ergopraxis 2017; 10(01): 38-41
DOI: 10.1055/s-0042-120192
Ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Zertifizierungskurs: Implementierung von betätigungs- und klientenzentrierter Ergotherapie – „Es sind Gänsehaut-Momente“

Simone Gritsch

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
07. Januar 2017 (online)

 

    Ellen Romein, Gaby Kirsch und Barbara Dehnhardt haben eine Vision: In zehn Jahren sollen alle Ergotherapeuten fähig sein, Menschen unabhängig von Diagnose, Alter, Kultur oder Kontext dabei zu unterstützen, das zu tun, was für sie in ihrem Alltag wichtig ist. Im Interview erzählen sie, wie sie Ergotherapeuten auf dieser Entdeckungsreise begleiten.


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    ABB. 1 Von links: Gaby Kirsch, Ellen Romein und Barbara Dehnhardt stell- ten den Kurs „Innovative Ergotherapie“ gemeinsam auf die Beine.Abb.: V. Sehl
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    ABB. 2 Glückliche Kursabsolventen und noch glücklichere Kursleiter am Ende einer anderthalbjährigen EntdeckungsreiseAbb.: privat

    Die ersten Teilnehmer haben Ihren Kurs „Innovative Ergotherapie“ gerade abgeschlossen. Wie ist es gelaufen?

    Alle sieben teilnehmenden Praxen haben es geschafft, ihre Arbeit so umzustellen, dass sie mittlerweile in allen Phasen des Therapieprozesses, also vom Befund über die Therapie bis hin zum Bericht, klientenzentriert und betätigungsorientiert arbeiten. Besonders beeindruckt hat uns dabei, wie viel Energie sie in diesen Kurs eingebracht haben. Das heißt, der Kurs bringt viel Nutzen mit sich, bedeutet aber auch viel Arbeit – sowohl für die Teilnehmer als auch für das gesamte Praxisteam, mit dem sie arbeiten. Denn das Team ist in jeder Phase der Veränderung aktiv beteiligt, um die Inhalte auch tatsächlich in der Praxis zu verankern und nutzen zu können.

    Sie bieten den Kurs speziell für Praxisinhaber an. Warum?

    Wir sprechen bewusst die Verantwortlichen einer Einrichtung an. Und da wir den Kurs für Ergotherapiepraxen konzipiert haben, sind das in der Regel Praxisinhaber. Denn sie müssen eine klientenzentrierte und betätigungsorientierte Arbeitsweise wollen und unterstützen. Das ist die Voraussetzung. Entweder der Inhaber nimmt selbst teil und gibt die Inhalte an sein Team weiter oder er bestimmt eine Person, die eine gewisse Rolle im Team innehat und die Inhalte weitertragen kann. Eine Praxis hat zum Beispiel mit zwei Verantwortlichen teilgenommen – je nach Praxisgröße bzw. Anzahl an Standorten kann man so die Aufgabe auf mehrere Schultern verteilen.

    Eine wichtige Veränderung durch den Kurs war die Neustrukturierung der Praxisorganisation im Sinne eines roten Fadens für das Gesamtteam.

    Karola, Kursteilnehmerin

    Für einzelne Ergotherapeuten bzw. Angestellte wäre der Kurs mit 2.800 Euro sicherlich auch finanziell gar nicht tragbar.

    Der Vorteil der Weiterbildung ist, dass der Teilnehmer das Wissen, das er sich im Kurs angeeignet hat, an die gesamte Praxis weitergibt. Wie er das sinnvoll vermittelt, lernt er ebenfalls bei uns. Damit schulen wir nicht nur diejenigen, die im Kurs sitzen, sondern alle Mitarbeiter einer Einrichtung. Würde man sie also alle einzeln zur Fortbildung schicken, wären die Kosten deutlich höher.

    Ist dieses Weitervermitteln auch der Grund, warum gleich im ersten Kursmodul das Change Management eine Rolle spielt?

    Ganz genau. Ein Kursteilnehmer meldete uns zurück, dass ihm gar nicht bewusst war, wie wichtig das Change Management ist. Es hat ihn sehr dabei unterstützt, die Strukturen in seine Praxis einführen und den Veränderungsprozess jedes einzelnen Mitarbeiters begleiten zu können. Denn auf Veränderung reagieren nicht alle Mitarbeiter gleich: Es gibt diejenigen, die sich auf die neuen Inhalte freuen, diejenigen, die eher abwarten, was auf sie zukommt, und es gibt Mitarbeiter, die das Ganze eher abwehren. Mit diesen Reaktionen gilt es umzugehen. Das heißt, die Teilnehmer brauchen Strategien, um den Prozess positiv zu steuern und mit Mitarbeitern umgehen zu können, die Widerstände haben oder denen zum Beispiel unterwegs die Puste ausgeht. Hierzu vermitteln wir Teilaspekte aus dem Change Management.

