Klin Monbl Augenheilkd 2019; 236(09): 1132-1136
DOI: 10.1055/s-0044-101282
Offene Korrespondenz
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sehen mit Astigmatismus – über 100 Jahre Missverständnisse, Trugschlüsse und Ablenkungsmanöver

Astigmatic Vision – More Than One Hundred Years of Misconceptions, Fallacies and Distractions
Kristian Gerstmeyer
1   Augenklinik, Johannes Wesling Klinikum Minden
,
Sibylle Katharina Scholtz
2   IVCRC, Universität Heidelberg
,
Frank Krogmann
3   Geschäftsführer, Julius-Hirschberg-Gesellschaft
,
Gerd Uwe Auffarth
4   Augenklinik, Universität Heidelberg
› Author Affiliations
Further Information

Publication History

eingereicht 11 November 2017

akzeptiert 21 December 2017

Publication Date:
28 March 2018 (online)

Preview

Einleitung

Viele bildliche Darstellungen der Optik eines astigmatischen Auges zeigen vermutlich aus didaktischen Gründen auch heute noch verzerrte und unnatürlich elongierte Bilder zur Verdeutlichung dieser Fehlsichtigkeit. Sind diese Darstellungen überhaupt geeignet, einem Patienten seine Ametropie zu erklären und mögliche Effekte einer torischen Intraokularlinse aufzuzeigen? Welche Erklärungen für ein offensichtlich fehlerhaftes tradiertes Astigmatismuskonzept gibt es?

Mit Keplers Modell des Sehens als passive exakte Abbildung von äußerer Wirklichkeit mittels eines Strahlenganges im Auge per picturam, dem optischen Netzhautbild, und der wenige Jahre später von Descartes in seiner „Dioptrique“ veranschaulichten Darstellung einer ebenfalls an der geometrischen Optik orientierten Sehtheorie, vollzog sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine neue Sichtweise des Sehens analog der Camera obscura. Hier gründete die tradierte Entsprechung von Camera obscura und Auge, die bis heute in fast keinen populärwissenschaftlichen Schriften, Patientenratgebern, teilweise auch in Schulbüchern und Lehrbüchern für Studenten der Biologie, Human- und Veterinärmedizin fehlen darf. Im 19. bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wurden zwischen Bau- und Funktionsprinzipien des menschlichen Körpers und technischen Erfindungen zahlreiche Parallelen gezogen [1], [2]. Das Keplerʼsche und Descartesʼsche Sehmodell und deren Widersprüche – Kepler konnte es nicht und hielt es auch nicht für seine Aufgabe, die Aufrichtung des invertierten Netzhautbildes zu erklären – waren mit Mariottes Entdeckung des blinden Fleckes 1668 nur noch Konventionen auf Abruf. Sie erfuhren erst im Wahrnehmungsdiskurs des 19. Jahrhunderts einen Paradigmenwechsel und wurden mit der Definition des Beobachters als aktivem Produzenten optischer Erfahrung vollständig verstanden, wie Helmholtz bereits 1855 vermerkte „… wir nehmen nie die Gegenstände der Außenwelt unmittelbar wahr, … sondern nur Wirkungen dieser Gegenstände auf unsere Nervenapparate …“ [3], [4], [5].