Epidemiologie
Epidemiologie
Der Diabetes mellitus Typ 2 ist die bei weitem häufigste Diabetesform. Ca. 90% aller
Menschen mit Diabetes mellitus sind diesem Typ zuzuordnen. Nach Hochrechnungen leiden
derzeit etwa 5% aller Bundesbürger an einem bekannten Typ- 2-Diabetes (ohne Dunkelziffer!)
(Dtsch Med Wochenschr 1998; 123: 777¿782). Die Krankheit beginnt üblicherweise im
mittleren oder höheren Lebensalter. In den letzten Jahren wurde beobachtet, dass immer
mehr junge Erwachsene und sogar Jugendliche betroffen sind (Diabetes Care 2000; 23:
381-389).
Pathophysiologie
Pathophysiologie
Als Hauptursache für den weltweiten Trend einer Zunahme des Typ-2-Diabetes mellitus
wird die Adipositas angesehen. Es besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen Körpergewicht
und Diabetesrisiko. Das Diabetesrisiko nimmt mit zunehmender Körperfettmasse, Dauer
der Adipositas sowie abdominellem Fettverteilungsmuster zu. Eine Gewichtszunahme erhöht
das Diabetesrisiko, eine Gewichtsabnahme senkt sie (Ann Intern Med 1995; 122: 481-486).
Vor allem eine Vermehrung der viszeralen Fettdepots ist eng mit Typ-2-Diabetes mellitus
und anderen metabolischen Störungen assoziiert (Brit Med J 2001; 322: 716-720). Nach
Schätzungen könnten zwei Drittel aller Diabetesfälle vermieden werden, wenn es gelänge,
einen Anstieg des Körpergewichts im Erwachsenenalter zu vermeiden.
Auch die Zusammensetzung der Ernährung hat einen direkten Einfluss auf das Diabetesrisiko.
Vor allem eine kalorienreiche Kost mit einem hohen Anteil an gesättigten Fettsäuren
und einer niedrigen Zufuhr von Ballaststoffen, die für Mitteleuropa und Nordamerika
typisch ist, scheint das Diabetesrisiko zu erhöhen. Dagegen schützt eine Kost mit
einfach und mehrfach ungesättigten Fettsäuren, reichlich Ballaststoffen und Kohlenhydraten
mit niedrigem glykämischen Index vor Diabetes (J Amer Med Ass 1997; 277: 472-477).
Daneben ist auch körperliche Bewegung für die Verminderung des Diabetesrisikos von
Bedeutung. Körperlich aktive Menschen haben ein etwa halb so hohes Diabetesrisiko
wie körperlich inaktive Menschen.
Falsche Ernährung und Bewegungsmangel können aber nur dann wirksam werden, wenn eine
entsprechende genetische Prädisposition besteht. Nur für 5-10% aller Personen mit
Typ-2-Diabetes wurden bislang umschriebene Gendefekte identifiziert. Da die Diabetesgene
noch zum größten Teil unbekannt sind, ist eine molekulargenetische Analyse derzeit
wenig hilfreich. Dafür kann eine einfache Familienanamnese umso wertvollere Hinweise
liefern. Bei einem Elternteil mit Typ-2-Diabetes müssen 30-40% der Nachkommen mit
der Manifestation der Erkrankung im Laufe ihres Lebens rechnen.
Obgleich die Pathomechanismen, die zum Typ-2-Diabetes führen, längst nicht aufgeklärt
sind, zeigt sich, dass Übergewicht, falsche Ernährung (hoher Anteil gesättigter Fettsäuren,
ballaststoffarm) und Bewegungsmangel die Entwicklung einer Insulinresistenz fördern
bzw. verstärken. Diese kann zunächst durch eine reaktiv gesteigerte Insulinsekretion
des Pankreas kompensiert werden, erkennbar an erhöhten Seruminsulinkonzentrationen.
Wenn allerdings die hohe Funktionsleistung vermutlich infolge genetischer Störungen
nicht mehr aufrechterhalten werden kann und sich erschöpft, kommt es zur Manifestation
der chronischen Hyperglykämie (N Engl J Med 1996; 334: 777-783). Dieser Prozess erstreckt
sich in der Regel über einen langen Zeitraum.
Der Diabetesmanifestation geht in der Regel das Stadium der gestörten Glukosetoleranz
voraus, die mit Hilfe des oralen Glukosetoleranztests diagnostiziert werden kann und
potenziell reversibel ist. Bei 3-8% der Personen mit gestörter Glukosetoleranz (je
nach Population) kommt es jährlich zur endgültigen Diabetesmanifestation.
