Dtsch Med Wochenschr 2002; 127(9): 425-426
DOI: 10.1055/s-2002-20421
Die Serie ... Prävention
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Primäre Krebsprävention mit Ernährung

Empfehlungen und präventives PotenzialJ. Linseisen1,2 , N. Becker1
  • 1Klinische Epidemiologie, Deutsches Krebsforschungszentrum, Heidelberg
  • 2Humanernährung & Krebsprävention, Technische Universität München, Freising
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Korrespondenz

Priv. Doz. Dr. oec.troph. Jakob Linseisen

Technische Universität München

Humanernährung und Krebsprävention

Alte Akademie 16

85350 Freising-Weihenstephan

Email: j.llinseisen@wzw.tum.de

Publication History

Publication Date:
28 February 2002 (online)

Table of Contents #

Primary cancer prevention with diet

Diet is established as a major factor in primary cancer prevention. With respect to the German situation, practical guidelines for the most important dietary modifications are emphasized. Special attention is given to the preventive potential of a moderate increase in vegetable and fruit consumption.

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In Deutschland erkranken jährlich etwa 340 000 Personen an Krebs, und über 210 000 Patienten sterben jährlich an den Folgen ihrer Krebserkrankung. Die wichtigsten Ursachen für die Krebsentstehung sind Ernährung und Tabakkonsum. Der World Cancer Research Fund (WCRF) und das American Institute for Cancer Research (AICR) bestätigen in ihrem umfassenden Bericht zu Ernährung und Krebs die Ergebnisse früherer Schätzungen: Theoretisch sind etwa ein Drittel aller Krebserkrankungen durch Ernährungsfaktoren bedingt und damit durch eine Veränderung der Ernährung vermeidbar. Dies unterstreicht das große Präventionspotenzial richtiger Ernährung zur Senkung des Krebsrisikos. Die folgenden Empfehlungen basieren weitgehend auf den Ergebnissen zweier ausfühlicher Berichte zu diesem Thema (WCRF/AICR: Food, Nutrition and the Prevention of Cancer: a Global Perspective. Washington DC, 1997; COMA: Nutritional Aspects of the Development of Cancer. Norwich/UK: The Stationary Office, 1998).

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Gemüse und Obst

Der Verzehr von Gemüse und Obst als protektiver Faktor spielt eine überragende Rolle. Wenngleich in unterschiedlicher Intensität, so gilt ein präventiver Effekt dieser Lebensmittelgruppe für die Lokalisationen Mund, Rachen, Kehlkopf, Speiseröhre, Magen, Dickdarm, Lunge, Brust, Pankreas und Blase als gesichert oder wahrscheinlich. Pflanzliche Nahrungsmittel, insbesondere Gemüse und Obst, enthalten bioaktive Komponenten, wie z. B. Vitamine, sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe, Mineralstoffe und Ballaststoffe, denen kanzeroprotektive Eigenschaften zugesprochen werden. Diese beruhen auf der Fähigkeit, spezifische pathogenetische Mechanismen der Krebsentstehung und -entwicklung zu beeinflussen. Dazu gehören das Abfangen von freien Radikalen, die Induktion von Enzymen, die Veränderung der Genexpression sowie die Beeinflussung der Zelldifferenzierung und des programmierten Zelltodes (Apoptose).

In experimentellen Studien wurden einzelne Inhaltstoffe von Gemüse und Obst systematisch auf ihr krebsprotektives Potenzial hin untersucht. Für viele dieser Stoffe konnten tumorhemmende Effekte gezeigt werden. Der Nachweis der krebspräventiven Wirkung einzelner Inhaltsstoffe von Gemüse und Obst anhand experimenteller, epidemiologischer Studien oder Interventionsstudien ist bisher jedoch nicht gelungen. So wurde z. B. in Interventionsstudien ß-Carotin als isolierte Wirksubstanz gegeben. Es wurden jedoch entweder keine Wirkungen beobachtet oder in Gruppen von besonders gefährdeten Personen (Raucher, Asbest-exponierte Personen) sogar eine krebsfördernde Wirkung gesehen. Die Gründe dafür sind bis heute nicht vollständig gekärt. Das Beispiel zeigt jedoch, dass isolierte Nahrungsinhaltsstoffe in hoher Dosierung gesundheitsgefährdend sein können und als Pharmakon betrachtet werden müssen. Bei der Einnahme hochdosierter Nahrungsergänzungspräparate ist Vorsicht geboten.

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Ernährungsmuster

Bei der Beeinflussung des Erkrankungsrisikos für Krebs kommt dem Ernährungsmuster, d. h. der Auswahl und der Kombination verschiedener Lebensmittel, die wichtigste Bedeutung zu und nicht der selektiven Aufnahme isolierter Nahrungsinhaltsstoffe. Dabei ist vorstellbar, dass sich die mit den einzelnen Nahrungsbestandteilen assoziierten Effekte addieren.

