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DOI: 10.1055/s-2000-7575
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
»Evidence-Biased Medicine« - oder: Die trügerische Sicherheit der Evidenz
Publication History
Publication Date:
31 December 2000 (online)

»O glücklich, wer noch hoffen kann, Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen! Was man nicht weiß, das eben brauchte man, Und was man weiß, kann man nicht brauchen.«
J.W. Goethe, Faust, Der Tragödie erster Teil
Die pessimistische Sicht Fausts scheint sich im Titel der vorliegenden Überlegungen widerzuspiegeln, wenn von einer »trügerischen Sicherheit der Evidenz« die Rede ist. In der Medizin möchte man sich nicht mit einem »Meer von Irrtümern« oder trügerischen Sicherheiten zufrieden geben. »Evidence-Based Medicine« wird uns als fest verankerte Plattform der Sicherheit und Wahrheit im Meer der Irrtümer angepriesen. Sollte auch diese Sicherheit nur eine trügerische sein?
Wir haben uns in den letzten Jahren daran gewöhnt, den Begriff der »Evidence-Based Medicine« im Sinne eines Versuchs der Qualitätssicherung der modernen Medizin zu gebrauchen. Publikationen, die den Begriff Evidence-Based Medicine enthalten, haben an Zahl in den letzten Jahren exponentiell zugenommen. Leicht übertriebene Schätzungen gehen bei einer gleichbleibenden Zuwachsrate davon aus, dass in 10 Jahren alle medizinischen Abstracts den Begriff selbst enthalten oder sich in irgendeiner Form auf ihn beziehen [8]. Der Begriff ist positiv belegt. Er wird einerseits mit Qualitätsstandards für das ärztliche Handeln und andererseits mit einer Ausgrenzung von nicht nachvollziehbaren, unwissenschaftlichen, paramedizinischen Methoden assoziiert. Es mag sein, dass kritische Stimmen auch im Versuch, solche Strömungen auszugrenzen, wirtschaftliche Interessen erkennen und Evidence-Based Medicine eher in das Feld der standespolitischen Sicherung von Budgets einordnen. Tatsächlich möchten die Vertreter der Evidence-Based Medicine gerne über die Verteilung von Milliardenbeträgen mitentscheiden oder doch zumindest die Entscheidungskriterien vorgeben (z. B. [1] [4]). Die Reduktion der Evidence-Based Medicine auf ein Mittel der standespolitischen Ressourcen-Sicherung wird ihr jedoch keinesfalls gerecht. Diese Diskussion soll auch nicht das Thema der folgenden Ausführungen sein. Es geht hier vielmehr um die erkenntnistheoretischen Probleme des Begriffes »Evidenz«. Dies erscheint nur auf den ersten Blick für den medizinischen Alltag belanglos: Wenn nämlich der Begriff der Evidenz das ärztliche Handeln leiten soll, dann ist darüber nachzudenken, wie diese Evidenz sich begründet, um was es sich bei »Evidenz« handelt. Und um das zu verstehen, muss zunächst betrachtet werden, was denn Evidence-Based Medicine eigentlich »ist«, mit welchem Anspruch sie antritt und was sie leisten will. Unter dem Blickwinkel dieser immanenten Ansprüche kann man dann den Begriff der Evidenz selbst untersuchen. (Wer ist sich denn wirklich der Bedeutung des Begriffes »Evidenz« vollständig sicher?) Auf der neu gewonnenen Basis ist es nützlich, die Ansprüche der Evidence-Based Medicine nochmals zu beleuchten und die Probleme zu diskutieren, die diese Begriffsbildung mit sich bringt.
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Korrespondenz
PD Dr. med. Dr. phil. G. Rogler
Klinik
und Poliklinik für Innere Medizin I Klinikum der
Universität Regensburg
93042 Regensburg
Phone: 0941/944-7001
Fax: 0941/944-7002