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Ein erhöhtes Risiko für Typ 2-Diabetes besteht bei folgenden Parametern (Diabetes
Care 1997; 20: 1183-1198):
</TD>
<TD VALIGN="TOP">
-
erstgradig Verwandte mit Typ 2-Diabetes mellitus
-
Übergewicht (BMI ≥ 27 kg/m²)
-
Hypertonie (RR ≥ 140/90 mmHg)
-
Dyslipoproteinämie (HDL-Cholesterin <= 35 mg/dl, Triglyzeride ≥ 200 mg/dl)
-
erhöhte Blutglukosewerte bei früheren Untersuchungen
-
Schwangerschaftsdiabetes oder Geburt eines makrosomen Kindes
</TD>
Primärprävention
Primärprävention
Maßnahmen zur Primärprävention des Typ-2-Diabetes mellitus auf Bevölkerungsebene sollten
in erster Linie auf mehr körperliche Bewegung und die Vermeidung einer Gewichtszunahme
bzw. auf die Reduktion des Übergewichts zielen. Bislang fehlt der klare Nachweis,
dass Präventionsprogramme auf Bevölkerungsebene dies leisten können. Alle bisherigen
Ansätze waren gerade im Hinblick auf die Vermeidung von Übergewicht bzw. Gewichtszunahme
ausgesprochen enttäuschend.
Dagegen scheinen Präventionsprogramme bei Menschen mit erhöhtem Diabetesrisiko sinnvoll
und effektiv zu sein. Besonders gefährdet sind Personen mit einer genetischen Belastung
(Eltern oder Geschwister mit Typ-2-Diabetes), Übergewicht (BMI ≥ 27 kg/m²) oder Personen
mit gestörter Glukosetoleranz ([Info 1]). Adipöse Personen mit familiärer Diabetesbelastung entwickeln mit 60- bis 70%iger
Wahrscheinlichkeit im Laufe ihres Lebens einen Diabetes.
Die wichtigsten Präventionsmaßnahmen sind Gewichtsreduktion bei Übergewicht bzw. Gewichtsstabilisierung
durch eine kalorisch angepasste, ausgewogene Ernährung und regelmäßige körperliche
Bewegung. In der kürzlich publizierten finnischen Diabetespräventions-Studie konnte
bei Personen mit gestörter Glukosetoleranz (hauptsächlich erstgradig Verwandte von
Typ-2-Diabetikern) durch eine Änderung der Lebensgewohnheiten (verminderter Fettverzehr,
Veränderung der Fettqualität, vermehrter Gemüse- und Obstverzehr, verminderter Konsum
von Zucker, Salz und Alkohol sowie eine Steigerung der körperlichen Bewegung) eine
Verringerung der Diabetesinzidenz um 58% erreicht werden (kumulative Diabetesinzidenz
nach 4 Jahren: 11% in der Interventionsgruppe vs. 23% in der Kontrollgruppe). Wurde
die Einhaltung der vorgeschlagenen Maßnahmen berücksichtigt, dann war dieser günstige
Effekt sogar deutlich stärker (N Engl J Med 2001; 344: 1343-1350; [Info 2]). Ein ähnlich günstiges Ergebnis wurde kürzlich für das Diabetes Prevention Program
berichtet (N Engl J Med 2002; 346: 393-403).
Neben Maßnahmen zur Lebensstiländerung haben sich in jüngster Zeit auch Medikamente
wie Metformin, Acarbose, ACE-Hemmer, Statine und Orlistat als begrenzt wirksam erwiesen,
um die Diabetesmanifestationsrate bei Personen mit gestörter Glukosetoleranz zu senken.
Die aktuelle Datenlage reicht aber nicht aus, um den Einsatz von Medikamenten zur
Primärprävention des Typ-2-Diabetes empfehlen zu können.
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Sinnvolle Empfehlungen zur Prävention des Typ-2-Diabetes bei Personen mit gestörter
Glukosetoleranz bzw. erhöhtem Diabetesrisiko (nach N Engl J Med 2001; 344: 1343-1350):
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<TD VALIGN="TOP">
-
Gewichtsreduktion > 5 kg
-
Reduzierung der Fettaufnahme < 30 Energie %
-
Reduzierung der gesättigten Fette < 10 Energie %
-
Steigerung der Ballaststoffaufnahme > 15 g/1000 kcal
-
körperliche Bewegung > 4 Stunden/Woche
</TD>
Sekundärprävention
Sekundärprävention
Menschen mit manifestem Typ-2-Diabetes haben ein hohes Risiko für mikro- und makroangiopathische
Komplikationen, die nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Lebenserwartung
der Betroffenen empfindlich beeinträchtigen können. Besonders hervorzuheben ist das
erhöhte kardiovaskuläre Risiko von Typ-2-Diabetikern, das denen von Nichtdiabetikern
nach vorangegangenem Myokardinfarkt entspricht (N Engl J Med 1998; 339: 229-234).
Bei Personen mit Typ-2-Diabetes kommt es daher darauf an, die Blutglukosewerte möglichst
normnah einzustellen, um Mikroangio- und Neuropathie zu verhindern. Daneben müssen
aber auch assoziierte Risikofaktoren wie Hypertonie oder Dyslipoproteinämie möglichst
konsequent behandelt werden, um makroangiopathischen Komplikationen vorzubeugen.