Pflanzliche Lebensmittel sollten die Basis eines krebsprotektiven Ernährungsstils bilden - auch im Hinblick auf die Prävention anderer chronischer Krankheiten. Neben Gemüse und Obst sind dies gering verarbeitete Produkte aus Getreidearten, Kartoffeln und Hülsenfrüchten. Konkrete Empfehlungen beinhalten einen täglichen Verzehr von mindestens fünf Portionen Gemüse und Obst (oder 400-800 g) sowie sieben Portionen (oder 600-800 g) an Getreideprodukten, Hülsenfrüchten, Kartoffeln oder anderen pflanzlichen Nahrungsmitteln. Neben der Kombination verschiedener bioaktiver Inhaltsstoffe ist ein wesentlicher Vorteil einer solchen Ernährungsweise der meist geringere Energiegehalt im Vergleich zu einer Ernährung mit einem hohen Anteil tierischer Lebensmittel.

Die vorhandenen Erkenntnisse lassen nicht den Schluss zu, dass eine vegetarische Ernährungsweise mehr vor Krebs schützt als eine Ernährungsweise, die mit den hier gegebenen Empfehlungen übereinstimmt und einen moderaten Verzehr von tierischen Lebensmitteln einschließt.

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Energiezufuhr und körperliche Aktivität

Weitere Aspekte eines gesundheitlich günstigen und krebsprotektiven Ernährungs- und Lebensstils betreffen die Energiezufuhr, körperliche Aktivität und das Körpergewicht. Bereits mäßiges Übergewicht stellt einen Risikofaktor für verschiedene Krebskrankheiten (Endometrium, Brust (postmenopausal), Niere, Kolon, Gallenblase) dar. Auch Erfahrungen aus längeren Notzeiten und Tiermodellen zeigen, dass eine Ernährung, die nur knapp den Energiebedarf deckt, zu geringeren Tumor-Neuerkrankungsraten führt. Als weiterer Faktor ist die Gewichtsstabilität bei Normalgewichtigen und leicht Übergewichtigen über das gesamte Erwachsenenalter zu nennen. Wechselnde Phasen rascher Körpergewichtsab- und -zunahme sind als gesundheitlich ungünstig anzusehen.

Mangelnde körperliche Aktivität ist ein bedeutsamer Risikofaktor für Dickdarmkrebs, aber auch für Lungen- und Brustkrebs. Wer einer beruflichen Tätigkeit mit geringer körperlicher Aktivität nachgeht, sollte sich in seiner Freizeit täglich mindestens 1 Stunde aktiv betätigen und mindestens 1 Stunde in der Woche eine intensive körperliche Aktivität ausüben.

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Alkohol

Alkohol erhöht das Krebsrisiko (Mundhöhle, Rachen, Kehlkopf, Speiseröhre, Leber, Brust). Im Gegensatz zur Wirkung des Alkohols bei ischämischen Herz-Kreislauf-Krankheiten ist der schädliche Effekt von Alkohol bei der Kanzerogenese bereits bei geringen Mengen beobachtbar. Der Konsum alkoholischer Getränke sollte niedrig gehalten werden.

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Fett

Auch eine fettreiche Ernährungsweise fördert das Risiko für energetische Überversorgung. Der Energiegehalt von 1 g Fett ist mehr als doppelt so hoch wie der Energiegehalt von 1 g Kohlenhydraten oder Proteinen. Es ist nicht nur die Menge an verzehrtem Fett zu berücksichtigen, sondern auch die Fettqualität. Fette tierischen Ursprungs weisen eine ungünstigere Verteilung der enthaltenen Fettsäuren auf als pflanzliche Fette. Es gibt auch vermehrt Hinweise für die Wichtigkeit des Verhältnisses verschiedener mehrfach ungesättigter Fettsäuren (n-6 und n-3 Fettsäuren) zueinander. Das Fettsäuremuster in der Ernährung hängt nur zum Teil von der Qualität der ausgewählten sichtbaren Fette und Öle ab, da ein hoher Teil des Fettes in versteckter Form über Fleisch/-produkte/Wurst und Milch/-produkte/Käse aufgenommen wird. Ziel sollte sein, den Anteil versteckter Fette durch fettarme Produkte zu verringern und sichtbare Fette bewusst auszuwählen und sparsam einzusetzen.