    Das heißt, Voraussetzung für die Kursteilnahme ist, dass sich das gesamte Team geschlossen für ein klientenzentriertes und betätigungsorientiertes Vorgehen entscheidet?

    Der Praxisinhaber und sein Team brauchen auf jeden Fall eine Bereitschaft und Offenheit, den Prozess anzugehen – auch wenn sie nicht genau wissen, was auf sie zukommt. Denn wer weiß schon, wie klientenzentriertes und betätigungsorientiertes Arbeiten genau aussieht? Es gibt bislang nur wenige Stellen in Deutschland, in denen das gelebt wird. Das ist bislang noch eher eine Vision oder Idee. Wie eine Praxis dann den Lernprozess gestaltet, bestimmt sie ganz individuell nach ihrem Charakter, ihrem Anspruch und nach ihren Schwerpunkten. Die Vermittlung ist in kleineren Praxen mit wenigen Mitarbeitern deutlich einfacher als bei großen Praxen mit mehreren Standorten. Im Change Management lernen die Teilnehmer zum Beispiel, dass eine Kick-off-Veranstaltung wichtig ist, um das Team auf das Thema überhaupt erst einmal einzustimmen und sie dafür zu begeistern. In welchem Rahmen sie die Inhalte, die sie an den Präsenztagen gelernt haben, dann gemeinsam entdecken – ob innerhalb von Teambesprechungen oder mal an einem Samstag –, das bestimmt das Praxisteam und gibt so seinem Veränderungsprozess eine individuelle Richtung. Das heißt, die Theorie und Übungen vermitteln wir im Kurs. Wie man Interviews führt, eine Betätigungsanalyse oder ein Betätigungsprofil erstellt, entdecken die Therapeuten individuell in ihrer Praxis. Die Basis des Zertifizierungskurses bleibt aber immer gleich: Klientenzentrierung und Betätigungsorientierung.

    Durch die Strukturen, die wir erhalten haben, sind Vertretungen im Krankheits- oder Urlaubsfall leichter durchführbar.

    Viola, Kursteilnehmerin

    Die Therapieziele sind jetzt präzise formuliert und schneller zu erreichen.

    Susan, Kursteilnehmerin

    Der Prozess hat mich in meiner Rolle als Chef gestärkt.

    Uwe, Kursteilnehmer

    Ich sehe nun meine eigene therapeutische Rolle klarer abgegrenzt und habe das Gefühl, effizienter und klientenzentrierter zu arbeiten.

    Frank, Kursteilnehmer

    Was ist denn die große Herausforderung einer klientenzentrierten und betätigungsorientierten Ergotherapie?

    Es ist ein Bewusstwerdungsprozess. In der Ausbildung werden die Inhalte vielleicht in der Theorie gelehrt, aber es fehlt an lebendigen Beispielen. Jeder macht etwas in dieser Richtung und versucht, klientenzentriert und betätigungsorientiert zu arbeiten. Mit unserer Hilfe können sich Ergotherapeuten überprüfen, ob sie tatsächlich so vorgehen. Das leistet die Ausbildung im Moment noch nicht. Darum erleben auch viele Kursteilnehmer Aha-Effekte, in denen sie erkennen, was Betätigung und der Kern der Ergotherapie tatsächlich sind. Im nächsten Schritt geht es für sie dann um die Frage: Wie arbeite ich denn damit? Betätigungsorientierung ist einerseits Methode und andererseits das Mittel, mit dem wir arbeiten. Und da fallen viele wieder zurück in ihre alte Arbeitsweise. Denn bei der Frage „Wie arbeite ich auf Betätigungsebene?“ fehlt es noch an Variablen. Das bearbeiten wir verstärkt im Kurs, zum Beispiel anhand von Videos und praktischen Beispielen.

    Was raten Sie Ergotherapeuten, wie sie sich davor bewahren können, in alte funktionsorientierte Muster zurückzufallen?