Die United Kingdom Prospective Diabetes Studie (UKPDS) ergab, dass durch eine intensivierte
blutglukosesenkende Therapie eine signifikante Reduktion der diabetes-assoziierten
Komplikationen möglich ist (Lancet 1998; 352: 837-853). Eine Senkung des HbA1c-Werts
um 1% war mit einer Reduktion mikrovaskulärer Endpunkte um 37%, tödlicher und nicht-tödlicher
Herzinfarkte um 14% und tödlicher und nicht-tödlicher Schlaganfälle um 12% verbunden
(Brit Med J 2000; 321: 405-412).
In der Hypertoniestudie der UKPDS ließ sich durch eine effektive Blutdrucksenkung
mit dem ACE-Hemmer Captopril oder dem Betablocker Atenolol ebenfalls eine signifikante
Senkung aller diabetesbezogenen Endpunkte um 24%, der diabetesbezogenen Todesfälle
um 32%, der zerebralen Insulte um 44% und der mikrovaskulären Komplikationen um 37%
erzielen (Brit Med J 1998; 317: 713-720).
Durch diese und andere Studien gilt heute als gesichert, dass eine möglichst normnahe
Diabeteseinstellung und strikte Behandlung begleitender Risikofaktoren von erheblichem
Nutzen für die Betroffenen ist. Dies kommt auch in den neuesten Empfehlungen für die
Behandlungsziele bzw. Einstellungskriterien von Menschen mit Diabetes mellitus Typ
2 zum Ausdruck ([Info 3]). Auch der Nutzen von niedrig dosierter Acetylsalicylsäure zur Prävention makroangiopathischer
Komplikationen ist für Menschen mit Typ 2-Diabetes belegt.
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Einstellungskriterien bei Diabetes mellitus Typ 2 mit niedrigem Risiko für mikro-
und makrovaskuläre Komplikationen (nach Diab Stoffw 2002; im Druck):
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<TD VALIGN="TOP">
-
Blutglukose nüchtern 90-120 mg/dl; postprandial 130-160 mg/dl
-
HbA1c £ 6,5%
-
Gesamtcholesterin < 200 mg/dl (< 170 mg/dl)*
-
LDL-Cholesterin < 100 mg/dl (< 100 mg/dl)*
-
HDL-Cholesterin > 35 mg/dl (> 40 mg/dl)*
-
Triglyzeride < 150 mg/dl (< 150 mg/dl)*
-
Blutdruck < 140/85 mmHg; mit Nephropathie < 130/80 mmHg
-
Body Mass Index < 25 kg/m2
* in Klammern: Diabetes mellitus Typ 2 mit Komplikationen
</TD>
Ausblick
Ausblick
Betrachtet man den Stellenwert der Präventivmedizin im deutschen Gesundheitssystem,
ist zweifellos festzuhalten, dass die bereits heute verfügbaren Ansätze zur Prävention
des Typ-2-Diabetes und seiner Komplikationen noch unzureichend genutzt werden. Dies
dürfte zum Teil auf strukturelle Defizite, zum Teil aber auch auf ungenügende finanzielle
Resourcen in der Primärprävention zurückzuführen sein.
Vor dem Hintergrund der heutigen Finanzierungsprobleme im Gesundheitswesen ist diese
Situation unverständlich und untragbar, da der Typ-2-Diabetes zu den teuersten chronischen
Erkrankungen überhaupt zählt. Besonders kostspielig sind dabei die vielfältigen Komplikationen
eines unzureichend therapierten Diabetes. So verursachen Typ-2-Diabetiker mit mikro-
oder makroangiopathischen Komplikationen etwa 2,5-fach höhere Kosten als GKV-Versicherte
ohne Diabetes. Bei Typ-2-Diabetikern mit mikro- und makroangiopathischen Komplikationen
liegen die Ausgaben sogar 4-fach höher (Dtsch Med Wochenschr 2001; 126: 585-589).
Bereits eine Verzögerung der Diabetesmanifestation bzw. der Komplikationen um wenige
Jahre würde vermutlich erhebliche Kosten einsparen, die die Ausgaben für wirksame
Präventions- und Behandlungsprogramme bei weitem übersteigen dürften, zumal sich damit
auch andere begleitende Risikofaktoren bessern lassen.
Die derzeit von der Deutschen Diabetes-Gesellschaft entwickelten evidenzbasierten
Leitlinien sollen helfen, Prävention, Früherkennung und Behandlung des Typ-2-Diabetes
auf der Grundlage des heutigen Kenntnisstandes zu optimieren (www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de).
Fachliche Betreuung der Serie:
Prof. Dr. Dr. h. c. Peter C. Scriba, München
Prof. Dr. Friedrich W. Schwartz, Hannover