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Fleisch

Auch bei der Zubereitung von Fleisch und Fisch können unter ungünstigen Bedingungen (starke und lange Hitzeeinwirkung und damit starkes Bräunen; Grillen über offener Flamme) Substanzen entstehen, die im Tiermodell als krebsauslösend einzustufen sind (heterozyklische aromatische Amine und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe). Stark gebräuntes und (über offener Flamme) gegrilltes Fleisch und Fisch sollten nur selten verzehrt werden, angekohlte Ränder sind zu verwerfen. Dies gilt auch für die Weiterverwendung von stark gebräuntem Bratrückstand zur Soßenbereitung. Wenngleich sich die Hinweise verdichten, so steht der eindeutige Beweis dafür, dass dieser Faktor das Krebsrisiko beim Menschen insbesondere für Darm- und Brustkrebs erhöht, jedoch noch aus. Nach den Ergebnissen epidemiologischer Studien ist der vermehrte Verzehr von Fleisch vom Rind, Schwein und Lamm mit einer Risikoerhöhung für bestimmte Krebskrankheiten (Dickdarm, Brust, Prostata, Pankreas, Niere) verbunden. Es wird empfohlen, weniger als 80 g/d zu konsumieren. Fisch, Geflügel und Wild sind anderem Fleisch vorzuziehen. Die bisherigen Erklärungsansätze (Fett, Eisen, Zubereitungsmethoden) sind nicht eindeutig.

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Präventives Potenzial

Schätzt man für einzelne Krebslokalisationen den durch optimale Ernährung vermeidbaren Anteil, so zeigt sich das Potenzial der Krebsprävention durch Ernährungsmaßnahmen: Allein in Deutschland könnten theoretisch mehr als 100 000 Neuerkrankungen, d. h. 30% aller neu auftretenden Krebsfälle, pro Jahr verhindert werden. Bei konservativer Schätzung wäre eine realistische Veringerung der Krebsmortalität in Deutschland um bis zu 11% zu erreichen (Cancer Res Clin Oncol 2001; 127: 9-19). Insbesondere die Effekte bei den sehr häufigen Krebskrankheiten der Lunge, Brust, des Kolons/Rektums und Magens, tragen hierzu bei. Bei allen vier Organen ist die protektive Wirkung eines erhöhten Konsums von Gemüse und Obst gesichert. Die Umsetzung der Empfehlung zu Gemüse und Obst würde für den durchschnittlichen Deutschen eine Steigerung des momentanen Verzehrs von Gemüse und Obst um mindestens zwei Portionen pro Tag oder mindestens 150 g/d bedeuten. Allein durch diese Veränderung in der Ernährung könnte theoretisch die Krebsneuerkrankungsrate bei mittlerer Schätzung um ca. 20% gesenkt werden (Pub Health Nutr 2000; 3: 103). Zudem würde durch diese Maßnahme auch die Mortaliät infolge Herz-Kreislauf-Krankheiten um etwa 15% gesenkt. Die Ergebnisse solcher Berechnungen zeigen, welches Potenzial in dieser einen Empfehlung steckt. Die aktuell laufende Kampagne führender deutscher Organisationen im Gesundheitswesen »5 am Tag - Obst und Gemüse« (www.5amtag.de) sollte daher bei möglichst vielen Personen Gehör finden und in die tägliche Ernährungspraxis umgesetzt werden.

Balaststoffe gegen Kolon-Ca?

Meldungen über überraschende Ergebnisse einzelner Studien, die schnell zur Verunsicherung der Verbraucher führen, bedürfen immer der kritischen Analyse. Als Beispiel sei die aktuelle Diskussion über die Rolle der Ballaststoffe bei der Entstehung von Dickdarmkrebs genannt. Experimentelle Studien zeigen unterschiedliche bis gegensätzliche Wirkungen der unter dem Begriff Ballaststoffe zusammengefassten Nahrungskomponenten. Es verwundert daher nicht, dass in epidemiologischen Studien eine uneinheitliche Wirkung berichtet wird. So war in einer US-amerikanischen Kohorte kein Einfluss der Ballaststoffzufuhr auf das Risiko für Dickdarmkrebs vorhanden (N Engl J Med 1999; 340: 169-176), wohingegen vorläufige Ergebnisse aus der großen europäischen Kohortenstudie EPIC (European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition; Ann Nutr Metab 1999; 43: 195-204) einen protektiven Effekt bestätigen. Aufgrund verschiedener Vorteile in Design und Durchführung von EPIC (z. B. Heterogenität in der Ernährungsweise, Qualität der Ernährungsdaten) darf man auf künftige Ergebnisse aus dieser Studie gespannt sein.

In der nächsten Folge lesen Sie: Prävention des Kolorektalkarzinoms

Fachliche Betreuung der Serie:

Prof. Dr. Dr. h. c. Peter C. Scriba, München

Prof. Dr. Friedrich W. Schwartz, Hannover

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