    Wichtig ist es, den Therapieprozess erkennbar zu machen. Viele erfahrene Ergotherapeuten fangen in der Diagnostik schon an, sich Lösungen zu überlegen und zu behandeln. Man muss aber lernen, die verschiedenen Schritte im Therapieprozess strikt zu unterscheiden und in jedem Schritt zu überlegen: Was ist Betätigung und was ist Klientenzentrierung? Das fängt schon beim ersten Kontakt mit einem Klienten an: Wie kann ich ihm klarmachen, dass es in meiner Praxis um Betätigung geht und nicht um Körperfunktionen, Handfunktionen oder um Wahrnehmung? Also wie bereite ich meine Klienten darauf vor, dass es in der Ergotherapie um ihren Alltag geht? Im weiteren Verlauf reflektiert man in jedem Therapieschritt – ob Diagnostik oder Therapie: Was mache ich gerade? Bin ich noch klientenzentriert? Bin ich betätigungsorientiert? Oder bin ich wieder bei der Kraft und beim Gleichgewicht gelandet? Dabei reicht es nicht, mit Ja oder Nein zu antworten – man muss es auch begründen können. Dieser Prozess endet mit dem Arztbericht, in dem die Sicht des Klienten klar erkennbar ist und in dem auch klar erkennbar ist, dass es ein ergotherapeutischer Bericht ist. Denn mit Betätigung arbeiten NUR Ergotherapeuten. Der Bewusstwerdungsprozess beinhaltet also eine ständige Konfrontation und Verunsicherung. Man muss alle Gewohnheiten in Frage stellen, um sich darüber bewusst zu werden, was man beibehalten kann und was man ändern muss.

    Der Kurs ist mit zwölf Präsenztagen auf anderthalb Jahre angelegt. Warum ist es wichtig, sich diese Zeit für die Inhalte zu nehmen?

    Diese Zeit ist notwendig, um die eigene Arbeit zu überdenken und verändern zu können. Wir haben sogar entschieden, den nächsten Kurs zu verlängern, sodass er insgesamt zwei Jahre dauert. Auch wenn die Teilnehmer den ersten Durchgang gemeistert haben, empfanden sie es als viel Arbeit und hätten sich ein bisschen mehr Luft gewünscht. Unserer Erfahrung nach braucht es mindestens ein Jahr, eher zwei, bis man die Grundlagen für eine klientenzentrierte, betätigungsorientierte Praxis geschaffen hat. Und damit ist der Prozess noch nicht zu Ende: Die Teilnehmer aus dem ersten Kurs haben uns rückgemeldet, dass sie weiterhin Arbeitstreffen und Fallbesprechungen machen, um im Umgang mit Klientenzentrierung und Betätigungsorientierung sicher zu werden. Das heißt, bis sich Inhalte wie die Betätigungsanalyse in der Praxis als „normal“ anfühlen, dauert es ein weiteres Jahr. Und die Praxen wollen diese Inhalte dann nach außen darstellen, Ärzten und Klienten klarmachen, was Ergotherapie ist und dass sie alltagsorientiert arbeiten. Das heißt, am Ende des sogenannten Change stehen auch Dinge wie die Anpassung der Homepage, die Veränderung des Berichtsschemas, das Drucken von Flyern etc. Die Verankerung wird tiefer, und die Teilnehmer beginnen, die Inhalte zu „leben“. Wir bekommen rückgemeldet, dass der Kurs viele Vorteile für die Praxis gebracht hat, zum Beispiel die Identifikation des Teams. Andere Berufe wie Physiotherapeuten oder Logopäden wissen jetzt, was Ergotherapeuten machen. Das empfinden viele als ein wunderbares Gefühl, das sie in der Vergangenheit vermisst haben.

    Das heißt, die Teilnehmer werden für ihre harte Arbeit, die es erfordert, ein ergotherapeutisches Modell in die Berufspraxis zu implementieren, mit Berufsidentität belohnt?

