Sprache · Stimme · Gehör 2018; 42(01): 12-13
DOI: 10.1055/s-0044-101861
Hören – Erkennen – Verstehen
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Dysgrammatismus

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Publication Date:
19 March 2018 (online)

 

Der Dysgrammatismus (auch als Agrammatismus infantilis oder Paragrammatismus bezeichnet) wird als grammatische, morphologische und syntaktische Störung des Sprechens und des Schreibens definiert, die mit zusätzlichen Beeinträchtigungen in motorischen und kognitiven Bereichen einhergeht [1]. Zusätzlich treten Auffälligkeiten auf der semantischen Sprachebene auf. Ein dysgrammatisches Sprachverhalten ist bis zum 4. Lebensjahr physiologisch, jedoch sind Fehler beim Dativgebrauch und bei einigen Wortflexionen auch im 4. Lebensjahr noch altersgerecht. Liegt im 5. bzw. 6. Lebensjahr noch kein Verständnis der muttersprachlichen Grammatik vor, spricht man von einem Dysgrammatismus.


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Symptome

Beim Dysgrammatismus können Nominalphrasen durch Auslassung von Artikeln und falschen Genus- und Numeruszuweisungen verändert sein. Auffällig sind Auslassungen von Präpositionen oder ihre Ersetzung durch Funktionswörter, da diese im Lexikon fehlerhaft als Präpositionen kategorisiert werden. Besonders gut zu beobachten sind die Einschränkungen verbaler Elemente: So ist der Gebrauch von Kasusmarkierungen stark eingeschränkt. Dies tritt besonders bei kasusmarkierten Pronomen und Flexiven auf. Folge ist eine Übergeneralisierung neutraler Nominativformen auf Akkusativ- und Dativkontexte und dadurch bedingt eine fehlerhafte Einordnung von Agens und Patiens. Neben der inkorrekten Einordnung der Kasusmarkierungen ist auch der Gebrauch von Verben allgemein auffällig. Sie sind zwar rezeptiv und auch produktiv in allen Positionen vorhanden, werden vom Betroffenen aber vorzugsweise in der Verbendstellung angewendet, wodurch zusammen mit der inkorrekten Stellung von Negationselementen eine sehr starre und oft unverständliche Satzstruktur auftritt.


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Diagnostik und Therapie

Der Dysgrammatismus lässt sich gut durch eine Analyse der kindlichen Spontansprache diagnostizieren. Da standardisierte Testverfahren kaum vorliegen, wird eine Analyse der Spontansprache empfohlen. So kann man gleichzeitig die oft als unnatürlich empfundene Kommunikation während einer Testdurchführung vermeiden. Mithilfe von Sprachanalysesystemen wie der COPROF (Computerunterstützte Profilanalyse) [2] und der ESGRAF (Evozierte Sprachdiagnose grammatischer Fähigkeiten) [3] kann die Analyse vereinfacht werden.

Die Therapie wird ganzheitlich und spracherwerbsorientiert gestaltet.

Die sprachfördernde Situation innerhalb der Therapie wird so gestaltet werden, dass der Patient die eigene Selbstlernaktivität erweitert. Die Therapieinhalte werden thematisch für das Kind interessant gestaltet. Neben einer positiven Patient-Therapeuten-Beziehung ist die Rollenübernahme des Sprachvorbildes des Therapeuten elementar. Dem Patienten wird das Erlernen von Regeln für den Erwerb sprachlich-kognitiver Strategien nahegebracht.

Der Therapeut kann durch „Corrective Feedback“ die natürliche Sprechsituation als Übungssequenz intensivieren. Dabei können die Kommunikationsabläufe unterschiedlich stark vorstrukturiert werden [4].


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Hörbeispiel

Der 11-jährige Patient unseres Hörbeispiels leidet an einer Sprachentwicklungsstörung schwersten Grades mit einer globalen Entwicklungsretardierung in Kombination mit einer Lernbehinderung. Der Patient wurde bereits im Alter von 7 Jahren ein Jahr lang in einer Sprachheilklinik intensiv therapeutisch gefördert. In diesem Zeitraum konnte sein Wortschatz erweitert werden sowie eine Förderung der Motivation zur eigenständigen Deblockierung vorangetrieben werden. Zurzeit besucht er eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen und erhält zusätzlich 2–3-mal wöchentlich logopädische Therapie.

