation bei der posttraumatischen Belastungsstörung: Forschungsstand und Forschungshypothesen.  Psychotraumatologie. 2002;  3 34
  • 21 Margraf J, Schneider, S. Angstanfälle und ihre Behandlung. Springer Heidelberg; 1990
  • 22 Zurek G, Barwinski R, Fischer G. Übertragung und Gegenübertragung in der Psychotherapie psychotraumatischer Belastungssyndrome.  Psychotraumatologie. 2002;  3 31
  • 23 Fischer G, Reddemann L, Barwinski-Fäh R, Bering R. Traumaadaptierte tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie - Definition und Leitlinien.  Springer-Verlag. Zur Veröffentlichung eingereicht in: Der Psychotherapeut  2002; 
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Autoren:

Prof. Dr. Gottfried Fischer

Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie

Zülpicherstr. 45

50923 Köln

eMail: gottfried.fischer@uni-koeln.de

Dr. med. Dipl.-Psych. Robert Bering

Oberarzt am Zentrum für Psychotraumatologie

Alexianer-Krankenhaus Krefeld

eMail: robert.bering@uni-koeln.de

Dipl.-Psych. Dagmar Scharrelmann

Am Heiligenhäuschen 1

40545 Düsseldorf

Telefon: Tel: 0211 570999

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Literatur

  • 1 Emmelkamp P MG. Misserfolge in der Verhaltenstherapie. Kleiber, D., Kuhr, A Tübinger Reihe 8. Herausg. v. der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie DGVT Handlungsfehler und Misserfolge in der Psychotherapie. Beiträge zur psychosozialen Praxis 1988: 34-44
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  • 23 Fischer G, Reddemann L, Barwinski-Fäh R, Bering R. Traumaadaptierte tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie - Definition und Leitlinien.  Springer-Verlag. Zur Veröffentlichung eingereicht in: Der Psychotherapeut  2002; 
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Autoren:

Prof. Dr. Gottfried Fischer

Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie

Zülpicherstr. 45

50923 Köln

eMail: gottfried.fischer@uni-koeln.de

Dr. med. Dipl.-Psych. Robert Bering

Oberarzt am Zentrum für Psychotraumatologie

Alexianer-Krankenhaus Krefeld

eMail: robert.bering@uni-koeln.de

Dipl.-Psych. Dagmar Scharrelmann

Am Heiligenhäuschen 1

40545 Düsseldorf

Telefon: Tel: 0211 570999

 
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Abbildung 1: Ätiologisches Krankheitsmodell psychischer Störungen
Es sind die Ätiologien psychotraumatisch (A), Übersozialisation (B), biologisch (C) und Untersozialisation aufgeführt. Die Schnittmengen symbolisieren Mischformen. Darüber hinaus wurden zur ersten Orientierung die Skripte aus Tabelle 1 den Ätiologien zugeordnet. Mischformen ergeben sich aus der Einzelfallanalyse.