    Ergotherapie hat ein eigenes Arbeitsfeld mit zu vielen Grauzonen – Ergotherapeuten machen viele Dinge, die zum Beispiel aus der Physiotherapie oder Neuropsychologie kommen. Das ist in Ordnung, so haben es viele gelernt. Aber damit kann man sich keine eigene Berufsidentität aufbauen und nach außen darstellen. Denn das sind Inhalte, die andere Fachbereiche auch können. Die Betätigungsorientierung ist eine enorme Ergänzung im Gesundheitssystem. Ärzte, die das verstanden haben, sind happy, dass die Partizipation von der Ergotherapie abgedeckt werden kann. Das war bislang ein blinder Fleck, obwohl wir von der ICF sprechen. Man kann nur an der Partizipation arbeiten, wenn man sie mit dem Klienten bespricht, erprobt und begleitet. Das funktioniert nicht, wenn ich mit ihm zum Beispiel am Gleichgewicht arbeite. Nur das unterscheidet uns von allen anderen Fachbereichen, es ist unser Alleinstellungsmerkmal. Und damit wird der besondere Platz der Ergotherapie in der Rehabilitation deutlich. Wer das verinnerlicht hat, merkt, dass er eine viel schnellere und erfolgreichere Therapie leisten kann und die Klienten zufriedener sind. Klienten melden zurück, dass sie von dieser Arbeitsweise begeistert sind. Endlich hört ihnen jemand zu, endlich haben ihre Belange Wichtigkeit und endlich spricht jemand mit ihnen anstatt über sie. Wir erleben in unseren Kursen immer wieder, dass Ergotherapeuten nach Jahrzehnten ihre Arbeit auf Betätigungsorientierung und Klientenzentrierung umstellen und damit der Therapie eine völlig andere Richtung geben. Es sind Gänsehaut-Momente, wenn sie den Kern der Ergotherapie erkennen. Sie sind dann ganz überrascht, wenn sie nach Jahren einen Klienten zum ersten Mal fragen, was ihm wichtig ist und was er verändern möchte, und daraufhin die Lösung innerhalb einer Woche mit ihm erarbeiten. Die Therapie war natürlich auch vorher gut, aber der Klient wurde nie nach seiner Partizipation gefragt. Damit können Klienten aber so viel mehr Lebensqualität erreichen.

    Die Therapieberichte sind jetzt kürzer, können leichter besprochen werden und ermöglichen klare Aussagen zur voraussichtlichen Dauer einer Behandlung.

    Susan, Kursteilnehmerin

    Ergotherapie bekommt Richtung und Ziel. Großartige Betreuung, sehr empfehlenswert!

    Uwe, Kursteilnehmer

    Im negativen Sinne hat der Kurs viel Arbeit und Zeitaufwand gebracht. Einige Kollegen sind an ihre Grenzen gestoßen. Im positiven Sinne gab es augenöffnende Momente, die unsere Arbeit klarer, strukturierter und effizienter machen.

    Frank, Kursteilnehmer

    Was bedeutet das für die behandelnden Ergotherapeuten?

    Die starke Identifikation mit der Ergotherapie bedeutet einen enormen Auftrieb und Freude, so arbeiten zu können. Die klientenzentrierte und betätigungsorientierte Arbeit fühlt sich leichter an, das können wir aus eigener Erfahrung und der unserer Kollegen bestätigen. Der Klient weist uns den Weg.

    Den ersten Kurs haben Sie gerade beendet. Wann startet der nächste?

    Das erste Modul findet vom 16. bis zum 18. März 2017 in Hannover statt, der letzte Baustein wird dann 2019 sein. Interessierte finden alle Infos dazu unter www.innovative-ergotherapie.de.

    Das Gespräch führte Simone Gritsch.

    TAB. Bausteine des Kurses „Innovative Ergotherapie“, die jeweils an drei Präsenztagen stattfinden

    Kursbausteine

    Inhalte

    Betätigung als Basis des Therapieprozesses, Einführung ins Change Management

    • Theorie des CMOP-E

    • Therapieprozess CPPF

    • Kernelement Betätigung

    • Phasen des Change Management

    • Start des Veränderungsprozesses

    Klientenzentrierung in allen Phasen des Therapieprozesses, Schulung der Mitarbeiter

    • Klientenzentrierung in der Praxis

    • COPM

    • Kommunikation im Change Management

    • erste Strukturveränderungen

    • eigene Rolle im Change Management

    • Präsentation der Vorträge

    Betätigungsanalysen in unterschiedlichen Arbeitsfeldern und Settings, Steuerung der Veränderungen

    • Betätigungsanalysen mit und ohne Therapeutenbeobachtung

    • Zielformulierung, Ziel- und Maßnahmeplan

    • Einsatz von Video und Kamera

    • Aufgreifen und Sichtbarmachen von Erfolgen

    • Umgang mit Widerständen

    • Präsentation der Vorträge

    Zusammenführen aller Elemente im Therapieprozess, Standortbestimmung im Veränderungsprozess, Ausblick

    • Erfahrung mit der Durchführung des CPPF

    • Strategien für spezielle Situationen im CPPF

    • neuer Ist-Zustand der Praxisstruktur

    • Ergebnisse des bisherigen Veränderungsprozesses

    • Ausblick auf weitere Schritte im Change Management

    • Präsentation der Vorträge


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    ABB. 1 Von links: Gaby Kirsch, Ellen Romein und Barbara Dehnhardt stell- ten den Kurs „Innovative Ergotherapie“ gemeinsam auf die Beine.Abb.: V. Sehl
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    ABB. 2 Glückliche Kursabsolventen und noch glücklichere Kursleiter am Ende einer anderthalbjährigen EntdeckungsreiseAbb.: privat