Der Patient zeigt eine fehlende Subjekt-Verb-Kongruenz, die besonders bei der fehlerhaften Adjektivangleichung, aber auch bei falsch markierten Pluralmarkierungen ([-en], [-n]) (→ Hörbeispiel) auffällt. Gleichzeitig ist sein Verständnis von Akkusativ- und Dativmarkierungen stark eingeschränkt. Die Verwendung von Kasusmarkierungen findet inkonsequent statt. Der Patient hat sowohl die Verbendstellung als auch die Verbzweitstellung erworben, verwendet diese aber selten korrekt. Er verwendet des Weiteren keine Nebensätze und nutzt zur Verbindung zweier Hauptsätze meist Füllwörter wie „han“. Zudem werden Artikel inkonsequent ausgelassen. Zusätzlich erschwert seine undeutliche und schnelle Aussprache die Verständlichkeit. Der Patient besitzt ein relativ hohes Störungsbewusstsein: Er bemerkt schnell, wenn er nicht verstanden wird und wiederholt seine Sätze mehrmals, bis der Kommunikationspartner ihn verstanden hat. Zusätzlich leidet der Patient noch an einer hypotonen Körper- und Gesichtsmuskulatur mit Einschränkungen der Feinmotorik. Die kognitiven Einschränkungen in Form von verbalen Äußerungsblockaden werden bei mehreren, gleichzeitig auftretenden konzentrationsfordernden Aktivitäten deutlich.

In der logopädischen Therapie wird nach dem Patholinguistischen Ansatz (PLAN) therapiert. PLAN arbeitet detailliert an den sprachsystematischen Ebenen Phonetik-Phonologie, Lexikon-Semantik, sowie Syntax-Morphologie. Die zu therapierende Ebene wird mithilfe der Ergebnisse der Patholinguistischen Diagnostik (PDSS) zuvor ermittelt [5]. Beim Patient unseres Beispiels wird aufgrund des Alters des Patienten vor allem mit metasprachlichen Einheiten und Übungssequenzen mithilfe von Spielen mit Übungssätzen gearbeitet.

Fazit

Der Dysgrammatismus ist ein Störungsbild, das meist in eine Sprachentwicklungsverzögerung eingebettet ist und auch mit kognitiven und körperlichen Einschränkungen zusammen auftreten kann. Sprachtherapie muss an allen auffälligen Punkten anknüpfen und über den sprachlichen Kontext hinaus fördern. Die Inhalte der Therapie müssen zudem an die kognitiven Fähigkeiten des Patienten angepasst werden.

Caroline Haupt, Joanna Schulte, Thomas Brauer, Mainz

Literatur

[1] Trumpp C. Dysgrammatismus und linguistische Erklärungsansätze, Zeitschrift Neurolinguistik, Heft 1. Hochschulverlag Regensburg; 2000

[2] Clahsen H, Hansen D. COPROF – Computerunterstützte Profilanalyse. Köln; 1991

[3] Motsch H-J, Rietz C. ESGRAF 4–8, Grammatiktest für 4- bis 8-jährige Kinder, München, Basel: Reinhardt Verlag; 2016

[4] Hansen D. Spracherwerb und Dysgrammatismus – Grundlagen, Diagnostik und Therapie. München, Basel: Reinhardt Verlag; 1996

[5] Siegmüller J, Kauschke C. Patholinguistische Therapie bei Sprachentwicklungsstörungen. München: Elsevier; 2013


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Audiopodcast

Audio: Der 11-jährige Patient leidet an einer Sprachentwicklungsstörung schwersten Grades mit einer globalen Entwicklungsretardierung in Kombination mit einer Lernbehinderung. Aufnahme: Thomas Brauer, Lehrlogopäde, Universitätsmedizin Mainz.
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