Klin Monbl Augenheilkd 2017; 234(10): 1219-1224
DOI: 10.1055/s-0043-119884
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ein Modell für frühkindliches Innenschielen: dissoziiertes Schielen als Folge sensorischer interhemisphärischer Dissoziation und gekreuzte Dominanz im Hirnstamm

A Model Explaining Infantile Esotropia: Dissociated Strabismus as a Result of Sensory Interhemispheric Dissociation and Crossed Dominance in the Brainstem
Marcel Paulus ten Tusscher
Ophthalmology, Universitair Ziekenhuis Vrije Universiteit Brussel, Brussels, Belgium
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Publikationsverlauf

eingereicht 06. Juni 2017

akzeptiert 15. September 2017

Publikationsdatum:
12. Oktober 2017 (online)

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Zusammenfassung

Über eine Zeitspanne von 150 Mio. Jahren entwickelten sich die Säugetiere, Vögel und modernen Reptilien aus den Urreptilien. Greifvögel und ein Teil der Säugetiere haben frontal ausgerichtete Orbitae. Damit konnten, auf Kosten eines geringeren Gesichtsfelds, korrespondierendes Binokularsehen, spontane Augenbewegungen, die Auge-Hand-Koordination, eine ungekreuzte Sehbahn und Verbindungen zwischen den Großhirnhemisphären entstehen. Die folgende Größenzunahme der Großhirnrinde und der Hemisphärenverbindungen spielen dabei eine wichtige Rolle für das Binokularsehen und das frühkindliche Schielen. Wir haben die Verbindungen der Hemisphären über das Corpus callosum und die vordere Kommissur bei infantiler Esotropie, Corpus-callosum-Unterentwicklung und bei Kontrollprobanden mittels Diffusion Tensor Imaging und Traktografie untersucht. Abweichende Leitungsbahnen aus V1 und V2, die durch die vordere Kommissur liefen, konnten bei einem Probanden mit Corpus-callosum-Unterentwicklung nachgewiesen werden. Die anderen Individuen zeigten visuelle Verbindungen der Hemisphären einzig durch das Corpus callosum. Bei den Individuen mit infantiler Esotropie waren die visuellen Fasern des Corpus callosum zahlreicher und nicht wie bei Normalprobanden auf den visuellen Bereich eng um die vertikale Mittellinie beschränkt. Sehbahnen von Lebewesen mit korrespondierendem Binokularsehen zeigen typischerweise auch ungekreuzte Fasern der retinalen Ganglienzellen und verbindende Fasern zwischen den Hemisphären. Um die Seheindrücke der überlappenden Gesichtsfeldbereiche beider Augen zu fusionieren, verbinden sich die ungekreuzten, der temporalen Netzhaut entsprechenden Leitungsbahnen mit der kontralateralen Hemisphäre über die interhemisphärischen Verbindungen. Die primäre Verbindung zwischen den Hemisphären bei plazentalen Säugetieren ist das Corpus callosum, während diese Rolle bei anderen Tieren der vorderen Kommissur zukommt. Das würde bedeuten, dass eine beeinträchtigte Entwicklung des Binokularsehens direkt auf die Entwicklung der Leitungsbahnen der ungekreuzt projizierenden Ganglienzellen und der hemisphärenverbindenden Fasern wirkt. Dies deutet auf eine Entwicklungskonkurrenz zwischen den beiden Kommissuren mit dem Corpus callosum hin, die unter normalen und den meisten pathologischen Bedingungen die Kommissuren bevorzugt. Deshalb kann sich auch bei einer Unterentwicklung des Corpus callosum über die vordere Kommissur Binokularität entwickeln. Wenn diese Entwicklung der kortikalen Binokularität scheitert, bleibt eine gekreuzte Dominanz in den Kernen des Hirnstamms vorhanden. Diese gekreuzte Dominanz hat ein dissoziiertes Schielen als Folge.

Abstract

Over 150 million years, modern reptiles, birds and mammals evolved. Predatory birds and mammals have eyes on the front of their heads. In these animals, binocular correspondence, voluntary eye movements, eye-hand coordination, partial decussation at the optic chiasm and cortical interhemispheric pathways could develop at the cost of a smaller visual field. The subsequent enlargement of the cerebral neocortex and the hemispheric pathways are of central importance in binocular vision, sensory fusion and infantile strabismus. To investigate visual interhemispheric fibers, tractography was used in subjects with infantile esotropia (IE), callosal agenesis and control subjects with normal binocularity. In human callosal agenesis, normal binocularity could be explained by a different interhemispheric connection. In subjects with infantile esotropia, the analyses starting from the primary visual area on one side appeared different from the analysis from the other side. The distribution areas are asymmetrical between sides. Binocularity and alignment not only rely on correspondence between crossed and uncrossed hemi-representations but, in addition the corpus callosum, the most important interhemispheric pathway in placental mammals, seems important in the development of human binocularity. When correspondence is possible between the hemi-representations of the crossed and the uncrossed pathway on both sides of the cortex, the uncrossed pathway finds its way via the corpus callosum toward the contralateral hemi-representation of the same eye. A vertical midline must come out of this process. Meanwhile, however, the other uncrossed pathway strives to find the vertical midline of the other eye. Likely, the corpus callosum is important during the tuning of the pathways involved in sensory fusion. The anterior commissure might be an alternative in callosal agenesis. A failure in the offset will result in strabismus and crossed dominance after V1. Consequently, the normal binocular development of the brainstem (i.e., the superior colliculus), will not take place and latent nystagmus, as well as dissociated divergence, may ensue.